Der Beitrag wendet sich einem in Bildungs- und Ungleichheitssoziologie weitgehend vernachlässigten Phänomen zu: Wie lässt sich die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit in einer bereits stark selektierten Population erklären? Untersucht wird, welche Faktoren dazu beitragen, dass Juniorprofessor*innen sog. bildungsferner Herkunft auf eine Lebenszeitprofessur berufen werden. Dieser Frage wird mit eigenen Befragungsdaten nachgegangen, die 2015 unter Juniorprofessor*innen erhoben wurden; die Ungleichheitssoziologie Bourdieus gibt die analytische Perspektive vor. Die Analysen zeigen, dass soziale Aufstiege durch (
The paper focuses on a phenomenon largely neglected in the sociology of education and social inequalities: How can we explain the non-reproduction of social inequality in an already highly selected population? To address this question, the contribution examines factors that explain the appointment of junior professors from underprivileged educational families to a full professorship. The analyses draw on survey data collected among junior professors at German universities in 2015; Bourdieu's sociology of social inequality provides the analytical framework. The analyses indicate that social mobility can be explained by upwardly mobile professors' (
Keywords: Soziale Ungleichheit; Wissenschaftliche Karrieren; Soziale Mobilität; Bildungsaufstiege; Berufungen; Berufungsfaktoren; Juniorprofessur; Professorenschaft; Social Inequality; Academic Career; Social Mobility; First Generation; Educational Advancement; Professorial Appointment; Junior Professorship; Professors
Anmerkung: Ich danke den Herausgeber*innen und anonymen Gutachter*innen für die wertvollen und produktiven Hinweise. Zudem danke ich Sandra Buchholz und Julian Hamann, die mit ihren hilfreichen Anmerkungen ebenfalls zur Verbesserung des Manuskripts beigetragen haben.
Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die übergeordnete Frage nach den Einflussfaktoren auf die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die konträr zu einer traditionell eher defizitorientierten Ungleichheitsforschung steht. Fokussiert werden nicht die vielfach beschriebenen Mängel und Benachteiligungen, die mit einer sog. bildungsfernen Herkunft einhergehen und die zu einer systematischen Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungs- und Hochschulsystem beitragen, sondern jene Ressourcen, die einen sozialen Aufstieg begünstigen.
Dass sich vor allem die deutsche Ungleichheitsforschung bislang überwiegend auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit konzentriert, hängt zweifelsohne mit dem Ausmaß der sozialen Vererbung von Bildung in Deutschland zusammen. So kann auf eine Fülle empirischer Forschungsarbeiten verwiesen werden, die auf Grundlage unterschiedlicher Operationalisierungen des Konzepts der sozialen Herkunft über die Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit im Bildungs- und Hochschulsystem informieren (z. B. [
Seit etwa zehn Jahren steht der vor allem an der Reproduktion sozialer Ungleichheit interessierten Forschung eine Debatte über die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren gegenüber. In ihr sammeln sich (auto-)biografische Erzählungen, die Möglichkeiten und Bedingungen sozialer Aufstiege in der Wissenschaft reflektieren. Bisher basiert diese Literatur jedoch fast ausschließlich auf Einzelfallstudien und anekdotischen Evidenzen (für Ausnahmen vgl. [
Die Konzentration auf die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit ist dabei nicht als Widerspruch zu den dargestellten Forschungsarbeiten zu ihrer Reproduktion zu verstehen. Vielmehr „liegt es in der Logik der Theorie der Reproduktion selbst, sich mit den Gegenbeispielen zu beschäftigen, um deren Status und deren Tragweite besser zu verstehen." ([
Als empirisches Fallbeispiel dient der vorliegenden Studie der Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur. Mit der Juniorprofessur wurde 2001 eine neue Statuspassage in das Karrieresystem an deutschen Universitäten eingeführt, die im Anschluss an die Promotion direkt für die Übernahme einer Lebenszeitprofessur qualifiziert. Als ausgesprochen strukturierter Karriereweg zeichnet sich die Juniorprofessur durch verschiedene Begutachtungsprozesse aus, die – anders als im Habilitationsmodell – bereits in einem recht frühen Karrierestadium erfolgen. Hierzu zählt vor allem das Berufungsverfahren auf die Juniorprofessur selbst, aber auch die obligatorische Zwischenevaluation. Stelleninhaber*innen sog. bildungsferner Herkunft haben sich folglich nicht nur innerhalb der Selektionsprozesse des allgemeinen Bildungssystems erfolgreich durchsetzen können, sondern darüber hinaus auch erste Hürden im Rahmen ihres wissenschaftlichen Werdegangs erfolgreich überwunden.
Die Analysen konzentrieren sich auf Juniorprofessor*innen aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe, d. h. auf jene, bei denen beide Elternteile höchstens über einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss verfügen. Mit dieser hoch selektiven Gruppe der Extremaufsteiger*innen wird gewissermaßen die unwahrscheinlichste Ausnahme von der Regel der Reproduktion sozialer Ungleichheit fokussiert. Hierdurch kann aufgezeigt werden, welche Faktoren das Unwahrscheinliche wahrscheinlich werden lassen.
Im Folgenden wird zunächst auf Basis der wenigen, vornehmlich qualitativen Studien zu sozialen Aufstiegen im wissenschaftlichen Karrieresystem eine Reihe von Annahmen zur Erklärung der Berufung von Juniorprofessor*innen sog. bildungsferner Herkunft auf eine Lebenszeitprofessur erarbeitet. Die macht- und ungleichheitssoziologischen Arbeiten Bourdieus geben dabei die analytische Perspektive vor. Die empirischen Analysen erfolgen mithilfe repräsentativer Befragungsdaten, die 2015 unter ehemaligen und aktiven Juniorprofessor*innen erhoben wurden. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion.
