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Das Recht der Angst.

Klein, Rebekka A.
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 70 (2022-06-01), Heft 3, S. 445-456
Online academicJournal

Das Recht der Angst 

Keywords: fear; religion; freedom; law; immunisation; dominance; body

Die Angst ist ein schlechter Ratgeber. Aber sie macht viele Dinge sichtbar, die man sich für gewöhnlich zu sehen verweigert.

Giorgio Agamben

Sofern es Sinn und Zweck des modernen Rechts ist, die Freiheit des Individuums zu sichern, und dieses moderne Recht also ein Recht der Freiheit ist, stellt sich die Frage, wie dieses Recht der Freiheit sich zur Angst verhält. Schließen ein freies Zusammenleben und Angst einander aus? Ist Angst etwas, was durch das

Recht in seiner Existenz in Frage gestellt oder aufgehoben wird? Oder geht sie mit dem Recht ein Bündnis ein und ist gar eine Kehrseite des Rechts? Ruft das Recht Angst hervor, produziert es Angst und gibt es ihr Nahrung, oder bildet es eine Form der Resilienz, der Absicherung gegen gesteigerte und eskalierende Angst aus? Inwiefern informiert die Angst des Menschen das Recht oder verhält es sich genau umgekehrt, d. h., bringt das Recht als eine Ordnung und Sicherung des Zusammenlebens eine eigene spezifische Angst des Menschen hervor?

In diesem Essay soll das Verhältnis von Recht und Angst in drei Schritten thematisiert werden. Zunächst wird die moderne Narration, dass Recht ein angstfreies und sicheres Zusammenleben von Menschen ermöglichen und sichern kann, kritisch beleuchtet. Dazu ist auf die mit der Erzählung vom Frieden durch Recht historisch in Zusammenhang stehende Narration von der Religion als einem Regime der Angst und der Angstverbreitung näher einzugehen und die religiöse Technik einer Eskalation der Angst genauer zu untersuchen (Abschnitt 1). Sodann wird das Recht im Gegenüber zur Religion, die eine Eskalation der Angst betreibt, als eine Ordnung der Immunisierung gegen die Angst gedeutet, d. h. als eine Technik der Herrschaftssicherung durch ‚Hereinnahme' und Inkorporation des feindlichen Anderen durch seine Spaltung (Isabell Lorey). Recht ist in dieser Perspektive nicht der Religion als einem Regime der Angst entgegenzusetzen, sondern stellt selbst eine bestimmte säkularisierte Version eines solchen Regimes der Angst dar (Abschnitt 2). Abschließend soll dann die sich in der pandemischen Gesellschaft der Gegenwart intensivierende Angst vor dem ‚Feind im Körper' genauer angesehen und das darin potenziell angelegte Ende eines auf Immunisierung und Normalisierung der Angst setzenden Regimes genauer bedacht werden (Abschnitt 3).

1 Religion als Regime der Eskalation der Angst

Die christliche Religion hat die Angst des Menschen stets als vitalen Urimpuls seines Lebens erkannt und anerkannt. Nicht zufällig ist sie daher immer wieder angeklagt worden, selbst „Aberglauben und Angst [hervorzubringen] oder zum Vehikel ihrer Verbreitung zu werden". In diesem Denkschema der Religionskritik wird der Religion ein Angstregime unterstellt, d. h., sie wird als eine Herrschaftstechnik angesehen, die sich der Angst und ihrer Verbreitung zum Zwecke der Herrschaft über den Menschen bedient. Einem solchen Regime der Angst wird

dann in einer aufgeklärt-modernen Lesart die Vernunft oder besser das Recht der Vernunft entgegengestellt, welches es vermag, ein angstfreies Zusammenleben und Zusammentreffen von Menschen zu ermöglichen. Inbegriff eines solchen Rechts der Vernunft ist die Orientierung des menschlichen Zusammenlebens an einer auf universelle Prinzipien gründenden Rechtsordnung. Diese sei es, welche den Anspruch auf eine für alle gleichermaßen lebbare Freiheit auch gegen reale Ein- und Beschränkungen sowie situativ auftretende Abweichungen normativ präsent zu halten vermöge. In dieser Sichtweise wird das Leben durch die normative Ordnung des Rechts nicht eingeschränkt, sondern vielmehr als ein Leben der Freiheit und als ein Zusammenleben in Freiheit allererst ermöglicht. Angst als ein menschlicher Affekt oder gar als eine eigenständige Haltung zur Wirklichkeit hat in dieser Sichtweise im Recht und in dem durch das Recht konstituierten Raum der Freiheit keinen Platz.

