Uta von Arnim, Das Institut in Riga. Die Geschichte eines NS-Arztes und seiner „Forschung". 2021 Nagel & Kimche Verlag AG Zürich, 978-3-312-01244-2, € 22,–
Familiengeschichten – Geschichte in Familien zu spiegeln – haben Konjunktur. So ist beispielswiese vor kurzem Eva Dahlgrens Buch über ihren Großvater, den schwedischen Rassenbiologen K. V. Ossian Dahlgren ins Deutsche übersetzt worden. Der Vorteil des Genres ist es, dass Geschichte deutlich näher an die Leserinnen und Leser rückt: „Auch mein Großvater war/hätte... sein können". Ein weiterer Vorzug ist, dass solche Texte deutlich literarischer geschrieben werden dürfen als eine wissenschaftliche Analyse, selbst fiktionale Elemente haben ihren Platz und machen die Lektüre damit anschaulicher. Für Wissenschaftler sind diese Texte durchaus ergiebig, z. B. als Zeugnisse familiärer NS-Aufarbeitung oder als biografische Täterskizzen.
So hat auch die Berliner Ärztin Uta von Arnim sich in die Geschichte ihres Großvaters, des Arztes Herbert Bernsdorff, und dessen Familie vertieft. Es ging ihr wie unzähligen Kindern und Enkeln: „Dass mein schöner Opa [so nannte sie ihn als Kind] Hunderten, Tausenden, Hunderttausenden eine tödliche Hölle bereitet haben könnte, halte ich [zu Beginn der Recherchen] für undenkbar" (S. 112). Sie nennt ihr Buch „eine Spurensuche", und dieser ergänzende Untertitel trifft es recht genau. Wir erfahren Details über Bernsdorffs Aufstieg, seine Rolle im NS-Gesundheitswesen und der Fleckfieberforschung in einem Institut zur Serumsforschung in Kleistenhof bei Riga, aber auch über das Familienleben sowie Flucht, Entnazifizierung und Nachkriegskarriere. Das liest sich flüssig, ist gleichwohl durch 522 Endnoten und Archivrecherchen untermauert.
Bernsdorff gestaltete 1941 die NS-Gesundheitspolitik für das Baltikum und einen großen Teil Weißrusslands. Er ließ in Kleistenhof Versuche an Menschen durchführen, um ein Vakzin gegen das Fleckfieber zu entwickeln. An internierten Juden wurden widerwärtige Menschenversuche durchgeführt. Sie mussten Tausende von Läusen mit Blut anfüttern bzw. wurden mit Erregern infiziert, um die entwickelten Impfstoffe zu testen. Nach der Flucht führte der Großvater ein drakonisches Regiment in der Familie, er besorgte sich standardisierte Entlastungsschreiben und durfte ab 1948 wieder als Arzt praktizieren. 1950 kaufte er sich ein Auto; sie waren, schreibt von Arnim, keine Flüchtlinge mehr.
Für mich ist die Geschichte freilich nicht richtig rund geworden. Von Arnim thematisiert ihre Spurensuche in den Archiven und bei Zeitzeugen, insbesondere auch die offenen Fragen, die sie – der Quellenlage geschuldet – nicht klären kann. Deshalb aber bleibt zu viel bloß angetippt. Die Familiengeschichte ist interessant, erhellt aber weder die Geschichte des Instituts noch die Herbert Bernsdorffs. Von Arnim springt zu sehr zwischen einzelnen Episoden und unterschiedlichen Protagonisten, die nicht unbedingt miteinander zu tun hatten, und zwischen der Institutsgeschichte und Bernsdorffs Biografie. Schon die manchmal nur einen kurzen Satz umfassenden Absätze spiegeln das Fragmentarische der Überlieferung, aber die Splitter bleiben für sich stehen, sie fügen sich nicht zu einem Kaleidoskop. Einmal kürzt sie einen unklaren Krankheitsfall abrupt ab: „[Krankenschwester] Hildegard Lehmann ist nicht geflohen. Sie hat als einzigen Ausweg gesehen, eine Überdosis Schlaftabletten zu nehmen" (S. 101). Die drei Seiten zuvor geben dieses apodiktische Urteil nicht her. Später referiert sie über Seiten einen Roman Percy Gurwitz' („Versuchskaninchen" in Kleistenhof), der lange nach dem Krieg und wider besseres Wissen ein absurdes Loblied auf Bernsdorff und Fritz Steiniger (Versuchsleiter im Institut) anstimmte, ohne dass von Arnim die Hintergründe klären kann. „Viele Fragen bleiben offen" (S. 145) als Fazit finde ich zu unbefriedigend für solche Abschnitte. Es hätte drei Alternativen gegeben: diese Passage zu kürzen, mehr Material zu finden oder die Möglichkeiten kontrollierter Fiktion zu nutzen, wie das beispielsweise die Historikerin Natalie Zemon Davies und andere getan haben, d. h. durch Parallelfälle gestützt plausibel zu spekulieren. Der Schriftsteller Dieter Kühn hat mit seiner Oswald von Wolkenstein-Biografie dieses Verfahren, Fragmente und Mutmaßungen zu amalgamieren, glänzend auf die Spitze getrieben. Von Armins Buch bleibt für meinen Geschmack eine erzählerisch etwas unfertige Geschichte, aus der Historikerinnen und Historiker auch wissenschaftlich nur bedingt Nutzen ziehen können.
By Thomas Etzemüller
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