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Kritik über Robert (2021): Épicure aux enfers. Hérésie, athéisme et hédonisme au Moyen Âge.

Flaig, Carsten
In: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 24 (2021), Heft 1, S. 204-214
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Kritik über Robert (2021): Épicure aux enfers. Hérésie, athéisme et hédonisme au Moyen Âge 

Robert, Aurélien

Épicure aux enfers. Hérésie, athéisme et hédonisme au Moyen Âge Paris Fayard 2021 367 € 30,00 978-2213711744

Zum Reden über das Mittelalter gehört seit Langem die Kritik an der Idee einer abgeschlossenen Epoche mit diesem Namen: zu unklar die Abgrenzung zur Antike und Renaissance, zu abwertend und selbststilisierend die renaissancehumanistische Wertung des Mittelalters als einer Art qualvollen Pause der Weltgeschichte, zu eurozentrisch der Blick auf nur einen Teil der Welt, der als Maßstab der Weltgeschichte dienen soll.

Und doch lassen sich Epochengrenzen zumindest als Heuristiken nicht abschütteln. Noch schwerer lässt sich ohne sie eine gute Geschichte erzählen. Etwa die Geschichte der „Wende", die Stephen Greenblatt zum Besten gibt: Der Humanist Poggio Bracciolini findet 1417 ein Manuskript von Lukrezens De Rerum Natura, löst ein geistiges Erdbeben aus und befreit die Welt endlich aus dem finsteren Mittelalter. Dass ein solches Narrativ von zahlreichen Vereinfachungen und Auslassungen getragen wird, ist in der historischen Forschung unumstritten. Die Monographie Épicure aux enfers von Aurélien Robert macht deutlich, wie schief auch der zentrale Strang dieses Narrativ gestrickt ist: Die sorglose Identifizierung von Renaissance mit einem wiedererstarkenden Epikureismus verdeckt eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Gartenphilosophen im Mittelalter selbst.

Robert, der Experte für die Philosophie des Mittelalters und der Renaissance am CNRS in Paris ist, erzählt eine verzweigte, aber gerade in den Details faszinierende Geschichte der mittelalterlichen Epikurrezeption. Er hat das Buch in fünf Teile und 14 Kapitel eingeteilt, doch es lässt sich auch auf zwei Erzählstränge reduzieren: In den ersten drei Teilen wird die Geschichte der ganz überwiegend negativen Rezeption des Epikureismus vom Namensgründer bis hin zur Behandlung Epikurs als Häretiker in Dantes Commedia erzählt. In den letzten beiden Teilen des Buches zeichnet Robert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit epikureischen Ideen nach, die vornehmlich im 12./13. Jahrhundert in verschiedenen Wissensgebieten florierte.