Das Recht erscheint vielmehr dezidiert als ein symbolisch konstituierter Raum der Angstfreiheit, der Absicherung des Lebens vor bürgerkriegsartigen Zuständen und damit verbundenen Existenzängsten um Leib und Leben, aber auch vor Willkür sowie Missbrauch und Betrug des menschlichen Vertrauens in das gegenseitige Wort. In seiner Konstruktion als kontrafaktischer ‚Raum der Angstfreiheit' bleibt das Recht jedoch – sofern nicht die Existenz der Angst als eines Grundmovens menschlichen Daseins an sich bestritten werden soll – paradoxerweise angewiesen auf ein Regime der Angst als seinen Gegenpol, von dem es sich absetzt und durch dessen Ausschluss es sich legitimiert und formiert.

Wenn die Religion also eine folgenschwere ‚Verbrüderung' mit der Angst pflegt, wie ihr immer wieder unterstellt worden ist, so ist zu fragen, warum sie dies tut und was sie in der Angst sieht, die sie so tief in ihre Lebensformen und -deutungen aufnimmt. Am Beispiel von zwei einflussreichen Interpretationen der Angst in der modernen Theologie und Religionsphilosophie soll die religiöse Affinität zur Angst bzw. das religiöse Verständnis eines tieferen Sinns der Angst genauer untersucht werden. Im Anschluss daran ist zu fragen, ob Recht und Religion sich in ihrem Umgang mit der Angst tatsächlich so fundamental unterscheiden, wie oft unterstellt wird, oder ob das Recht – ebenso wie die Religion – als spezifische Spielart eines Angstregimes gedeutet werden kann.

Die christliche Religion hat die Wirklichkeit und Unhintergehbarkeit der Angst des Menschen stets anerkannt. Und sie hat ihr durch die ihr eigene Kraft zur Negativität, zur Unterbrechung des Vertrauten und Sicheren hindurch einen produktiven Sinn abgewonnen: So gilt die Angst vor dem Unbekannten, dem Unverstehbaren, dem Unbegreiflichen und dem Bedrohlichen nicht nur als Grundsignatur einer Existenz, die ihre eigene Endlichkeit annimmt und begreift. Die Angst gilt auch als Lehrmeisterin zu einem wahren Leben, zu einer wahrhaftigen Existenz, die nicht in sich selbst verharrt, sondern über sich selbst hinausgeht und sich dem Transzendenten, dem Göttlichen, dem ‚ganz Anderen' einer in der Immanenz und Endlichkeit verharrenden Wirklichkeit öffnet. Nicht umsonst adelt sie der christliche Denker Søren Kierkegaard in seiner großen Studie zum Begriff Angst 1844 mit den Worten: „[J]e tiefer er sich ängstigt, desto größer [ist] der Mensch". Kierkegaard deutet die Angst in seinen Analysen geradezu als ein Tor zur wahren Freiheit, durch das der Mensch hindurchgehen muss, und versteht sie als „etwas, was [...] absolut bildet, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle Täuschungen an ihnen entdeckt". Im Hintergrund seiner Deutung steht somit nicht der Gegensatz von Freiheit und Angst, sondern gleichsam eine Komplizenschaft zwischen beiden, insofern die rechte Art, sich zu ängstigen, zum rechten Gebrauch der Freiheit der eigenen Existenz (der für Kierkegaard mit dem Glauben, aber nicht mit dem Christentum identisch ist) hinzuführen vermag.