Forschungsarbeiten zu herkunftsspezifischen Selektionsmechanismen im allgemeinen Bildungssystem stehen nur wenige Ausnahmen gegenüber, die sich mit der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren beschäftigen. Die Befunde von Möller (2015) weisen diesbezüglich auf eine zunehmende soziale Schließung der Professor*innenschaft hin. Analog hierzu verzeichnen [
Studien, die sich nicht auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit fokussieren, sondern den sozialen Aufstieg in den Mittelpunkt stellen, sind vergleichsweise rar. Seit den 1980er Jahren findet sich eine Reihe qualitativer Untersuchungen, die sich zunächst vor allem auf die Bildungsaufstiege von Arbeitertöchtern konzentrierten (z. B. [
Erste empirische Hinweise zum Phänomen der Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren liefert eine Reihe qualitativer Untersuchungen, in denen die persönlichen Werdegänge von Wissenschaftler*innen sog. bildungsferner Herkunft über biografische Interviews bzw. autobiografische Erzählungen ([
Aus theoretischer Perspektive ist der Aufstieg aus einem sog. bildungsfernen Elternhaus in das wissenschaftliche Karrieresystem umso erstaunlicher, wenn man die Wissenschaft als soziales Feld begreift, in dem Wissenschaftler*innen um die Deutung und Verteilung feldspezifischen Kapitals kämpfen ([
Obgleich damit auch in der theoretischen Arbeit Bourdieus die Reproduktion sozialer Ungleichheit im Mittelpunkt steht, finden sich hier Hinweise darauf, welche Strategien auf individueller Ebene dazu beitragen können, dass der Aufstieg von Angehörigen sog. bildungsferner Herkunft in das wissenschaftliche Karrieresystem gelingt. Als Grundlage dienen dabei nicht allein Bourdieus Arbeiten zum sozialen Aufstieg in der Wissenschaft (Bourdieu 1998b). Die vorliegende Analyse ist auch informiert durch Bourdieus Studien zur Reproduktion sozialer Ungleichheit im allgemeinbildenden Schulsystem (Bourdieu & Passeron 2007). Dahinter steht die Grundannahme, dass sich bestimmte Mechanismen und Merkmale der sozialen Reproduktion und Nicht-Reproduktion in allen Bildungs- und Karrierestadien zeigen. Ergänzt durch die autobiografischen Erzählungen und qualitativen Studien liefert die Reproduktionstheorie Bourdieus das Fundament, auf dem im Folgenden drei zentrale Faktoren für die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Wissenschaft formuliert werden können: Sozialer Aufstieg im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren steht demnach in einem Zusammenhang mit (
Als relativ autonomes soziales Feld verfügt die Wissenschaft über spezifische Regeln und Kapitalien (Bourdieu 1998b). Akteure im wissenschaftlichen Karrieresystem entwickeln einen auf diesen Zusammenhang abgestimmten feldspezifischen Habitus. Dazu gehört, dass sie sich jene Wert- und Sinnstiftungen aneignen, die im Feld angenommen und nicht weiter hinterfragt werden ([
Dieses Gefühl resultiert nicht allein aus dem wahrgenommenen Mangel an kultureller Beflissenheit, welche beim Aufwachsen in einem bildungsnahen Elternhaus bereits früh vermittelt und in der schulischen Laufbahn weiter kultiviert wird, sondern auch aus der daran anschließenden mangelnden Selbstverständlichkeit, mit der sich andere im Feld der Wissenschaft bewegen. Diese theoretische Annahme findet sich auch in den autobiografischen Aufstiegserzählungen wieder: „Those graduate students who are to the manor born have been groomed; everything in their backgrounds has prepared them for this life. To me, they are the diners at Lahiere's with their easy grace [...]." ([
Bildungsaufsteiger*innen mangelt es an dieser bürgerlichen Gelassenheit. Sie „haben kein spielerisches Verhältnis zum Bildungsspiel" ([
Ursächlich für den Mangel an bürgerlicher Gelassenheit ist nicht allein das bereits beschriebene diffuse Gefühl des Nichtgenügens, sondern auch die konkrete Sorge um die riskante – soziale wie finanzielle – Investition, die an den Bildungsaufstieg gekoppelt ist. Der Aufstieg aus einem sog. bildungsfernen Elternhaus wird nicht als Selbstzweck verstanden. Vielmehr sind oft konkrete und mitunter existenzielle Hoffnungen daran gebunden: „Education was a primal force for social change; it gave us hope. [...] But it wasn't for its own sake, it was for where it might take us." ([
Der Mangel an bürgerlicher Gelassenheit erklärt sich auch dadurch, dass mit höheren Bildungs- und Karrierestufen der Einsatz steigt. Obgleich sog. Bildungsaufsteiger*innen aufgrund geringerer finanzieller und beratender Unterstützung aus dem Elternhaus gerade zu Beginn ihres Bildungsweges häufiger Umwege gehen – etwa über alternative Bildungswege an die Hochschule kommen (vgl. z. B. [
Auch wenn es reichhaltige anekdotische Evidenzen zum Mangel an bürgerlicher Gelassenheit gibt, bleibt analytisch unklar, wie daraus eine Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit in wissenschaftlichen Karrieren erwächst. Ein zu verfolgender Faktor kann etwa das Bewerbungsverhalten darstellen. So kann das hohe Bedürfnis nach sozialer und finanzieller Sicherheit dazu führen, dass sich Nachwuchswissenschaftler*innen aus einem sog. bildungsfernen Elternhaus konsequenter und zu einem vergleichsweise früheren Zeitpunkt um eine Anschlussbeschäftigung bemühen. Bewerbungen auf Professuren können dabei konkret die Wahrscheinlichkeit steigern, frühzeitig berufen zu werden. Bei der Gruppe der Juniorprofessor*innenschaft wird die Eignung als Hochschullehrer*in formalrechtlich über das Instrument der Zwischenevaluation festgestellt. Die Zwischenevaluation erfolgt in der Regel nach drei Jahren und gilt unter den Stelleninhaber*innen als Voraussetzung für die Berufbarkeit auf eine Lebenszeitprofessur. Aufgrund des erhöhten Bedürfnisses nach finanzieller und sozialer Sicherheit wird jedoch angenommen:
H1: Juniorprofessor*innen aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe bewerben sich vergleichsweise häufiger bereits vor der Zwischenevaluation auf Lebenszeitprofessuren und steigern hierdurch ihre Berufungschancen.
Zudem wird angenommen:
H2: Juniorprofessor*innen aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe bewerben sich vergleichsweise häufiger auf Lebenszeitprofessuren und steigern hierdurch ihre Berufungschancen.
Als zentrale „Aufstiegsstrategie" identifiziert Bourdieu (1982: 528) Arbeitseifer und Fleiß. Dem fehlenden ererbten Kapital werde mit einem streng disziplinierten „Akkumulationstrieb" (ebd.: 519) begegnet, der in seiner Ernsthaftigkeit und Verzweiflung zugleich Ausdruck für die mangelnde habituelle Passung mit dem Feld der Wissenschaft sei. Über den Begriff „Erwerbsmenschen" (ebd.: 518) grenzt Bourdieu Aufsteiger*innen von jenen ab, die bereits durch ihre Herkunft über die im Feld erforderlichen Denk- und Handlungsdispositionen verfügen. Die radikale Konzentration auf „Erwerb, Akkumulation, Schatzbildung" (ebd.: 517) erklärt sich also dadurch, dass Aufsteiger*innen das implizite Wissen darüber fehlt, welches Kapital konkret an welcher Stelle notwendig ist, um die eigene soziale Position im Feld zu verbessern. Als Konsequenz bleibt ein zwar umfassender, aber auch eher ungerichteter Arbeitseifer (vgl. Bourdieu 1982: 518 f.; Bourdieu & Passeron 2007: 36 f.).
Das Narrativ des Fleißes findet sich auch empirisch in nahezu allen Aufstiegserzählungen wieder (zur Bedeutung des Motivs Fleiß in Erzählungen über wissenschaftliche Biografien insgesamt vgl. [
In autobiografischen Erzählungen von Wissenschaftler*innen sog. bildungsferner Herkunft finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass die Realisierung des Aufstiegswillens zwingend mit harter Arbeit und einem unermüdlichen Arbeitseifer verknüpft wird: „If I were going to get anywhere, I was going to have to work, and work hard [...]." (Ryan & Sackrey 1996: 235) Orientierung geben die offensichtlichen „Verhaltensmaßstäbe und -techniken", die im jeweiligen Feld vorherrschen und deren Umsetzung mit harter Disziplin verfolgt wird (Bourdieu 1982: 519).