In den ersten Kapiteln steht der antike Epikureismus im Fokus. Nach einer knappen Vorstellung epikureischer Ideen stellt Robert heraus, dass der Epikureismus dem eigenen Anspruch nach weder atheistisch, noch im vulgären, d.h. amoralischen Sinne hedonistisch gewesen sei. „Für die Epikureer existieren die Götter nicht bloß, sondern liefern dem Menschen auch das Modell der phronesis, das es erlaubt, glücklich und lustvoll zu leben." (40)[1] Darüber hinaus habe der Aufruf „Lebe im Verborgenen!" den Epikureismus nicht daran gehindert, sich im ersten Jahrhundert in Italien und im zweiten vor allem an der kleinasiatischen Küste auszubreiten. Im dritten Jahrhundert verschwand der Epikureismus zunehmend, so dass Augustinus feststellen konnte, dass von der „kalten Asche [der Epikureer] nicht der kleinste Funke gegen den christlichen Glauben entspringen" könne (45, Brief 118,2,12). Dieser Überblick enthält zwar für Kundige keine überraschenden Einsichten, aber er erhellt einige für die mittelalterliche Rezeption wegweisende Faktoren: In der historischen und geographischen Nähe zum frühen Christentum sieht Robert einen Grund dafür, dass der Epikureismus aus christlicher Sicht schon in der kaiserzeitlichen Antike nicht nur als philosophische Schule, sondern als konkurrierende und damit häretische Religion perzipiert wurde. Zweitens wurde das Christentum aus paganer Perspektive ebenso als atheistisch wahrgenommen, vor allem wegen der Verweigerung des Opferkults, wie der Epikureismus den Christen als atheistisch galt, wie Robert u.a. an Texten von Justin, Tertullian, Origenes, aber auch Lukian herausarbeitet. Bei den Apologetikern sei der Name „Epikureer" zum Synonym einer religiösen Häresie geworden. Drittens widerspreche die Diversität der philosophischen Schulen etwa für Tertullian der einen, durch Christus offenbarten Wahrheit (61). In den Häresiologien, etwa bei Justin oder Hippolyt von Rom, wurden innerchristliche Spaltungen auf den Einfluss fragmentierter hellenistischer Schulen zurückgeführt. Im vierten Jahrhundert ist die epikureische Häresie durch die Gleichgültigkeit der Götter gegenüber den Menschen, den Materialismus und die Sterblichkeit der Seele sowie später noch durch den Hedonismus definiert (66). Unter anderem bei Isidor von Sevilla wurden diese Häresien auch mit der vermeintlich schweinischen Lebensweise des Schulgründers in Verbindung gebracht (69). Der Epikur, gegen den man sich hier wendete, wurde zunehmend zur Karikatur, wie Robert nicht müde wird zu betonen. Selbst die Etymologie des Namens Epikur wurde bei Wilhelm von Conches umgedeutet zu einem, der sich nur „um den oberen Teil, d.h. das Fleisch(liche)" kümmere. So wurde der „Epikureer" losgelöst von seinem Namensgeber zum Cliché des lustversessenen, materialistischen und atheistischen Häretikers geformt. Teilweise wirkt Roberts Betonung einer verdrehenden Rezeption des Epikureismus durchaus wertend, doch der Unterschied zwischen dem durch seine Briefe und Fragmente greifbaren historischen Epikur und dem, was aus ihm schon in der späteren Antike gemacht wurde, wird klar benannt und ist nicht wegzudiskutieren.

Im zweiten Teil wird zuerst beleuchtet, wie dieser Pappkamerad („figure de papier") Epikur in der Bibelauslegung identifiziert wurde. Da die Bibeln spätestens seit dem 12. Jahrhundert (76) meist mit kommentierenden Glossen versehen waren, war Epikur für die Leser*innen an den entsprechenden Stellen unmittelbar präsent. Die explizite Erwähnung der Epikureer in der Apostelgeschichte 17,18, wurde in den Kommentaren des Beda oder Hrabanus Maurus auf eine Gruppe von Verteidigern der (körperlichen) Lust zurückgeführt. Auch diejenigen, die sagen „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sterben wir" (1 Kor 15,32) sowie derjenige, der im Buch Kohelet die Eitelkeit der Welt beklagt und der „Törichte, der in seinem Herzen sagt: Gott existiert nicht" (Ps 14,13; 53,52) wurden in der Kommentartradition immer wieder mit den als atheistisch und vulgärhedonistisch konzipierten Epikureern amalgamiert. Mit diesen exegetischen Identifizierungen war „das Bild des hedonistischen und atheistischen Epikureers endgültig im Geist der Christen des Mittelalters verankert", so Robert (91).

Robert wirft in den Kapiteln 5 und 6 zudem einen vergleichenden Blick auf die Epikurrezeption im rabbinischen Judentum und in der frühen islamischen Theologie. Im rabbinischen Judentum tauchte die Kategorie des „Apikoros" in der Mischna auf und verweist, so Robert, „allgemein auf einen Juden, der das Gesetz Gottes und das mündliche Gesetz der Tradition nicht respektiert" (92). So sei auch im Judentum mit Epikur ein heterodoxer „Sündenbock" (ebd.) kreiert worden, wenn auch der häresiologische Diskurs im Vergleich zum christlichen weniger ausgeprägt gewesen sei. Dass Robert schon in Philon von Alexandrias Kritik der epikureischen Lehren eine frühe jüdische Häresiologie erkennt, ist sicherlich diskutabel. Ganz gewiss jedoch nutzt Philon nicht „die Gemeinplätze des Streits zwischen Christen und Epikureern" (94) in seiner Kritik an jenen – dies ist schlicht ein Anachronismus und es ist nicht ersichtlich, dass er seine Epikurkritik als Projektionsfläche für eine häretische Gruppe innerhalb des Judentums verwenden würde. In der Mischna, in der sich der Gräzismus des „Apikoros" findet, ist das hingegen der Fall. Der „Apikoros" verneint die Auferstehung der Toten und die Göttlichkeit der Tora und ist daher der Inbegriff des Heterodoxen. In dem Mischna-Kommentar Gemara wird zum Ausschluss der Apikorsim aufgerufen (97f.). Maimonides bezeichnete gar die Tötung der Apikorsim als Pflicht (100), weshalb ihm Isaac Albalag vorwarf, ihre Ideen mit solchen Vorwürfen erst recht zu popularisieren. Insgesamt habe sich auch im Judentum die Zielscheibe „Epikur" von der antiken Gartenphilosophie weitgehend abgelöst und wurde zur Chiffre für einen Ungläubigen, der Gottes Wort leugnet.