Im Zentrum des christlichen Regimes der Angst steht somit die Anerkennung ihrer die Wirklichkeit einer endlichen Existenz transzendierenden Kraft. Als Inkarnation einer solchen Kraft kann die Angst in den Glauben hineingenommen werden, steht sie Vertrauen, Gewissheit und Verbindlichkeit als Inbegriffen des Glaubens nicht entgegen, sondern arbeitet ihnen zu. Dabei interessiert einen christlichen Denker wie Kierkegaard die Angst eben nicht bloß als ein religionsaffines Gefühl der menschlichen Psyche, sondern vor allem deshalb, weil sie anders als die Furcht keinen bestimmten Inhalt hat, sondern sich auf das Unbestimmte und Kontingente, auf die bloße Möglichkeit, dass etwas ist oder nicht ist, richtet. Kierkegaard spricht darum auch von einem „Nichts der Angst", von einer Entleerung ihres Gegenstandes, die dem Menschen jeden Anhalt an der Wirklichkeit nehme. Der Verlust des Wirklichen und das Sich-Verlieren in unendlichen Möglichkeiten des Seins und Nicht-Seins könne, so Kierkegaard, zum Motor einer religiösen Produktivität der Angst werden. Weil die Angst als Beziehung des Subjekts zum Nichts, zu einem radikalen Abgrund seines Selbstseins, unhintergehbar ist,

ist die einzige Art und Weise, in und mit ihr zu leben, der Sprung in den Glauben, d. i. die Antizipation einer Welt, in der das Mögliche nach dem Willen Gottes wirklich wird und darin seine beängstigende und bedrohende Qualität verliert. Angst wird somit von Kierkegaard als bildende Kraft für eine Existenz gedeutet, die ihre Endlichkeit (noch) nicht hin auf das Göttliche und Ewige überschritten hat, aber in und durch die Angst zum Sprung in den Glauben ansetzen kann. So schreibt er am Schluss seiner Angststudie: „Mit Hilfe des Glaubens erzieht die Angst [...] dazu, in der Vorsehung zu ruhen."

Auch der evangelische Theologe Rudolf Otto hat im 20. Jahrhundert in seinem Buch Das Heilige (1936) das Gefühl der Angst der Sache, nicht dem Begriff nach als konstituierendes Moment eines Zugangs zum Heiligen, Erhabenen und Übersinnlichen beschrieben. In seiner Studie über das irrationale Moment des religiösen Gottesgedankens und Gottesverhältnisses verweist er darauf, dass es die Religion nicht nur mit rational fassbaren Gottesgedanken und begrifflich ausgefeilten Gotteslehren, sondern auch mit der eigentümlichen Realität eines rational nicht begreifbaren ganz Anderen zu tun habe. Dies sei ihr ‚numinoses' Element, wie Otto es nennt. In religiösen Erfahrungen nehme der Mensch primär zu heiligen Objekten Kontakt auf und erkenne in ihnen eine Realität des Übermächtigen außerhalb seiner selbst an. Diese Anerkenntnis des Heiligen gründet nach Otto nun anthropologisch allein im Fühlen des Menschen und nicht in seinem Verstand, da ihr kein klarer begrifflicher Ausdruck gegeben werden könne. Aus diesem Grund könne der Mensch zu Gott als einem erhabenen und übersinnlichen Objekt im Rahmen seines rationalen Weltumganges und seines Vermögens zur begrifflichen Erfassung der Wirklichkeit keinen Zugang haben, während sich ihm die volle Realität des Gottseins Gottes im Fühlen sicher und gewiss erschließe.

Der Sinn des Menschen für das Göttliche als einer Realität außerhalb seiner selbst wird nun nach Otto in einem Gefühl eigener Art manifest. In Modifikation der berühmten Diktion Friedrich Schleiermachers, der von einem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl des Menschen als Grund der Religion sprach, nennt Otto dieses Gefühl das ‚Kreaturgefühl'. Das Kreaturgefühl sei kein Selbstgefühl, keine Wahrnehmung eines eigenen Zustandes – wie Schleiermacher sie mit seinem Abhängigkeitsgefühl beschrieben habe –, sondern ein Realitätsgefühl.