Das Arbeitsethos, das sog. Bildungsaufsteiger*innen aufweisen, zeugt auch von der Hysteresis des Habitus, d. h. der Trägheit der inkorporierten Handlungs- und Einstellungsdispositionen. So passen sich der Habitus und die damit zusammenhängenden Wahrnehmungs- und Wertungsschemata nur langsam und schwerfällig an veränderte Strukturen an. Je stärker die neuen Bedingungen dabei jenen gleichen, unter denen der Habitus gebildet und geprägt wurde, desto müheloser gestaltet sich der Anpassungsprozess (Bourdieu 1987: 116). Gerade bei der Gruppe der Extremaufsteiger*innen kann demgemäß von einem beharrlichen „Weiterwirken der Erstkonditionierung" (ebd.: 117) ausgegangen werden. In Bezug auf das Verständnis von harter Arbeit und Fleiß wird in vielen Erzählungen das Arbeitsethos des Herkunftsmilieus hervorgehoben und teilweise auch als Gelingensbedingung für den eigenen Erfolg gerahmt: „Mom and Dad raised me on a steady diet of such clichés as ‚Money doesn't grow on trees' and ‚Nothing comes without hard work'" (Charlip 1995: 34), oder: „Work, as well as the work ethic, of my childhood gave me perspective in my academic career." ([
Wenn es jedoch um die konkrete Ausgestaltung von Arbeit geht, dann lässt sich der Arbeitsethos des Herkunftsmilieus nur schwerlich mit jenem der Wissenschaft in Passung bringen. In den autobiografischen Erzählungen wird häufig auf das fehlende familiäre Verständnis und auf die mangelnde Anerkennung für die eigene Arbeit hingewiesen. Zwar erfahren viele sog. Bildungsaufsteiger*innen während der Schulzeit und im Studium vor allem aufgrund der eigenständigen Finanzierung über Nebenjobs Achtung durch ihr Elternhaus. Spätestens mit Eintritt in die Wissenschaft und der Konzentration auf intellektuelle Arbeit mangelt es jedoch in der Regel an Verständnis: „After a long day at the kitchen table revising a final paper, one of us made the comment that we needed a shower. ‚Shower? All you've done is write all day'." (Philpot & Sullivan Barak 2014: 28) In den Herkunftsmilieus der sog. Bildungsaufsteiger*innen werden harte Arbeit und Fleiß mit körperlicher Arbeit assoziiert und definieren sich über „sweat, body aches, tangible results, a clear beginning point and a clear end point." ([
Die Diskordanz zwischen dem im Herkunftsmilieu vorherrschenden und die Primärsozialisation anleitenden Verständnis von harter Arbeit auf der einen Seite und der Deutung und Praxis von Arbeit im Feld der Wissenschaft auf der anderen Seite führt bei vielen Aufsteiger*innen zu einem zerrissenen Habitus (Bourdieu & Wacquant 1996: 160 f.): „The values I was brought up with told me that hard work was important; sitting and reading seemed almost decadent, as though I were wasting time. There were many times when I asked myself, ‚Who do you think you are, going to school like this?'" ([
Vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen und anekdotischen Evidenzen aus den autobiografischen Erzählungen von Wissenschaftler*innen sog. bildungsferner Herkunft kann angenommen werden, dass sog. Bildungsaufsteiger*innen versuchen, herkunftsbedingte Defizite durch einen hohen, aber auch eher ungerichteten Arbeitseifer zu kompensieren. Es wird weiterhin angenommen, dass das skizzierte Arbeitsethos von sog. Bildungsaufsteiger*innen eine besondere Kompatibilität mit den Erfordernissen der Juniorprofessur aufweist. Als stark formalisierter Karriereweg zur Professur sieht die Konzeption der Juniorprofessur vor, dass den Stelleninhaber*innen konkrete Kriterien ihrer Bewertung – wie etwa die erwartete Anzahl an Publikationen – explizit gemacht wird. So existieren transparente „Verhaltensmaßstäbe und -techniken" (Bourdieu 1982: 519), an denen sog. Bildungsaufsteiger*innen ihren Arbeitseifer ausrichten können.
Daher wird angenommen:
H3: Juniorprofessor*innen aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe weisen einen ungerichteten Arbeitseifer auf und steigern hierdurch ihre Berufungschancen auf eine Lebenszeitprofessur.
Neben dem Mangel an bürgerlicher Gelassenheit und einem ungerichteten Arbeitseifer zeichnen sich sog. Bildungsaufsteiger*innen durch einen weiteren Aspekt aus, den Bourdieu als „‚moralische' Ressource" (1982: 520) definiert. Gemeint ist die Fähigkeit zur Askese, die mit der disziplinierten Konzentration auf die für den Aufstieg notwendige Kapitalakkumulation einhergeht. Wie dargestellt, bedarf es großer Anstrengungen, die Defizite einer sog. bildungsfernen Herkunft zu kompensieren und gegenüber jenen konkurrenzfähig sein zu können, die früh auf die Erfordernisse des wissenschaftlichen Feldes vorbereitet wurden. Zwangsläufig sind damit auch tiefgreifende Einschränkungen verbunden, die alle Lebensbereiche betreffen. Diese Einschränkungen deuten sich bereits an, wenn Bourdieu (1982: 528) über die aufsteigende Kleinbourgeoisie schreibt: „Dort wo andre [sic] wirkliche Garantien, Geld, Bildung oder Beziehungen für sich sprechen lassen können, hat sie nur moralische Garantien auf ihrer Seite; verhältnismäßig arm an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, kann sie ihre ‚Ansprüche' nur ‚nachweisen' und sich damit Aussichten auf deren Realisierung eröffnen, wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Verzicht, Entsagung [...] zu zahlen. In diesem Sinne schreibt Bourdieu (1982) den Aufsteiger*innen „asketische Fähigkeiten" (ebd.: 528), „asketische Prinzipienstrenge" (ebd.: 552) bzw. „asketische Tugenden" (ebd.: 206) zu. Dabei gilt es jedoch zwischen der aus einer Zwangslage heraus begründeten asketischen Lebensführung der Aufsteiger*innen und einer „Askese als frei gewählte[r] Selbstbeschränkung" (Bourdieu 1982: 397) der herrschenden Klassen zu unterscheiden. Für Aufsteiger*innen ist Askese keine freiwillige Selbstkontrolle und sie ist demzufolge auch nicht als Distinktionspraxis zu deuten. Vielmehr fußt Askese hier auf der Notwendigkeit, alle verfügbaren Ressourcen für den Ausgleich des fehlenden Kapitals zu mobilisieren (ebd.: 520).
Zahlreiche autobiografische Erzählungen von Wissenschaftler*innen sog. bildungsferner Herkunft zeugen davon, dass die starke Konzentration auf die eigene Bildungs- und Wissenschaftskarriere und die damit verbundene asketische Lebensführung mit großen Entbehrungen verbunden sind. So schreibt etwa [
Als konkreter Indikator für die angenommene asketische Lebensführung von sog. Bildungsaufsteiger*innen kann eine geringere Investition in Familienarbeit gelten. Bourdieu selbst schreibt den aufsteigenden Klassen „malthusianistische Einstellungen" (Bourdieu 1982: 528), „Fruchtbarkeitsstrategien" (ebd.: 519) bzw. eine „restriktive und selektive Fortpflanzung" (ebd.: 530) zu.
In Schmeisers (1994) historischer Analyse professoraler Karrierewege an deutschen Universitäten zwischen 1870 bis 1920 finden sich Hinweise, dass bereits zu jener Zeit der soziale Aufstieg in das Feld der Wissenschaft mit Einschränkungen im Familienleben verbunden ist; beispielsweise rät ein Philosophieprofessor jener Zeit: „So etwas wie Professor kann man bei vermögensloser Herkunft dann werden, wenn man zunächst an so etwas wie Heiraten überhaupt nicht denkt.'" (Schmeiser 1994: 142) Aktuellere autobiografische Erzählungen geben jedoch Hinweise darauf, dass sich die sog. Bildungsaufsteiger*innen in Bezug auf die private Lebensführung auch an den Modellen ihres Herkunftsmilieus orientieren, denen zufolge Heirat und Familiengründung häufig als selbstverständlich gelten. Entsprechende Passagen finden sich vor allem in den Erzählungen männlicher sog. Bildungsaufsteiger. So führt etwa Jones (Ryan & Sackrey 1996: 226) aus: „‚working class' for me [...] had to do with a lot more than just what kind of job your father had. It meant a whole complex of values, including virginity at marriage and, of course, implicitly, marriage itself." Trotz Heirat und Familiengründung wird jedoch auch in diesen Erzählungen die disziplinierte Konzentration auf die wissenschaftliche Karriere zu Lasten eines aktiven Familienlebens hervorgehoben (vgl. ebd.; vgl. auch die Erzählung von [
Vor diesem Hintergrund wird angenommen:
H4: Juniorprofessor*innen aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe investieren vergleichsweise weniger Zeit in eine aktive Familienarbeit und steigern hierdurch ihre Berufungschancen auf eine Lebenszeitprofessur.