Der missionarische Christ Raimundus Martini übersetzte im Pugio Fidei das arabische darhiyyūn, womit die, die „nur an die Zeit glauben", gemeint sind, mit „epicurei" (103). Martinis Quelle al-Ghazālī erwähnt die Epikureer nicht, aber seine drei Kriterien für den Ungläubigen, nämlich die Postulate, dass die Welt nicht erzeugt worden sei, dass Gott nicht allwissend sei und dass es keine Auferstehung gebe, machen verständlich, warum Martini dabei an die Epikureer dachte. Doch was waren die Referenzen für die darhiyyūn im arabischen Raum? Zuerst findet sich der Bezug auf die, die nur an die vergehende Zeit (dahr) und nicht an göttliche Schöpfung und Providenz glauben, im Koran (45,24). Wie im christlichen und rabbinischen Denken werden die, die die göttliche Vorhersehung und die Autorität der Schrift negieren, als häretische Gruppe adressiert. In der arabischen Kommentartradition wurde diese Gruppe wahlweise mit Materialisten, mit arabischen Polytheisten oder mit vorislamischen Dichtern assoziiert. Die arabische Dichtung (111–115) setzt sich in der Tat intensiv mit dem dahr (دهر), der Vergänglichkeit, im Sinne der Liebessehnsucht und der Einsamkeit in der Wüste auseinander. Darüber hinaus wurde der Atomismus in der islamischen Theologie, dem Kalām, teils lose mit Epikur identifiziert (116). Spuren Epikurs lassen sich in der Übersetzungshochburg Bagdad nachweisen. Besonders die dort übersetzten pseudo-plutarchischen Placita Philosophorum sowie die Refutatio omnium haeresium des Hippolyt von Rom enthalten viel Material, das die Verbindung zwischen Epikur und den darhiyyūn nahelegt: Atomismus, Materialismus, Anti-Providentialismus, Sterblichkeit der Seele. Bei al-Shahrastānī (11./12. Jahrhundert), der aus dem intellektuellen Milieu al-Ghazālīs stammt, wurden die dahriyyūn über die durch Pseudo-Ammonius vermittelte Rezeption des Hippolyt von Rom häresiologisch mit epikureischen Thesen verknüpft.

Insgesamt entsteht in den drei monotheistischen Theologien ein erstaunlich homogenes Bild eines die Vorsehung negierenden, die Unsterblichkeit der Seele und auch die die Autorität der Schrift leugnenden Atheisten, der als Häretiker bekämpft werden musste. Dies hat, so Robert, mit der Verschiebung des Begriffs des „Epikureers" zu tun: Während der Epikureismus in der Antike als konkurrierende Religion wahrgenommen wurde, wurde der „Epikureer" zunehmend zur Chiffre eines innerreligiösen Heterodoxen, der von einer Institution bestraft werden konnte, wie im Prozess von Orléans im Jahr 1022, als Geistliche wegen vermeintlicher epikureischer Häresie verbrannt wurden (128).