Letzteres sei durch das heilige Objekt geprägt, durch das es provoziert werde, und dergestalt verfasst, dass es stets ein irritierendes Zugleich von fascinans et tremendum, von anziehenden und abstoßenden, von ergreifenden und befremdenden Momenten aufweise.

Das Moment des tremendum, des Erschauerns, der (Ab-)Scheu und des Grauens in der Begegnung mit der ‚ganz anderen' Realität eines Heiligen ist nach Otto ein Reflex auf die majestas, die schlechthinnige Übermacht eben dieses nicht-natürlichen Objekts. Es ist gleichsam die eine Seite des Widerhalls der zwiespältigen Kontaktaufnahme des Menschen mit der Realität des Heiligen, die zugleich Öffnung für und Ausgesetztheit an die Übermacht desselben ist, und sich daher in einer spezifischen Mischform der lustvollen Angst oder der erregenden Scheu artikuliere. Das von Otto als tremendum benannte Moment des Fühlens eines Heiligen sei darum kein natürliches Gefühl, auch wenn es nur in Analogie zu den natürlichen Gefühlen verstanden werden könne. Es handele sich bei ihm nicht um die gewöhnliche Furcht des Menschen vor ‚etwas'. Vielmehr werde das natürliche Fühlen durch den übernatürlichen Gegenstand, durch das numinose Objekt, in ein Fühlen transformiert, das in Kontakt mit einer begrifflich und rational nicht fassbaren Wirklichkeit stehe. Dieses Fühlen eines mysterium tremendum, wie Otto die Erfahrung eines Heiligen umschreibt, könne nur in den primären Affekten des Menschen, die ohne rationalen Gefühlsinhalt sind, aufgesucht werden. Dem Erschauern, Fürchten und Sichängstigen des Menschen in ihrer Steigerung zur numinosen Angst spricht Otto deshalb zu, einen Zugang zum Heiligen, zur Wirklichkeit des Göttlichen, zu repräsentieren, die in diesem Fühlen nicht als ‚etwas', sondern als das ‚Nichts selbst' erkannt werde. Da sie „nicht nur das [sei,] was durch nichts besagbar ist [,] sondern das schlechthin und wesentlich Andere und Gegensätzliche zu allem [ist,] was ist und was gedacht werden kann". In diesem Sinne kann man der Angst in ihrer Beziehung auf ein numinoses Objekt nach Otto geradezu eine Offenbarungsqualität in Bezug auf die Überschreitung des Wirklichen, wie es der natürlichen Wahrnehmung und Erfahrung zugänglich ist, zuschreiben.

2 Recht als Regime der Immunisierung gegen die Angst

Inwiefern ist die Religion nun aber ein Regime der Angst? Inwiefern geht sie von einer Regierbarkeit der Angst, von einer Beherrschbarkeit oder zumindest einer Normalisierbarkeit ihrer Eskalationen und ihres Bezuges auf einen Abgrund, ein ‚Nichts' oder eine die Rationalität durchbrechende Irrationalität aus?