In theoretischer Hinsicht handelt es sich beim Mangel an bürgerlicher Gelassenheit, ungerichtetem Arbeitseifer und bei der asketischen Lebensführung um Wahrnehmungs- und Wertungsschemata, die Teil eines umfassenden Systems habitueller Dispositionen sind und daher aufeinander verweisen. Analytisch handelt es sich hingegen um unterscheidbare Einflussfaktoren auf die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit. Dabei können ein Mangel bürgerlicher Gelassenheit, ein ungerichteter Arbeitseifer und eine asketische Lebensführung grundsätzlich und unabhängig von der sozialen Herkunft als zentrale Erfolgsfaktoren wissenschaftlicher Karrieren gelten. So kann gerade der Befund, dass sich Fleiß – etwa gemessen über einen hohen Publikationsoutput – positiv auf die Erlangung einer Professur auswirkt, als gesichert gelten (z. B. [
Den vier Hypothesen wird mit Hilfe einer quantitativen Primärdatenanalyse nachgegangen. Die Grundgesamtheit umfasst alle Personen, die zwischen der Einführung der Juniorprofessur 2002 und dem 01. Juni 2015 an einer der zehn staatlichen Universitäten in Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland als Juniorprofessor*in beschäftigt waren. Die Konzentration auf die drei Bundesländer ergibt sich aus ihrer zentralen Lage sowie der Struktur der jeweiligen Hochschullandschaft. Mit Rheinland-Pfalz und Hessen sind zwei größere Flächenländer im Sample enthalten, die das gesamte Spektrum deutscher Universitäten abdecken. Mit dem Saarland wurde zusätzlich ein angrenzendes Bundesland aufgenommen, das formal zwar ebenfalls zu den Flächenländern zählt, hinsichtlich Größe und Struktur aber eher einem Stadtstaat gleicht.
Bei der Juniorprofessur handelt es sich um einen jungen Karriereweg, der bisher von verhältnismäßig wenigen Stelleninhaber*innen durchlaufen wurde. Die Grundgesamtheit, auf der die vorliegende Untersuchung fußt, ist folglich relativ klein. Gerade vor dem Hintergrund, dass mit den Extremaufsteiger*innen zusätzlich eine ausgesprochen kleine Untersuchungspopulation fokussiert wird, bestand das Ziel der Erhebung darin, die Grundgesamtheit möglichst vollständig zu erfassen. Um eine systematische Verzerrung der Daten aufgrund einer Überrepräsentanz von zum Zeitpunkt der Befragung noch aktiven sowie den bereits auf eine Lebenszeitprofessur berufenen ehemaligen Juniorprofessor*innen zu vermeiden, lag der Fokus darauf, die Grundgesamtheit genau bestimmen zu können. Zur Grundgesamtheit gehören nämlich auch jene, die im Anschluss an die Juniorprofessur aus dem Wissenschaftssystem ausgestiegen sind. Da kein zentrales Register zu ehemaligen und aktuellen Juniorprofessor*innen existiert, wurden in einem ersten Schritt alle Universitäten im Untersuchungsgebiet kontaktiert. Über dieses Verfahren konnten alle 556 ehemaligen und zum Zeitpunkt der Befragung noch aktiven Juniorprofessor*innen im Untersuchungsgebiet identifiziert werden.
Insgesamt konnten mit der Befragung Daten von 309 ehemaligen und aktuellen Juniorprofessor*innen erhoben werden, was bei einer Brutto-Population von 556 Fällen einer Brutto-Ausschöpfungsquote von 55,6 % entspricht. Hinsichtlich der Geschlechterverteilung, der Fächergruppenverteilung sowie der Zugehörigkeit zur Gruppe der ehemaligen bzw. zum Zeitpunkt der Befragung noch aktiven Juniorprofessor*innen zeigen sich keine signifikanten Abweichungen zwischen der Brutto-Population und dem Befragungssample (zur Repräsentativität des Samples vgl. Zimmer 2018).
Zur Analyse der herausgearbeiteten Forschungsannahmen bedarf es zunächst einer Operationalisierung der sog. Bildungsherkunft. Um eine möglichst starke Kontrastierung zu erreichen, konzentriert sich die Analyse dabei auf Juniorprofessor*innen aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe, d. h. auf Extremaufsteiger*innen, bei denen beide Elternteile höchstens über einen Haupt- bzw. Volksschulabschluss verfügen (vgl. [
Der Blick auf den Anteil der sog. Extremaufsteiger*innen in der Juniorprofessor*innenschaft macht deutlich, dass es sich – im Einklang mit der eingangs rezipierten Forschungsliteratur – auch bei der Juniorprofessor*innenschaft um eine stark positiv selektierte Gruppe handelt. Abbildung 1 weist zudem darauf hin, dass sich die Extremaufsteiger*innen nicht zufällig über die Fächergruppen verteilen: Während die Naturwissenschaften und Mathematik eine vergleichsweise große soziale Offenheit erkennen lassen, erweisen sich die Rechts- und Geisteswissenschaften als besonders selektiv (vgl. im Einklang hiermit auch [
Graph: Abb. 1: Anteil der Extremaufsteiger*innen1 in der Juniorprofessor*innenschaft nach FächergruppeQuelle: Juniorprofessor*innen-Befragung 2015.Anmerkungen: Cramer's V=0,20, p=0,012, N=288.1 beide Elternteile verfügen höchstens über Volks- bzw. Hauptschulabschluss.
Die in Kapitel 2 abgeleiteten Hypothesen werden im Rahmen einer Mediationsanalyse getestet (vgl. Abb. 2).
Graph: Abb. 2: MediationsmodellQuelle: [
Dem Mediationsmodell von Baron und Kenny (1986) folgend, werden die Analysen in drei Schritten durchgeführt. Im (1.) Schritt des Modells wird überprüft, ob sich in der Gruppe der Extremaufsteiger*innen die Faktoren Mangel bürgerlicher Gelassenheit, ungerichteter Arbeitseifer und asketische Lebensführung in den angenommenen Ausprägungen zeigen und ob signifikante Unterschiede im Vergleich mit Juniorprofessor*innen sonstiger Bildungsherkunft feststellbar sind. Hierzu wird vor allem auf t-Tests zurückgegriffen, die sich besonders gut zur Analyse kleiner Fallzahlen eignen ([
Im zweiten und dritten Schritt des in Abbildung 2 definierten Modells wird überprüft, ob die identifizierten Faktoren auch tatsächlich zur Erklärung der Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Feld der Wissenschaft beitragen, d. h. ob sie als Mediatoren positiv auf den Übergang von der Junior- auf eine Lebenszeitprofessur von Extremaufsteiger*innen wirken. Hierzu wird (2.) zunächst überprüft, ob sich der erwartete direkte Effekt zwischen der Bildungsherkunft der Extremaufsteiger*innen und der Berufung von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur auch empirisch zeigt. Schließlich wird über Analyseschritt (3.) überprüft, inwieweit sich der Effekt der sog. Bildungsherkunft unter Hinzunahme der angenommenen Mediatoren Mangel bürgerlicher Gelassenheit, ungerichteter Arbeitseifer und asketische Lebensführung verändert. Die Analyseschritte (2.) und (3.) im Modell (vgl. Abb. 2) erfolgen über Ereignisanalysen. Der Outcome bildet dabei die Zeit zwischen Antritt der Juniorprofessur und dem Erlangen des Erstrufes auf eine Lebenszeitprofessur. Ereignisanalysen bieten sich vor allem im Fall einer Rechtszensierung von Daten an, da auch jene Fälle in die Analyse einfließen können, bei denen das Ereignis Berufung auf eine Lebenszeitprofessur (noch) nicht stattgefunden hat ([
Den theoretischen Ausführungen folgend wird der Faktor Mangel bürgerlicher Gelassenheit zum einen darüber abgebildet, ob die Juniorprofessor*innen bereits vor der Zwischenevaluation Bewerbungsanstrengungen unternommen haben (1 = Bewerbungsstart vor Zwischenevaluation), und zum anderen über die durchschnittliche Anzahl der jährlichen Bewerbungen auf eine Lebenszeitprofessur. Als weitere Indikatoren für einen Mangel an bürgerlicher Gelassenheit können zudem die Anzahl an Bewerbungen auf dem außerakademischen Arbeitsmarkt sowie das parallele Beschreiten zweier Karrierewege gelten. Bei letzterem wird überprüft, ob sich die Juniorprofessor*innen sog. bildungsferner Herkunft vergleichsweise häufiger habilitieren. Da eine zusätzliche Habilitation jedoch keinen fächerübergreifenden Einfluss auf die Übergangschancen von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur nimmt (Zimmer 2018), ist dieser Indikator, wie auch die außerakademischen Bewerbungen, lediglich Teil der deskriptiven Analysen. Hinsichtlich des Faktors Arbeitseifer wird der Publikationsoutput der Juniorprofessor*innen herangezogen. Um den Einfluss unterschiedlicher fachkultureller Publikationskulturen zu minimieren, werden die durchschnittliche Anzahl an Publikationen insgesamt sowie Konferenzbeiträge insgesamt als Indikatoren gewählt. Um die Ungerichtetheit des Arbeitseifers erfassen zu können, wird zusätzlich überprüft, ob sich die sog. Bildungsaufsteiger*innen auch vergleichsweise häufiger in der Doktorand*innenbetreuung und der universitären Selbstverwaltung engagieren. Da von diesem Engagement bestenfalls ein geringer Einfluss auf die Berufungschancen erwartet wird, werden lediglich deskriptive Unterschiede in der Verteilung analysiert. Als Indikator für die asketische Lebensführung wird die während der Juniorprofessur genommene Elternzeit in Monaten integriert. Wie bereits dargestellt, kann nicht zwangsläufig von einem höheren Ausmaß an Kinderlosigkeit unter den sog. Bildungsaufsteiger*innen ausgegangen werden, gleichwohl wird angenommen, dass die zeitlichen Investitionen von Extremaufsteiger*innen in die Familienarbeit geringer ausfallen.