In den folgenden drei Kapiteln (der dritte Teil mit dem Titel „Le moment pastoral") wird die Bedeutung des anti-epikureischen Diskurses in christlich-mittelalterlichen Predigten beleuchtet. Wie konnte, nach dem Vorbild des Paulus in der Apostelgeschichte, mit dem Epikureer diskutiert werden? Im siebten Kapitel verweist Robert vor allem auf die Bedeutung der anti-epikureischen Einlassungen Augustins. Bedeutend sei vor allem seine Anrufung des funktionalen Epikureers in der 150. Predigt: Jeder, der sagt: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen werden wir sterben", sei de facto ein Epikureer. Solche Verallgemeinerungen hatten massive Auswirkungen auf das Genre der Predigt. Wie das Beispiel Julians von Vézelay zeigt, sollte etwa denen, die im Sinne des Kohelet die Eitelkeit der Welt fürchteten, bewusst sein, dass eine solche Haltung im Sinne der göttlichen Gerechtigkeit bestraft werden müsse (143). Die anti-epikureische Predigt bedient sich im Kampf gegen die Epikureer verschiedener rhetorischer Mittel: der rationalen Belehrung und der Verängstigung. Im achten Kapitel führt Robert diese Predigtpraxis an einigen Beispielen aus dem 13. Jahrhundert vor. Neben der bekannten Warnung vor der Hingabe an irdisch-leibliche Freuden (147) findet sich in einem anonymen Traktat auch ein Vorläufer von Pascals Wette (die, wie Robert bemerkt, auch weitere Vorläufer bei Arnobius sowie bei al-Ghazālī hat), um in Predigten pragmatisch gegen die Vernünftigkeit des Atheismus zu argumentieren. Ebenso wurden sexuelle Akte um der Lust willen in anti-epikureischen Predigtmanualen als Ablösung der menschlichen Natur von der göttlichen Vorsehung kritisiert (154). Insgesamt war Epikur durch die pastorale Verwendung als Pappkamerad laut Robert im „imaginaire collectif" (158) des Hochmittelalters sehr präsent. Den Höhepunkt dieser Präsentation des Epikureers als Häretiker sieht Robert in Dantes Commedia, der das neunte Kapitel gewidmet ist. Tendenziell sei der Philosoph Epikur in der karolingischen Dichtung, aber auch in den Carmina Burana oder den Canterbury Tales durch den Wein, Weib und Gesang liebenden Epikur ersetzt worden. Dante nimmt diesen Aspekt auf, aber gibt ihm im sechsten Kreis des Inferno das volle Gewicht der Häresie. Für Dante „übersetzt sich die epikureische Häresie in erster Linie in einen Glauben, dass die Seele mit dem Körper stirbt, der sich im Grunde mit dem Unglauben deckt, da er das Fundament des christlichen Glaubens ruiniert." (165). Auch bei Dante wird – mittlerweile ganz traditionell, wie an diesem Punkt der Lektüre klar ist – diese Einstellung von der historischen Gartenphilosophie gelöst. Die „Epikureer", die in offenen Gräbern leben und das irdische Leben nicht hinter sich lassen können und sich nach dem neuesten fiorentinischen Tratsch erkundigen, sind teils Christen, stehen Dante politisch nahe und können auch gewisse Tugenden aufweisen (166). Da sie aber an eine Grundüberzeugung des Christentums nicht glauben, werden sie als Häretiker mit falschem Glauben (und nicht etwa als Philosophen) in ihren offenen Gräbern mit den Folgen ihrer Überzeugungen im permanenten Grenzbereich zwischen Leben und Tod konfrontiert: Sie reüssieren weder im Diesseits auf ethischer oder politischer Ebene, noch können sie sich auf das Jenseits freuen. Die Epikureer der Commedia sind also die, zu denen sie die spätantike und mittelalterliche Tradition gemacht hat: atheistische, hedonistische und zur Moral letztlich nicht befähigte Häretiker. Robert zeigt aber auch, dass in Dantes Convivio auch ein anderer Epikur zu finden ist: einer, der wie die Peripatetiker oder Stoiker nach der „ewigen Wahrheit" sucht. Hier findet sich nicht der Epikureer der Tradition, sondern der Asket Epikur. Eine ähnliche Interpretation findet sich bei Boccaccio. In seinem Kommentar zum zehnten Gesang der Commedia unterscheidet er zwischen der häretischen epikureischen Theologie und dem asketischen und tugendhaften Epikur. Dieser anerkennenden Auseinandersetzung mit Epikur, die dem festgesetzten Bild des gottlosen und unmoralischen Häretikers entgegensteht, ist der zweite Teil des Buches gewidmet.