Die in der christlichen Religion der Angst zugesprochene dialektische Kraft zur Durchbrechung und Überschreitung, ja zum Verlust der Relation zur natürlichen Wirklichkeit durch eine Erkenntnis ihrer Nichtigkeit, Scheinhaftigkeit und rationalistischen Verengung wurde an zwei theologischen Deutungen der Angst, die im Horizont einer Modernisierung und Rationalisierung der christlichen Religion im 19. und 20. Jahrhundert formuliert worden sind, exemplarisch nachverfolgt. Angst zeigt sich im religiösen Deutungsmuster und in der religiösen Wirklichkeitssicht nicht als ein Gefühl, das in seinen Eskalationspotenzialen, wie sie sich etwa aus psychologischer Sicht in Angstneurosen oder Angstkaskaden zeigen, eingedämmt oder eingegrenzt werden müsste. Vielmehr ist es im Gegenteil die Eskalation der Angst über die rational beherrschbare Furcht, die einen konkreten Gegenstand und damit Anhalt an der Wirklichkeit hat, und damit über ein bloß natürliches Gefühl hinaus, die geradezu im Fokus des religiösen Regimes der Angst steht. Dieses setzt nicht auf die Abschaffung oder Ausgrenzung der Angst aus dem Leben, sondern strebt eine Steigerung der natürlichen Gefühle und Affekte der Angst an, und zwar nicht in Hinsicht auf ihre immer größere Klarheit und Reflektiertheit, also auf ihre rationale Bewältigung – und sei es auch nur in Richtung auf eine therapeutische ‚Transparenz' –, sondern in Hinsicht auf ihre vorrationale bzw. der Rationalität entgegenarbeitende und sie unterlaufende Potenz und Mächtigkeit.

Das Angstdispositiv der Religion strebt somit gerade nicht die Normalisierung der Eskalationen der Angst und der sich in ihr ausbildenden exzessiven Subjektivität an, sondern steigert ihre Negativität, ihren Wirklichkeitsverlust und ihren Bezug auf ein abgründiges Nichts, um eine sklavische Einbindung des Menschen in die Immanenz einer endlichen und zeitlichen Existenz zu verwinden und seine Sicht auf ‚ganz andere' Realitäten zu öffnen. Insofern kann das Regime der Angst, welches die Religion entfaltet, nicht als Regime der Verbreitung, aber auch nicht als Regime der Eindämmung, sondern am besten als Regime der paradoxen Intervention durch Steigerung der Angst in absurde Höhen beschrieben werden. Angst wird gleichsam potenziert und eskaliert, um sie und mit ihr den ‚Absolutismus' der gerade geltenden Wirklichkeitssicht zu depotenzieren – ohne Garantien für die Konsequenzen.

Wie verhält es sich nun aber auf der anderen Seite mit dem Recht und seinen normativen Ordnungen der Lebenssicherung und freiheitlichen Ausgestaltung menschlichen Zusammenseins? Inwiefern kann auch das Recht in seinem Verhältnis zur Angst – ebenso wie die Religion – als eine Herrschaftstechnik, als Versuch einer Regierung und Regulierung dieses Gefühls und Affekts beschrieben werden und wie geht es seinerseits mit der eskalierenden Dynamik und der ins Irrationale abgleitenden Performanz dieses menschlichen Urimpulses um?

Das Recht ist zunächst in seiner modernen Gestalt als eine Form der Normalisierung der menschlichen Natur und ihrer Affekte im Rahmen einer säkularen Ordnung sozialer Austausch- und Interaktionsbeziehungen anzusehen. Die normative Ordnung des positiven, von Menschen erschaffenen Rechts verzichtet auf den Bezug zu einer transzendenten Realität und stellt stattdessen eine Regierbarkeit des Menschen in Aussicht, die sich auf ein spezifisches neues Verständnis seiner Natur und genauer seines natürlichen, seines biologischen Körpers gründet. Ed Cohen hat dies in seiner Studie A Body Worth Defending (2009) in seinen Übertragungen zwischen moderner Medizin, Staatstheorie und Recht vom 17. bis ins 19. Jahrhundert genauer untersucht. Er sieht die moderne Bewegung einer Politisierung und Legalisierung der menschlichen Natur und genauer ihres biologischen Körpers in einer Säkularisierung des Menschen im Sinne der Einkehr in die Immanenz der menschlichen Natur begründet. Die moderne politische und rechtliche Ordnung sehe die menschliche Existenz nicht als eine auf Transzendierung und Überschreitung ihrer naturhaften Körperlichkeit und Materialität angelegte Existenz an, sondern schränke sie vielmehr auf die Verkörperung des Menschen in Raum und Zeit als unhintergehbare Realität seines Daseins ein. Der natürliche Körper des Menschen werde damit aus seiner vormodern ganz fraglosen, naturhaften Einbettung und nährenden Verbindung mit der ihn umgebenden materiellen Welt gelöst. In seine Materialität werde stattdessen ein agonistisches Muster der Selbstverteidigung und Immunisierung eingeschrieben: Der Körper erscheine nun als eine permanent zu verteidigende Festung und ein in sich geschlossener Organismus; er werde zum ersten Besitz des Menschen, an dessen Ort sein Recht auf Eigentum zuallererst verteidigt werden müsse. Im Herzen der politischen Ontologie der Moderne stehe darum der Körper als Besitz des Subjekts: „Taking care of our bodies has become the cultural equivalent of maintaining our capital." Der Körper selbst werde damit zur Kampfzone des Rechts auf Selbstverteidigung und Privateigentum und zugleich zu jener biopolitischen Formation, die ein Mensch vorweisen muss, um als eine Person mit Rechten angesehen werden zu können.