Neben den erklärenden Variablen wird zusätzlich eine Reihe von Kontrollvariablen in die Hauptanalyse aufgenommen. Eine zentrale Kontrollvariable stellt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fächergruppe dar. Die Chancen für einen Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur variieren zwischen den Fächergruppen, was vor dem Hintergrund der zuvor dargestellten, nicht-zufälligen Verteilung der Extremaufsteiger*innen über die Fächergruppen zu artifiziellen Befunden führen würde. Als weitere Kontrollvariable wird das Geschlecht aufgenommen. Auch hinsichtlich des Geschlechts kann von einer ungleichen Verteilung zwischen den Angehörigen der niedrigsten und der sonstigen Bildungsherkunft ausgegangen werden (Möller 2015). Einen unweigerlichen Einfluss auf den Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur hat außerdem das Vorhandensein einer Tenure-Track-Option. Dabei zeigt sich, dass die von Extremaufsteiger*innen signifikant unterbesetzte Gruppe der Rechts- und Geisteswissenschaften signifikant seltener mit Tenure-Track-Optionen ausgestattet ist (Zimmer 2018). Da über den Schoenfeld Residuen-Test eine Interaktion zwischen dem Vorhandensein einer Tenure-Track-Option und der Verweildauer identifiziert wurde, wird die Zeitveränderlichkeit des Effekts ebenfalls in das Modell integriert. Über den Dummy Berufungskohorte (1 = bis einschließlich 2004 auf die Juniorprofessur berufen) wird zudem berücksichtigt, dass den Universitäten bis Ende 2004 erhebliche Mittel zur Förderung der Juniorprofessur durch den Bund bereitgestellt wurden. Es kann angenommen werden, dass die Förderung auch Einfluss auf die universitäre Personalpolitik hatte. Zudem kann ein möglicher Einfluss des erst Mitte der 2000er Jahre eingeführten Elterngeldes auf die Übernahme von Elternzeit kontrolliert werden. Schließlich wird zur Kontrolle der Opportunitätsstrukturen auf die selbsteingeschätzte universitäre Stellensituation im eigenen Arbeitsgebiet zurückgegriffen.
Im ersten Schritt der Analyse steht die Frage im Mittelpunkt, ob sich hinsichtlich der drei formulierten potenziellen Einflussfaktoren tatsächlich die angenommenen Unterschiede zwischen Extremaufsteiger*innen und Juniorprofessor*innen sonstiger Bildungsherkunft zeigen. Diese Frage zu ergründen, ist die Grundlage dafür, im zweiten Schritt der Analyse zu untersuchen, ob die Einflussfaktoren auch dazu beitragen, die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Übergang von der Juniorprofessur auf die Lebenszeitprofessur zu erklären.
Als zentrale Indikatoren für einen Mangel bürgerlicher Gelassenheit bei Extremaufsteiger*innen wurden erstens der vergleichsweise frühzeitige Beginn des Bewerbens auf eine Lebenszeitprofessur – und zwar bereits vor der Zwischenevaluation – und zweitens eine vergleichsweise hohe Anzahl an Bewerbungen auf Lebenszeitprofessuren identifiziert. Die Annahme ist, dass sich beide Faktoren positiv auf die Berufungschancen von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur auswirken und – weil sie von Extremaufsteiger*innen „übererfüllt" werden – sich damit die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren erklären lässt.
Der Vergleich zwischen der Juniorprofessor*innenschaft sog. niedriger Bildungsherkunft und sonstiger Bildungsherkunft zeigt: Extremaufsteiger*innen bewerben sich mit 61 % deutlich häufiger bereits vor der Zwischenevaluation auf Lebenszeitprofessuren im Vergleich zu Juniorprofessor*innen sonstiger Bildungsherkunft (48 %). Auch bewerben sich Extremaufsteiger*innen mit im Schnitt 9,1 Bewerbungen deutlich häufiger auf Lebenszeitprofessuren. Der Mangel an bürgerlicher Gelassenheit zeigt sich aber nicht allein im Bewerbungsverhalten auf dem akademischen Arbeitsmarkt: Mit durchschnittlich 1,7 Bewerbungen bewerben sich Extremaufsteiger*innen auch über dreimal häufiger auf dem außeruniversitären Arbeitsmarkt (vgl. Tab. 1).
Tab. 1: Korrelationen/T-Tests: Ausmaß und Verteilung der Indikatoren des Faktors Mangel einer bürgerlichen Gelassenheit nach Bildungsherkunft
Anteil Bewerbungsstart vor der Zwischenevaluation1 Bewerbungen im akademischen Bereich (Ø)2 Bewerbungen im nichtakademischen Bereich (Ø)3 Anteil Habilitationen4 niedrige Bildungsherkunft (A) 5 61 % 9,1 1,7 15 % sonstige Bildungsherkunft (B) 48 % 6,3 0,5 10 % Korrelation Phi=0,09, p=0,129 Phi=0,06, p=0,340 T-Test: p (A>B) 0,043 0,039
Quelle : Juniorprofessor*innen-Befragung 2015, N=288.
Als weiteres Indiz für einen Mangel an Gelassenheit kann das mühsame Durchlaufen von zwei parallelen Karrierewegen zur Professur gelten, auch wenn hiervon keine höheren Berufungschancen auf eine Lebenszeitprofessur zu erwarten sind (vgl. zur Bedeutung einer zusätzlichen Habilitation z. B. [
Insgesamt weisen die gewählten Indikatoren also durchaus auf eine vergleichsweise geringere Gelassenheit unter Extremaufsteiger*innen hin.
Als Indikatoren für einen ungerichteten Arbeitseifers wurden Publikationen und Konferenzbeiträge herausgearbeitet. Von beiden Leistungsmarkern kann ein positiver Effekt auf die Berufungswahrscheinlichkeit erwartet werden.
Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, weisen die Extremaufsteiger*innen erwartungskonform im Durchschnitt nicht nur mehr Publikationen, sondern auch mehr Konferenzbeiträge pro Jahr auf. Den theoretischen Ausführungen folgend kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass sich der ungerichtete Arbeitseifer und Fleiß der Extremaufsteiger*innen gezielt auf die Akkumulation wertvollen Kapitals – wie etwa Publikationen oder Konferenzbeiträge – beschränkt. Als empirisches Indiz dafür, dass sich das Arbeitsethos des Elternhauses eher ungerichtet auswirkt, kann gelten, dass sich die Extremaufsteiger*innen durchschnittlich auch stärker in Hochschulgremien sowie in der Doktorand*innenbetreuung engagieren (vgl. Tab. 2).
Tab. 2: T-Tests: Ausmaß und Verteilung der Indikatoren des Faktors ungerichteter Arbeitseifer nach Bildungsherkunft
Publikationen insgesamt (Ø/Jahr)1 Konferenzbeiträge (Ø/Jahr)1 Engagement Hochschulgremien (Skala)2 Engagement Doktorand*innen-betreuung (Skala)2 niedrige Bildungsherkunft (A)3 3,4 2,8 4,1 5,6 sonstige Bildungsherkunft (B) 3,1 2,6 3,9 4,9 T-Test: p (A>B) 0,172 0,287 0,212 0,036
Quelle : Juniorprofessor*innen-Befragung 2015, N=283–287.
Bezüglich der asketischen Lebensführung wurde vor allem eine geringere Investition in die Familienarbeit als Indikator herausgearbeitet.
Tabelle 3 weist darauf hin, dass sich hinsichtlich des Ausmaßes und der Verteilung einer Elternschaft nicht nur Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen zeigen, sondern auch deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede innerhalb der Gruppe der Extremaufsteiger*innen. Während der Anteil an Mutterschaft in der Gruppe der Extremaufsteigerinnen signifikant höher ist im Vergleich zu den Juniorprofessorinnen sonstiger Bildungsherkunft, zeigt sich bei den Männern im Sample das eher umgekehrte Bild. Hier ist der Anteil an Vaterschaft in der Gruppe der Extremaufsteiger vergleichsweise geringer. Analog hierzu verhält es sich, wenn man die durchschnittliche Kinderanzahl in den Blick nimmt. Mit durchschnittlich 2,1 Kindern unterscheidet sich der Mittelwert der Mütter mit niedriger Bildungsherkunft signifikant vom durchschnittlichen Mittelwert der Mütter mit sonstiger Bildungsherkunft, der bei 1,5 Kindern liegt. Bei den Vätern liegt die durchschnittliche Kinderanzahl in der Gruppe der Extremaufsteiger kaum unter jenem der Väter mit sonstiger Bildungsherkunft.
Tab. 3: Korrelationen/T-Tests: Ausmaß und Verteilung von Elternschaft nach Geschlecht und Bildungsherkunft
Anteil Elternschaft Anzahl Kinder (Ø)1 niedrige Bildungsherkunft (A)2 77 % 56 % 63 % 2,1 1,9 2,0 sonstige Bildungsherkunft (B) 51 % 61 % 57 % 1,5 2,0 1,8 Korrelation Phi=0,18, p=0,075 Phi=0,04, p=0,610 Phi=0,04, p=0,525 T-Test: p (A>B) 0,028 0,719 0,262
Quelle : Juniorprofessor*innen-Befragung 2015, N=285.
Im Zentrum des Faktors einer asketischen Lebensführung stand jedoch weniger die Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß und der Verteilung von Elternschaft, sondern vielmehr die Frage, ob extreme Bildungsaufsteiger*innen weniger Zeit in eine aktive Familienarbeit investieren. Tabelle 4 macht erwartungskonform deutlich, dass die Extremaufsteiger*innen – unabhängig vom Geschlecht – seltener Elternzeit nehmen. Im Fall der Frauen ist der Mittelwertunterschied auch statistisch signifikant. Noch deutlicher unterscheiden sich die Bildungsaufsteiger*innen von ihren Kolleg*innen sonstiger Bildungsherkunft hinsichtlich der durchschnittlichen Dauer der Elternzeit: Mit 0,9 Monaten gegenüber 2,0 Monaten ist der Mittelwertunterschied der in Anspruch genommenen Elternzeit unter Extremaufsteiger*innen signifikant geringer, was vor allem auf die Extremaufsteigerinnen zurückzuführen ist.
Tab. 4: Korrelationen/T-Tests: Ausmaß und Verteilung einer aktiven Familienarbeit nach Geschlecht und Bildungsherkunft
Anteil Elternzeit (Eltern) Dauer der Elternzeit in Monaten (Ø)1 niedrige Bildungsherkunft (A)2 30 % 7 % 17 % 1,8 0,4 0,9 sonstige Bildungsherkunft (B) 60 % 11 % 27 % 4,9 0,7 2,0 Korrelation Phi=0,23, p=0,096 Phi=0,04, p=0,662 Phi=0,05, p=0,433 T-Test: p (A<B) 0,087 0,309 0,097
Quelle : Juniorprofessor*innen-Befragung 2015, N=159.
Vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen können die vorliegenden Befunde ein Hinweis dafür sein, dass sich die Extremaufsteigerinnen bei der Frage, ob eine Mutterschaft eingegangen wird, an den herrschenden Fertilitätsmustern ihres Herkunftsmilieus orientieren. Knapp drei Viertel dieser Gruppe sind zum Zeitpunkt der Juniorprofessur (bereits) Mutter. Gleichwohl investieren sie im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossinnen sonstiger Bildungsherkunft deutlich weniger Zeit in die Familienarbeit. Insgesamt zeigt sich also durchaus ein Muster geringerer Investitionen in eine aktive Familienarbeit.
Die ersten bivariaten Korrelationsanalysen zeigen bei allen drei theoretisch abgeleiteten Faktoren weitgehend die erwarteten Unterschiede zwischen Extremaufsteiger*innen und ihren Kolleg*innen sonstiger Bildungsherkunft. Die Frage im zweiten Schritt der Analyse ist, ob sich über diese Unterschiede auch die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit beim Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur statistisch belastbar erklären lässt. Um einen ersten Eindruck von der Wahrscheinlichkeit des Übergangs auf eine Lebenszeitprofessur nach Bildungsherkunft zu erhalten, bietet sich zunächst der vergleichende Blick auf die jeweiligen Survivorfunktionen an (Abb. 3). Die Survivorfunktion gibt die geschätzte Entwicklung des Anteils (noch) nicht auf eine Lebenszeitprofessur berufener (ehemaliger) Juniorprofessor*innen ab Start der Juniorprofessur (time at risk) an.
Abbildung 3 zeigt, dass den Extremaufsteiger*innen der Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur offensichtlich nicht nur häufiger, sondern im Vergleich mit ihren Kolleg*innen sonstiger Bildungsherkunft auch schneller gelingt. Die insgesamt höhere Übergangswahrscheinlichkeit der Extremaufsteiger*innen erstreckt sich ab Monat 0 (Start der Juniorprofessur) über den gesamten Analysezeitraum. Nach 72 Monaten – und damit nach Ablauf der in der Regel auf 6 Jahre befristeten Juniorprofessur – sind gut 75 % der Juniorprofessor*innen niedriger Bildungsherkunft bereits auf eine Lebenszeitprofessur berufen worden, während es unter den Juniorprofessor*innen sonstiger Bildungsherkunft knapp 50 % sind. Der Unterschied zwischen den Survivorfunktionen ist signifikant (Log-Rank-Test: chi
Graph: Abb. 3: Survivorfunktionen (Kaplan-Meier-Schätzer): Anteil der noch nicht auf eine Lebenszeitprofessur berufenen Juniorprofessor*innen im Analysezeitraum nach BildungsherkunftQuelle: Juniorprofessor*innen-Befragung 2015.Anmerkung: Monat 0 = Antritt der Juniorprofessur; Log-Rank-Test: chi2=4,5, p<0,05, N=309.*beide Elternteile verfügen höchstens über Volks- bzw. Hauptschulabschluss.