Diese „Renaissance" eines philosophisch ernstzunehmenden Epikur findet, so die These, bereits ab dem zwölften Jahrhundert in verschiedenen Zusammenhängen statt. Einer davon ist die Debatte über die Erlösung der Heiden. Peter Abaelard gesteht den heidnischen Philosophen in seinem Dialog eine an der Wahrheit ausgerichtete Lebensform zu. Gerade Epikur wird gegen den Vorwurf des stumpfen Hedonismus verteidigt. Vielmehr habe er erkannt, so der Philosoph im Dialog, dass die Lust an irdischen Gütern nicht beständig sei und sich im Jenseits die reine Lust befinde. Daraus schließt er, dass es die gleiche Glückseligkeit sei, „die Epikur Lust und die euer Christus das Reich Gottes nennt" (193, zit. nach Robert). In Anknüpfung an Cicero und den Epikurliebhaber Seneca wird bei Abaelard das Bild eines tugendhaften Epikur rehabilitiert. Der Archihäretiker erschien so in einem besseren Licht als die meisten Christen, die die Offenbarung erhalten hatten (194). Auch in der Geschichtsschreibung eines William von Malmesbury und dem politischen Denken eines John von Salisbury findet sich ein Epikur, dessen Ethik für Christen ernst zu nehmen ist. Besonders Salisbury hat klar zwischen dem Tugendvorbild Epikur und depravierten Epikureern unterschieden (205).

Das elfte Kapitel ist der Gattung der Philosophenviten gewidmet. Gegen die These, dass mit der Übersetzung der Viten des Diogenes Laertius 1433 durch Ambrogio Traversari eine Wiederentdeckung des Menschen Epikur einherging, argumentiert Robert, dass Epikur nicht für das humanistische Ideal praktischer Tätigkeit im 15. Jahrhundert geeignet gewesen sei. Im Gegensatz zu vielen anderen antiken Philosophen sei bis Gassendi keine neue Epikurvita entstanden. Vielmehr habe man auf mittelalterliche Viten vor allem des 13. und 14. Jahrhunderts zurückgegriffen. Besonders wirkmächtig sei etwa das 18. Buch des Chronicon von Hélinand von Froidmont, der aus den verfügbaren antiken Quellen zwar die Steine des Anstoßes für Christen benennt (Verneinung von Vorhersehung, Lust als höchstes Gut und Sterblichkeit der Seele, 216), aber gerade hinsichtlich der Ethik ein differenzierteres Bild entwarf, indem er auf die Idee der Vermeidung von Leid, die Privilegierung der Keuschheit, den Vegetarismus sowie den Wert der Freundschaft und der Armut bei Epikur hinwies. In anderen Viten des Mittelalters wie bei Vinzent von Beauvais und Benzo von Alexandria sowie mit Abstrichen bei Jean de Galles findet sich ebenfalls eine Wertschätzung von Epikur als ethischem Vorbild. Die Einschätzung, dass Epikurs Tugend jeden Christen, der ihn unterbiete, mit Scham erfüllen müsse, übernimmt Traversari im Vorwort seiner Laertius-Übersetzung (218 f.) von Jean de Galles. Diese Kontinuität, so Robert, zwinge zu einer Relativierung des „behaupteten Bruchs zwischen der Scholastik des Mittelalters und dem Humanismus der Renaissance" (ebd.). Dies gelte umso mehr, da Giovanni Colonna und vor allem der von ihm beeinflusste Petrarca zu einer rigideren Position gegenüber Epikur zurückgekehrt seien (221–228). Paradoxerweise sei in den Viten des 14. und 15. Jahrhunderts das Interesse an Epikur und mehr noch an dessen Philosophie zurückgegangen.