Wenn das moderne Recht verspricht, den Menschen als freies Subjekt in seiner Autonomie und körperlichen Unversehrtheit zu achten, sieht es diese Unversehrtheit zugleich nicht als Naturzustand an, sondern unterstellt, dass sie durch die Aufrichtung einer normativen Ordnung des Rechts erst hergestellt und abgesichert werden muss. Auch die durch das Recht errichtete Sphäre der Integrität der Person beruht, wie Cohen zeigt, auf einer bestimmten biopolitischen Konstruktion des natürlichen Körpers dieser Person. Der Körper wird nicht als eingebettet in die materielle Welt, sondern als agonistisch von ihr abgetrennt und abgegrenzt konstruiert. Damit entsteht aber allererst der Körper im modernen Sinne, der als Ort einer Spaltung, aber auch einer hybriden Verbindung von naturhaften und sozial-kulturellen Eigenschaften instituiert wird – als ein Ort, der nur dann unversehrt gedeihen kann, wenn er in seiner natürlichen Verletzbarkeit und in seiner Angreifbarkeit durch anderes Naturhaftes kulturell geschützt und biopolitisch verteidigt wird. Gegen die natürlichen Gefährdungen, die ihm drohen, muss er der modernen Logik zufolge permanent durch das Recht und seine normativen Ordnungen immunisiert und gesichert werden.

Diese Konstruktion eines modernen Körpers zeigt sich auch im Umgang mit der Angst als einem vitalen Urimpuls der Natur des Menschen. Auch sie wird unter den Verdacht gestellt, dem Personsein des Menschen und seiner schutzwürdigen Integrität und Unversehrtheit entgegenzuarbeiten. Die Angst kann in der modernen Begründung einer Rechtsordnung des menschliche Zusammenlebens zwar als ein natürliches Gefühl, als ein Instinkt oder Trieb des Menschen anerkannt werden, aber in ihrer eskalierenden Dynamik, die über eine Sicherung der biologischen Existenz des Menschen hinausgeht, kann sie zugleich nur pathologisiert und ausgeschieden werden, sofern ihr nämlich unterstellt wird, dass sie nicht wirklichkeits- und bewusstseinserweiternd, sondern zerstörerisch und verunsichernd auf den als Besitz betrachteten biologischen Körper, auf das Personsein des Menschen und damit auf die Ordnung des Zusammenlebens wirkt. Es kommt mit dieser Einordnung der Angst als einer potenziell bedrohlichen und gefährlichen Dynamik in der Natur des Menschen aber auch zu einer folgenreichen Spaltung der Angst, die in und durch diese Abspaltung zugleich ermächtigt wird, das Recht als normative Ordnung und kulturelle Praxis der Herstellung einer Sphäre der Integrität der Person wiederkehrend heimzusuchen und herauszufordern. Diese Dynamik einer Spaltung der Angst und einer Herausforderung des Rechts durch die abgespaltene Angst (d. h. ihre irrational-eskalierenden Anteile) kann mit Hilfe der durch Isabell Lorey im Anschluss an Michel Foucault und Roberto Esposito hervorgehobenen Strategie einer Immunisierung näher erläutert werden.