Dieser zunächst kontraintuitive Befund verweist bereits darauf, dass es sich bei den Extremaufsteiger*innen im Feld der Wissenschaft um eine hochgradig selektive Gruppe handelt. Umso deutlicher stellt sich die Frage, welche Faktoren dazu beitragen, dass sie sich nicht nur über alle Selektionshürden des Bildungs- und Hochschulsystems hinweg erfolgreich durchsetzen konnten, sondern beim Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur sogar eine vergleichsweise höhere Übergangsrate aufweisen.
Tab. 5: Cox-Regression: Einflussfaktoren der Berufung auf eine Lebenszeitprofessur
Extremaufsteiger*innen (=1)1 1,66* (0,34) 1,45 (0,34) 1,67* (0,35) 1,46 (0,32) Bewerbungsstart vor Zwischenevaluation (=1) 1,73** (0,34) 1,72** (0,35) # Bewerbungen auf Lebenszeitprofessuren/Jahr (log) 1,25* (0,11) 1,24* (0,11) # Konferenzbeiträge insgesamt/Jahr (log) 1,33+ (0,21) 1,37+ (0,22) # Publikationen insgesamt/Jahr (log) 1,06 (0,14) 1,04 (0,14) Elternzeit in Monaten (log) 0,58** (0,11) 0,60** (0,11) Fächergruppe (Referenz=Naturwiss./Mathematik) Rechts- und Geisteswissenschaften 0,90 (0,21) 0,95 (0,22) 1,00 (0,23) 0,88 (0,21) 0,96 (0,22) 0,90 (0,21) 0,97 (0,23) Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1,45+ (0,33) 1,34 (0,34) 1,40 (0,35) 1,46+ (0,34) 1,51+ (0,35) 1,49+ (0,35) 1,55+ (0,35) Technik- und Ingenieurwissenschaften 1,03 (0,32) 1,14 (0,33) 1,20 (0,35) 1,10 (0,36) 1,20 (0,38) 1,01 (0,33) 1,06 (0,34) Geschlecht (1=Frau) 0,87 (0,19) 0,94 (0,20) 0,97 (0,20) 0,88 (0,19) 0,92 (0,20) 1,11 (0,23) 1,13 (0,23) Tenure-Track-Option (=1) 0,18+ (0,14) 0,20* (0,14) 0,20* (0,14) 0,18* (0,13) 0,17* (0,13) 0,17* (0,13) 0,17* (0,13) Kohorte (1=Antritt der JP bis einschließlich 2004) 0,80 (0,16) 0,67* (0,14) 0,70+ (0,15) 0,73 (0,14) 0,77 (0,15) 0,66+ (0,14) 0,70+ (0,15) Stellensituation (1 0,71*** (0,05) 0,70*** (0,05) 0,70*** (0,05) 0,72*** (0,05) 0,72*** (0,05) 0,70*** (0,05) 0,70*** (0,05) Tenure-Track-Option (=1) 1,05** (0,02) 1,05** (0,01) 1,05** (0,01) 1,05** (0,01) 1,05** (0,01) 1,05** (0,02) 1,05** (0,02) N 309 309 309 309 309 309 309 vollständige Fälle 282 295 276 297 278 281 269 Wald Chi² (vollständige Fälle) 39,47*** 74,42*** 78,87*** 32,93*** 43,78*** 39,53*** 40,54***
Quelle : Juniorprofessor*innen-Befragung 2015.
Anmerkung : Hazard Ratios und robuste Standardfehler in Klammern; Datenaufbereitung mit Hilfe multipler Imputation; Berechnungen auf Basis der vollständigen Fälle ergeben nur kleine Abweichungen und können bei der Autorin angefragt werden; +p<0,1, * p<0,05, **p<0,01, ***p<0,001
Fügt man im Rahmen der Hauptanalyse zunächst lediglich die Herkunft aus der niedrigsten Bildungsherkunftsgruppe als erklärende Variable ein, dann bestätigt sich das Bild, welches bereits über den vergleichenden Blick auf die Survivorfunktionen gewonnen wurde: Der Extremaufstieg erhöht die Wahrscheinlichkeit auf eine Lebenszeitprofessur berufen zu werden signifikant (Tab. 5, Modell 1). Um sich der Frage zu nähern, ob die drei herausgearbeiteten Faktoren Mangel bürgerlicher Gelassenheit, ungerichteterArbeitseifer sowie asketische Lebensführung diesen Haupteffekt mediieren, werden im Folgenden jeweils separate Modelle berechnet (Tab. 5, Modelle 2a bis 4b).
Mit den Modellen 2a und 2b wird überprüft, ob die theoretisch hergeleiteten Indikatoren des Faktors Mangel bürgerlicher Gelassenheit grundsätzlich die erwarteten Effekte auf die Berufungschancen von Juniorprofessor*innen beim Übergang auf eine Lebenszeitprofessur aufweisen – und zwar zunächst einmal unabhängig von ihrer sog. Bildungsherkunft. Aus Modell 2a wird deutlich, dass sich sowohl das frühzeitige Bewerben auf Professuren als auch die Anzahl an Bewerbungen signifikant positiv auf die Berufungschancen auswirken. Die Hinzunahme der sog. Bildungsherkunft in Modell 2b ändert dabei nichts an den Effekten der Mediatoren auf die Berufungswahrscheinlichkeit. Zudem zeigt sich, dass die beiden Mediatoren – der theoretischen Annahme entsprechend – den sog. Bildungsherkunftseffekt wie angenommen aufklären: Der positive Effekt eines Extremaufstiegs wird durch Kontrolle des Faktors Mangel an bürgerliche Gelassenheit insignifikant.
Analog zu diesem Vorgehen wird in den Modellen 3a und 3b die Bedeutung des Faktors ungerichteterArbeitseifer überprüft. Dabei zeigt sich zunächst einmal, dass zwar die Anzahl an Konferenzbeiträgen einen signifikanten Einfluss auf die Berufungschancen hat, die Anzahl an Publikationen jedoch in beiden Modellen insignifikant ist. Ein Erklärungsansatz liegt darin, dass sich die Gesamtzahl der Publikationen nicht in allen Fächergruppen gleichermaßen auszahlt und sich fächerspezifisch variierende Publikationskulturen nur schwer abbilden lassen. Vor dem Hintergrund der aufgestellten Hypothesen ist jedoch vor allem relevant, dass beide Indikatoren des ungerichteten Arbeitseifers den sog. Bildungsherkunftseffekt nicht mediieren: Der Extremaufsteiger*innen-Effekt bleibt in Modell 3b auch unter Kontrolle der Anzahl an Konferenzbeiträgen sowie Publikationen robust.
Schließlich wird in den Modellen 4a und 4b der angenommene mediierende Effekt des Faktors asketische Lebensführung überprüft. In beiden Modellen zeigt sich der erwartete signifikante negative Effekt der Elternzeitdauer. Zudem weist Modell 4b darauf hin, dass die dargestellte asketische Lebensführung der Extremaufsteiger*innen – mindestens im Hinblick auf die investierte Familienzeit – ihre höheren Berufungswahrscheinlichkeiten von der Junior- auf eine Lebenszeitprofessur erklären kann: Unter Kontrolle der Dauer der Elternzeit wird der Effekt eines Extremaufstieges insignifikant.
Dem theoretischen Rahmen entsprechend und auf Basis der vorliegenden Befunde können die Faktoren Mangel an bürgerlicher Gelassenheit sowie asketische Lebensführung als Mediatoren des festgestellten Extremaufsteiger*innen-Effekts beim Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur gelten. Extremaufsteiger*innen weisen demgemäß nicht nur bivariat einen Mangel an bürgerlicher Gelassenheit sowie eine asketische Lebensführung auf. Die Analyse liefert darüberhinausgehend empirische Evidenz dafür, dass diese beiden Faktoren direkten Einfluss auf die Berufungschancen der Extremaufsteiger*innen nehmen und damit zur Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Übergang von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur – und schlussendlich zu sozialen Aufstiegen in der Wissenschaft – beitragen.