Das hauptsächlich ethisch geprägte Interesse, das Robert in den Viten des Mittelalters nachzeichnet, findet sich auch in anderen Bereichen der Gelehrsamkeit der Zeit. Insbesondere im Zuge der Übersetzung der Nikomachischen Ethik (NE) und im Kontext medizinischer Wissensüberlieferung fand eine Auseinandersetzung mit einem Kerngebiet epikureischer Philosophie statt: der Frage nach der Lust. Im zwölften Kapitel wird die Nähe zwischen dem aristotelischen Denken der Lust und Epikurs Philosophie in den Blick genommen. In einer knappen, aber erhellenden Diskussion von Aristoteles und Epikur selbst steht insbesondere die Frage, inwiefern die ἀρετή Selbstzweck mit zusätzlichem Lustgewinn oder zwar unumgängliches, aber letztlich kontingentes Mittel zum Zweck der Lust ist, im Zentrum (236–245). Darauf aufbauend wird die Verbindung zwischen dem epikureischen und aristotelischen Denken der Lust im 13. Jahrhundert in den Blick genommen. Wichtige Kontexte bilden Nemesius von Emesa, der in seiner Anthropologie im Kapitel zur Lust deutliche Anleihen bei Epikur nimmt und von Burgundio von Pisa ins Lateinische übertragen wurde, sowie die byzantinischen Kommentare, die Robert Grosseteste in seiner ersten vollständigen Übersetzung anfügte. In diesem Kontext nahm Albert der Große das epikureische Denken der Lust in seine NE-Kommentare auf. Zwar machte er immer noch Gebrauch vom Pappkameraden Epikur, etwa indem er seinem Gegner David von Dinant einen syllogismus secundum Epicurum unterstellte: Jede Lust ist gut, der Koitus erzeugt Lust, also ist jeder Koitus gut. Neben dieser Breitseite, für die er die epikureische Physik verantwortlich machte, bezog sich Albert jedoch auch in konstruktiver Weise auf Epikur. Bei seiner Kommentierung der NE transformierte er die epikureische Einteilung der Lüste hinsichtlich ihrer Natürlichkeit und Notwendigkeit in eine Unterscheidung zwischen allen Menschen gemeinen und eigenen Bedürfnissen und Lüsten. Während die allgemeinen Bedürfnisse freilich bedient werden müssten, müssten die eigenen, oder vielleicht besser: eigentümlichen Bedürfnisse kleingehalten werden (256). Neben dieser Anverwandlung epikureischer Distinktionen näherte Albert in seinem Kommentar zum 10. Buch der NE das Ideal der Kontemplation explizit dem epikureischen Autarkie-Denken an. Darüber hinaus zeigt Robert, dass Albert die epikureische Verbindung zwischen Glück und der Loslösung von Mühen (vacatio) politisch wendete und daraus den Schluss zog, dass das Ziel politischen Handelns der Friede sein müsse (258). Alberts Wertschätzung Epikurs wurde nicht von allen Aristotelikern der Zeit geteilt: Gilles d'Orléans machte den Einwand geltend, dass sich mit Epikur keine Mäßigung denken ließe. Doch Nicole Oresme, der die NE ins Französische übersetzte, und Pierre d'Ailly bezeugen eine Wertschätzung für Epikur gerade als Denker einer maßvollen Lust (261). Insgesamt wird in diesem Kapitel sehr deutlich, dass die lateinische Übersetzung und Kommentierung besonders des 10. Buches der NE eine neue Einordnung der epikureischen Reflexion auf die Lust nach sich zog. Epikur konnte zur Erklärung schwieriger Passagen des Aristoteles beitragen, da bei ihm Lust und eine um Weisheit bedachte Lebensform zusammengehören.