In ihrer Studie zu den Figuren des Immunen (2011) hat Lorey die Immunisierung als eine Technik der Herrschaftssicherung beschrieben, die durch Hereinnahme des feindlichen Anderen und durch seine Spaltung charakterisiert werden kann. Sie entwickelte sich im 18. Jahrhundert als Ergebnis einer Verbindung von medizinischem Wissen und Strategien politischer Macht:

Die biopolitische Immunisierung erhält ihre Spannung über die Dynamik der Hereinnahme, das heißt, diese Figur des Immunen ist gekennzeichnet durch die Inkorporation und Neutralisierung des einen (heilenden und schützenden) Teils der gespaltenen Gefahr sowie der Ausgrenzung des anderen Teils, der als nicht integrierbar und weiterhin gefährlich erklärt wird.

Lorey beschreibt die Bewegung der Hereinnahme zugleich als ein Dispositiv der Sicherheit, das die Regierbarkeit darüber herstellt, dass es die Bewegung der Hereinnahme als potenziell schützend und zerstörend zugleich auszeichnet. Sie komme einer Pharmakologie gleich, die das Kranke und Bedrohende nicht mehr nur abwehre, sondern in seiner Produktivität in Teilen auch nutze. Dies führe allerdings dazu, dass dieser Prozess gleichsam zu einem Selbstläufer werde. Denn das als bedrohlich und gefährlich Identifizierte werde damit zum inneren Moment des dergestalt immunisierten individuellen wie kollektiven Körpers. Dies erzeuge zunächst Ambivalenz: denn das Bedrohende zirkuliere damit im Inneren des Körpers weiter und sei nicht mehr so einfach als Feind, der von außen kommt, ab- und ausgrenzbar. Die ‚funktionale Einverleibung' des natürlichen Feindes des Körpers soll der Neutralisierung, der Unschädlichmachung desselben dienen und ist am Ende doch eine Kontamination und Vermischung. Die Idee einer produktiven Nutzung des Feindes für die Organisation und Reproduktion des Eigenen verlange es deshalb, vom Ideal einer vollständigen Kontrolle über die Natur des Menschen und über den Körper Abschied zu nehmen. Die mit der Immunisierung verbundene Hereinnahme des Anderen in das Eigene bewirke damit tendenziell das Gegenteil von einer Sicherung und Beruhigung des Lebens. Sie führe zu einer Unruhe im Inneren des Körpers und zu einer steigenden Verunsicherung, die durch die Herausbildung von Selbstregierungstechniken und institutionellen Sicherungen nur noch gesteigert werde. Denn die immunisierende Hereinnahme des Feindes bewirke niemals Kontrolle oder Sicherheit, da sie „nie zu einem Abschluss kommen kann". Dies führe am Ende dazu, dass Sicherheit und Bedrohung sich wechselseitig bedingen und hervorbringen.

3 Der Feind im Körper und das Recht der Angst

Die Überlegungen haben versucht deutlich zu machen, dass Religion und Recht als zwei – wenn auch nicht gleichgeartete – Regimes der Angst gedeutet werden können. Während die Religion die Angst im Horizont einer Öffnung und Überschreitung der natürlichen Wirklichkeit für eine ganz andere Realität zu (de-) potenzieren sucht, betreibt das Recht eine Spaltung der Angst, die zwar nicht auf Kontrolle, aber doch auf Neutralisierung ihres als Bedrohungspotenzial wahrgenommenen eskalierenden und irrationalen Anteiles setzt. Es ist demnach das Recht und nicht die Religion, das zur Stärkung und Verbreitung der Angst beiträgt, indem es sie spaltet und sie damit in ihrer Bedrohlichkeit selbst hervorbringt, um sich an ihr produktiv zu nähren. Die Religion ist es hingegen, die paradoxe Steigerungen der Angst hervorbringt und mit offenen Konsequenzen eine ebenfalls produktive Verunsicherung über das Wirkliche betreibt.