Die bivariaten Analysen liefern zudem Hinweise für einen ungerichteten Arbeitseifer in der Gruppe der Extremaufsteiger*innen. Zumindest auf Basis der Operationalisierung über die Indikatoren „Anzahl an Konferenzbeiträge" sowie „Anzahl an Publikationen" konnte jedoch kein mediierender Effekt auf die Berufungswahrscheinlichkeit der Extremaufsteiger*innen festgestellt werden.
Der Blick in autobiografische Erzählungen von Wissenschaftler*innen sog. bildungsferner Herkunft macht deutlich wie vielfältig Bildungsaufstiege und wie individuell die damit verbundenen Geschichten sind. Trotz dieses hohen Ausmaßes an Diversität konnte unter Rückgriff auf die macht- und ungleichheitssoziologischen Ausführungen Bourdieus eine Systematisierung der anekdotischen Evidenzen erfolgen, über die schließlich drei zentrale Erklärungsfaktoren für die Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit im Rahmen wissenschaftlicher Karrieren identifiziert wurden. Ungeachtet der feinen Unterschiede zwischen den individuellen Aufstiegsgeschichten zeigt sich erstens, dass es Extremaufsteiger*innen häufig an bürgerlicher Gelassenheit mangelt, die charakteristisch für jene ist, die mit den Erfordernissen des wissenschaftlichen Feldes bereits durch ihre Bildungsherkunft vertraut sind. Ausgehend von den enormen Investitionen und der damit einhergehenden hohen Fallhöhe, streben Extremaufsteiger*innen spätestens mit Eintritt in das wissenschaftliche Karrieresystem eine möglichst schnelle soziale und finanzielle Sicherung an. Das vermeintliche Defizit eines Mangels an Gelassenheit wird dann zu einer Ressource, wenn es in ein umfassendes und zielgerichtetes Bewerbungsverhalten übersetzt wird. Als zweiter Faktor konnte ein ungerichteter Arbeitseifer unter Extremaufsteiger*innen herausgearbeitet werden. Die hohe, aber letztlich ungerichtete Leistungsbereitschaft konzentriert sich nicht allein auf die Akkumulation der im Feld der Wissenschaft wertvollen Kapitalsorten. Aus theoretischer Perspektive zeigt sich hier der Versuch, den Mangel ererbten Kapitals über eine ausgeprägte Arbeitsethik zu kompensieren. Drittens konnten Einsichten in eine asketische Lebensführung von Extremaufsteiger*innen gewonnen werden. Sie zeigt sich empirisch in einer vergleichsweise geringeren Investition in eine aktive Familienarbeit – vor allem von Extremaufsteigerinnen. Die Aneignung der in der Wissenschaft notwendigen habituellen Denk- und Handlungsdispositionen erfordert ein hohes Maß an Ehrgeiz, was mit Entbehrungen und Anstrengungen in allen Lebensbereichen der Extremaufsteiger*innen verbunden ist, aber gleichzeitig zu ihrem erfolgreichen Aufstieg beiträgt. Schließlich weisen die empirischen Analysen darauf hin, dass sich zumindest der Mangel an Gelassenheit und die asketische Lebensführung direkt auf die Berufungswahrscheinlichkeit von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur auswirken und damit als Ressource von Extremaufsteiger*innen im Feld der Wissenschaft gelten können.
Um Hinweise darüber zu erhalten, welche Faktoren die unwahrscheinlichste Ausnahme der Regel der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Feld der Wissenschaft wahrscheinlich werden lassen, konzentrierte sich die vorliegende Analyse allein auf die hoch selektive Gruppe der Extremaufsteiger*innen. Dieser Konzentration ist es geschuldet, dass sich in der Vergleichsgruppe „sonstige Bildungsherkunft" ganz unterschiedliche Herkunftsbiographien subsumieren. Eine differenzierte Analyse etwa von Wissenschaftler*innen (groß-)bürgerlicher Herkunft lässt jedoch ebenfalls wichtige Erkenntnisse erwarten. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob und wie sich die angenommene kulturelle und soziale Vertrautheit mit der wissenschaftlichen Welt bei Angehörigen aus dieser Herkunftsgruppe darstellt.
Die vorliegenden Ergebnisse bieten darüber hinaus weitere vielfältige Anschlussmöglichkeiten für vertiefende Untersuchungen zu sozialen Aufstiegen in der Wissenschaft. Neben dem Rückgriff auf alternative theoretische Konzepte, wie etwa zur institutionellen Diskriminierung ([
Die Operationalisierung der theoretisch herausgearbeiteten Handlungs- und Einstellungsdispositionen folgt der Habitustheorie Bourdieus (vgl. Bourdieu & Wacquant 1996: 147–175), nach der habituelle Dispositionen selbst für die Forschung nicht unmittelbar zugänglich sind. Daher lag der Fokus vornehmlich auf aus den habituellen Dispositionen resultierenden Praktiken, wie etwa das Bewerbungs- und Publikationsverhalten oder auch die Fertilität. Aufbauend auf die hier in Anschlag gebrachte Indikatorik wäre jedoch auch ein Einbezug von Konstrukten aus der Persönlichkeitspsychologie gut denkbar. Der Faktor eines ungerichteten Arbeitseifers könnte dann beispielsweise nicht nur über ein sich hieraus ableitendes Publikationsverhalten erschlossen werden, sondern zusätzlich auch über ein latentes Konstrukt von Fleiß erfasst werden (in diesem Zusammenhang würde sich bspw. die Grit Scale for Perseverance and Passion for Long-Term Goals anbieten, vgl. [
Mit dem Mangel an bürgerlicher Gelassenheit, dem ungerichteten Arbeitseifer und einer asketischen Lebensführung fokussiert die Untersuchung drei potenzielle Faktoren für den Erfolg von Extremaufsteiger*innen in der Wissenschaft. Alle drei Faktoren zeugen davon, wie die Reproduktionsmechanismen des Feldes die Extremaufsteiger*innen unter Druck setzen, die Handlungs- und Einstellungsdispositionen ihrer Primärsozialisation als vermeintliche Defizite kompensieren und anpassen zu müssen. Dies weist auf die ausgeprägte Ambivalenz von Bildungsaufstiegen hin: Sozialer Aufstieg ist mit hohen Investitionen und Einschränkungen verbunden, die nicht nur auf die Karriereführung beschränkt sind, sondern sich bis in die private Lebensführung hinein ziehen. Hier zeigt sich die umfassende Wirkmacht der Reproduktionsmechanismen des Feldes der Wissenschaft.
Im Lichte dieser Wirkmächtigkeit sollen die vorgelegten Ergebnisse nicht als Rezept für eine kollektive und generalisierte Nicht-Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Wissenschaft missverstanden werden. Sie beschränken sich darauf zu zeigen, wie sich Ausnahmen von der Regel der Reproduktion sozialer Ungleichheit erklären lassen – nämlich über ebenso mühsame wie existenziell eingreifende Anpassungs- und Kompensationsstrategien Einzelner an die herrschenden Regeln des Feldes.
By Lena M. Zimmer
Reported by Author
Wichtigste Publikationen: Das Kapital der Juniorprofessur. Einflussfaktoren bei der Berufung von der Junior- auf die Lebenszeitprofessur, Wiesbaden 2018; Kleine Fächer im Fokus. Die Rolle der kleinen Fächer in der deutschen Hochschullandschaft (mit K. Bahlmann & S. Hoffmann), Handbuch Qualität in Studium, Lehre und Forschung 68, 2019: 1–22; Studieren in Deutschland zu Zeiten der Corona-Pandemie. Fachspezifische Besonderheiten des digitalen Studiums (mit M. Lörz & A. Marczuk), in: I. Neiske, J. Osthushenrich, N. Schaper, U. Trier, & N. Vöing (Hrsg.), Hochschule auf Abstand, Bielefeld 2021