Im dreizehnten Kapitel wird die Epikurrezeption im naturalistisch-medizinischen Denken untersucht. Im Unterschied zu den Pariser Philosophen, die nach der Lust der Kontemplation fragten, ging es in diesem Diskussionszusammenhang um die sexuelle Lust. Ausgehend von zwei vatikanischen Sentenzen und den Auslassungen eines Epikureers in Plutarchs Tischgesprächen wurde Epikur als Vertreter radikaler sexueller Abstinenz rezipiert, während Lukrez gelegentliche sexuelle Aktivität als natürlich und notwendig angesehen und nur vor dem Liebesfuror gewarnt habe (268). Der Benediktiner Constantin der Afrikaner argumentierte in seiner Abhandlung De coitu mit Galen gegen Epikur für die göttliche Vorsehung des Koitus (272): Nicht nur sei er notwendig zur Gattungserhaltung, sondern stärke auch die Gesundheit. Andersherum führe, wie verschiedene Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts argumentierten, komplette sexuelle Abstinenz zu Melancholie. In der Schule von Salerno wurde diese Position in der Kommentierung Galens teils Epikur selbst zugeschrieben, teils gegen diesen als vermeintlich radikalen Abstinenzler gewendet. Auch an der Pariser Artistenfakultät wurde trotz eines Verbots diskutiert, ob die sexuelle Liebe und die damit verbundene Lust natürlich sei, wenn auch wiederum nicht direkt mit Bezug auf Epikur, sondern auf Aristoteles. Diese Debatten wurden im 13. und 14. Jahrhundert von italienischen Medizinern mit größerer Vehemenz fortgeführt: Sie sahen die sexuelle Lust als natürlich und gesundheitsförderlich an und wendeten sich teils explizit gegen Epikur. So erachtete etwa Pietro von Abano Epikur als „schlechten Mediziner", der im Koitus eine Störung der atomaren Komposition gesehen habe. Er grenzte Epikur dezidiert von den horazschen epikureischen Schweinchen ab, aber kritisierte ihn dafür, dass er die Notwendigkeit sexueller Aktivität nicht erkannt habe. Während also Epikur in Predigten meist als Propagandist sittenloser Lust galt, kritisierten die Mediziner seine Verschlossenheit gegenüber dem gesundheitlichen Aspekt sexueller Aktivität. „Wenn die Renaissance des Epikureismus mit der Rückkehr des Körpers und der Lust zu tun hat, so muss man feststellen, dass diese Arbeit schon seit dem 13. Jahrhundert gemacht war", resümiert Robert (289).

Was also änderte sich tatsächlich mit der Renaissance? Roberts Antwort: in Sachen Epikur nicht viel. Die vermeintliche „saison épicurienne" sei eigentlich eine Variation schon existierender Themen. Denn die Übersetzung von De rerum natura habe bei den an Ethik und Rhetorik orientierten Humanisten keine großen Auswirkungen gehabt (292). Lorenzo Valla und Erasmus harmonisierten Epikur zwar mit dem Christentum, aber sie führten keine neuen Argumente an. Zudem sei die Haltung gegenüber Epikur bei vielen Autoren der Renaissance (Salutati, Bruni, Filelfo, Scala) eher indifferent bis negativ gewesen. Matteo Garimberti kommt eine besondere Rolle zu, da er der Stoa, den Peripatetikern und Epikur zuschreibt, im Grunde die gleiche Position zu vertreten: Das Streben nach Glück impliziere das Streben nach mit Tugend verbundener Lust. Da so alle Unterschiede eingekocht waren, erklärte Garimberti die über Jahrhunderte angestrengten Schulvergleiche für müßig (295–303). Epikur hat hier jede Anstößigkeit, aber auch jede Kontur verloren. Anders verhält es sich bei Cosimo Raimondi. Er verteidigte Epikur explizit gegen die Stoiker, aber auch gegen die Peripatetiker. Letztlich müssten auch jene einsehen, dass die Tugend um die mit ihr verbundene Lust willen angestrebt werde. Insofern könne sich Epikur im Schulstreit behaupten. Robert sieht in dieser ersten expliziten Verteidigung Epikurs jedoch kein neues Argument gegenüber Albertus Magnus und anderen (309). Zudem klammere Raimondi die theologische Seite der epikureischen Philosophie in seiner Verteidigung aus. Diese sei erst bei Gassendi dezidiert verteidigt worden.

Insgesamt zeichnet Robert glaubhaft nach, dass die Renaissance in wesentlichen Hinsichten die mittelalterliche Epikur-Rezeption fortschreibt. Robert gelingt ein Spagat zwischen der detaillierten Lektüre einzelner Werke samt den wichtigen unmittelbaren Kontexten auf der einen Seite und einer historischen Breite, die etwa 1800 Jahre abdeckt – und dies auf nur gut 300 Seiten. Die Begründung der Diskontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance mit der Wiederentdeckung des Epikureismus hat Robert somit geradezu genüsslich zerpflückt: Zu negativ war einerseits das Epikurbild in der Renaissance selbst, zu deutlich lassen sich schon im Hochmittelalter wohlwollende und differenzierte Lektüren der epikureischen Ethik nachweisen.