Die Erzählung der potenziell schützenden Hereinnahme der Angst durch ihre Befriedung zum Risiko, das wir im Rahmen gesicherter Rechtsverhältnisse eingehen können, wiederholt sich in der gegenwärtigen Narration einer Immunisierung der Bevölkerung zum Schutz gegen die Gefahren einer Pandemie. Der in einer pandemischen Situation ausgerufene Kampf aller gegen alle, der sich gegen den ‚Feind im Körper', gegen das omnipräsente Virus richtet, das den Menschen an jeder Straßenecke erwarten und töten kann, erzeugt zunächst eine zur leeren Panik eskalierte Angst. Die im Bürgerkrieg aller gegen alle zur Panik gesteigerte Angst kann der Narration folgend jedoch erst dann eingedämmt werden, wenn eine Strategie der biopolitisch wie medizinisch gleichermaßen durchgeführten Immunisierung greift. Zugleich hat die Narration dieses Szenarios mit einem Bürgerkrieg der Panik gegen das Virus auf der einen und einer Immunisierung durch schützende Hereinnahme des Virus auf der anderen Seite (Masken, Impfungen, Testungen als Schutz und Aufrechterhaltung der Bedrohung zugleich) den Preis, dass – wie Lorey richtig beschrieben hat – die Bedrohung permanent neu hervorgebracht und intensiviert werden muss, um herausgefordert zu werden und sich verteidigen zu können. Es ist ein Teufelskreis, den die gegenwärtige Politik nur verlassen kann, wenn sie das Recht als ein Recht auf Integrität der Person im Sinne der Unversehrtheit ihres Körpers nicht mehr zu gebrauchen lernt.

Literatur 1 Agamben, G. (2021), An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, übers. v. Romanini, F., Wien. 2 Cohen, E. (2009), A Body Worth Defending. Immunity, Biopolitics, and the Apotheosis of the Modern Body, Durham, N. C. 3 Kierkegaard, S. (1984), Der Begriff Angst, übers. v. Rochol, H., Hamburg. 4 Lorey, I. (2011), Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich. 5 Otto, R. (2014), Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, hg. v. Lauster, J., u. Schüz, P., München. 6 Schleiermacher, F. D. E. (1999), Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt [1830/31], 2. Aufl., hg. v. Redeker, M., Berlin. Footnotes [1] , 26. Ebd., 35–36. Im Blick auf eine historische Verortung der in diesem Abschnitt dargestellten Sichtweise wird üblicherweise auf die moderne Theorie des Staates verwiesen, wie sie in Thomas Hobbesʼ Leviathan grundgelegt wurde. Inwiefern diese historische Zuordnung berechtigt ist, diskutiert der Beitrag von Jochen Bung in diesem Schwerpunkt. [3] , 171. Ebd. Ebd., 65 u. passim. 7 Vgl. ebd., 64. 8 Ebd., 178. 9 [5]. Vgl. ebd., 5–7. Vgl.[6]. Vgl.[5] , 8–12. Vgl. ebd., 11. Vgl. ebd., 22–27. Vgl. ebd., 15. Vgl. ebd., 14–22. Ebd., 34–35. [2]. Vgl. ebd., 10. Vgl. ebd., 8. Vgl. ebd., 14–15. [4]. Vgl. ebd., 266. Vgl. ebd., 260–261. Ebd., 277.

By Rebekka A. Klein

Reported by Author

Titel:
Das Recht der Angst.
Autor/in / Beteiligte Person: Klein, Rebekka A.
Link:
Zeitschrift: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 70 (2022-06-01), Heft 3, S. 445-456
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0012-1045 (print)
DOI: 10.1515/dzph-2022-0027
Schlagwort:
  • ANXIETY
  • Subjects: ANXIETY
  • body
  • dominance
  • fear
  • freedom
  • immunisation
  • law
  • religion
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: English
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Ruhr-Universität Bochum, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universitätsstraße 150, GA 8/139, 44801 Bochum, Germany
  • Full Text Word Count: 3981

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