Nur ein Kritikpunkt soll hier angebracht werden: Da der Schwerpunkt des Buches darauf liegt, den „double discours" (311) über Epikur im 12. und 13 Jahrhundert nachzuzeichnen und das Revolutionäre an der Renaissance zu relativieren, wird die Spätantike bei Robert zu einer Zeit, in der ausschließlich das negative Zerrbild des Häretikers Epikur produziert wird (z.B. S. 293). Dies ist in doppelter Hinsicht vereinseitigend: Damit werden erstens die durchaus existierenden positiven Bezugnahmen auf Epikur marginalisiert. Dabei werden entsprechende Stellen von Robert selbst zitiert. So muss er etwa S. 266f. die Epikuranleihen des Ambrosius und Clemens als paradox bezeichnen. Warum ist den Kirchenvätern nicht auch ein „double discours" oder zumindest eine Polyphonie zuzutrauen? Zweitens gab es bei christlichen Autoren der Spätantike nicht nur viele Verdammungen von und wenige Anleihen an Epikur, sondern auch inhaltliche Kritik. Der Totenschein, den Augustinus den Epikureern ausstellte, war aus seiner Sicht wohl nicht nur aufgrund des faktischen Verschwindens der Gartenphilosophen, sondern auch wegen der argumentativen Todesspritze, die er ihnen selbst verpasst zu haben meinte, angebracht. Zwei der Kernanliegen des epikureischen Tetrapharmakon beispielsweise, nämlich, dass das Gute leicht zu erlangen und das Übel leicht zu vermeiden sei, werden beispielsweise in Augustins (Selbst-)Analyse des Umgangs mit der Lust bei der Ernährung in den Confessiones X.31.43–47 in Zweifel gezogen: Schließlich setze die Lust an der Sättigung eigene Standards, die das Maß der Bedürftigkeit unerkennbar werden ließen.[2] Man mag diese Kritiken nicht für stichhaltig halten, aber sie belegen, dass Grundsätze der epikureischen Ethik auch bei den Kirchenvätern ernsthafter inhaltlicher Kritik ausgesetzt war. Dass solche seriösen Auseinandersetzungen in Roberts Darstellung unterbelichtet bleiben, liegt wohl auch daran, dass der Skopos des Buches auf dem Hochmittelalter liegt.

Insgesamt kann aber festgehalten werden, dass dieses Buch meisterlich und minutiös die Vielschichtigkeit der Epikurrezeption unter der dichten Decke einer Verurteilung des Häretikers Epikur enthüllt. Dem Buch ist eine umfassende Rezeption zu wünschen, zumal es in einem sehr klaren Duktus verfasst ist und so nicht nur für die philosophiegeschichtliche Forschung, sondern auch für eine breitere geistesgeschichtlich interessierte Öffentlichkeit von großem Gewinn sein dürfte. Eine Übersetzung ins Deutsche oder ins Englische könnte dabei hilfreich sein.

Footnotes 1 Die Übersetzungen stammen vom Rezensenten. 2 Aug.Conf. X.31.44 (ed. J. J. O'Donnell, Oxford 1992): ad hoc incertum hilarescit infelix anima et in eo praeparat excusationis patrocinium, gaudens non apparere quid satis sit moderationi valetudinis, ut obtentu salutis obumbret negotium voluptatis.

By Carsten Flaig

Reported by Author

Titel:
Kritik über Robert (2021): Épicure aux enfers. Hérésie, athéisme et hédonisme au Moyen Âge.
Autor/in / Beteiligte Person: Flaig, Carsten
Link:
Zeitschrift: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter, Jg. 24 (2021), Heft 1, S. 204-214
Veröffentlichung: 2021
Medientyp: review
ISSN: 1384-6663 (print)
DOI: 10.1075/bpjam.00081.fla
Schlagwort:
  • EPICURE aux enfers. Heresies, atheisme et hedonisme au Moyen Age (Book)
  • ROBERT, Aurelien
  • EPICURUS, 341 B.C.-270 B.C.
  • ATHEISM
  • NONFICTION
  • Subjects: EPICURE aux enfers. Heresies, atheisme et hedonisme au Moyen Age (Book) ROBERT, Aurelien EPICURUS, 341 B.C.-270 B.C. ATHEISM NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Freie Universität Berlin, 046ak2485
  • Full Text Word Count: 3999

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