Zum Hauptinhalt springen

Sophie Schönberger, Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie. München, Beck 2021; Barbara Cassin, Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause? Berlin, Suhrkamp 2021.

Becker, Tobias
In: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-10-01), Heft 2, S. 557-560
Online review

Sophie Schönberger, Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie. München, Beck 2021; Barbara Cassin, Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause? Berlin, Suhrkamp 2021 

Sophie Schönberger, Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie. 2021 C. H. Beck München, 978-3-406-77687-8, € 14,95

Barbara Cassin, Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause? 2021 Suhrkamp Berlin, 978-3-518-58770-6, € 22,–

Zwei Essays sind zu besprechen, die beide Nostalgie im Titel tragen. Was sie darunter verstehen, könnte allerdings kaum unterschiedlicher sein. Darin äußert sich bereits eine grundsätzliche Qualität des Nostalgie-Begriffs. Da die beiden Bücher ansonsten allerdings verschiedene Thematiken behandeln, sollen sie zunächst einzeln gewürdigt werden.

„Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie" beschäftigt sich mit drei aktuellen Debatten in diesem Feld: der Debatte um die Restitution von NS-Raubkunst, der Debatte um die Restitution „kolonialer Objekte" sowie der Debatte um die Restitutionsforderungen der Hohenzollern. Als Professorin für Öffentliches Recht und Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist Sophie Schönberger eine ausgewiesene Expertin für diese Fragen.

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Auf eine Einführung in die Thematik, folgen Kapitel zu „Nostalgie", „Unrecht", „Vergangenheit", „Objekte", „Geschichtsfabriken" (gemeint sind Museen), „Gerechtigkeit?" und „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft". Wer sich auf kompakte Weise mit den jeweiligen Debatten und ihren historischen und rechtlichen Grundlagen vertraut machen möchte, kommt hier auf seine Kosten. Wie die allgemeinen Überschriften jedoch bereits nahelegen, nähert sich das Buch ihnen weitgehend aus der Vogelperspektive. Gern hätte man mehr gewusst über die jeweiligen Frontstellungen und vor allem die Akteure, die meist eher allgemein – Staat, Recht, Medien, Museen, Öffentlichkeit – bleiben, obwohl sich hinter ihnen doch vielfach unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Meinungen verbergen.

Weder zu den drei Fallbeispielen noch zu Restitution allgemein bezieht das Buch explizit Stellung. Aus juristischer Sicht, so argumentiert es, gibt es kaum eine Grundlage für Restitutionsforderungen (siehe vor allem S. 60 f.) und dies scheint implizit auch die Meinung der Verfasserin zu sein. Denn zwischen den Zeilen kann man es sehr wohl als Plädoyer gegen Restitution überhaupt lesen, etwa wenn sie fragt „ob wir wirklich in einer Welt leben wollen, in der jeder und alles nach Hause zurück muss" (S. 90) oder wenn es betont, dass Restitution „das historische Unrecht ausblendet und überspielt, statt es zu zeigen" (S. 113), dass kein Zurückgeben „das Unrecht ungeschehen machen" kann (S. 132). Dies zu diskutieren, wäre interessant gewesen ebenso, wie historisches Unrecht in der Gegenwart fortwirkt und wie es sichtbar gemacht werden kann. Indem es sich auf einen neutralen Standpunkt stellt, lädt „Was soll zurück?" jedoch nur begrenzt zur Diskussion ein.

Was aber hat das alles mit Nostalgie zu tun? In der Folge von Zygmunt Baumanns Buch „Retrotopia" erklärt „Was soll zurück?" unsere Gegenwart zu nichts weniger als einem „Zeitalter der Nostalgie". „Fünfhundert Jahre nachdem Thomas Morus den Begriff ‚Utopia' für die zukünftige Errichtung des Himmels auf Erden erfand," behauptet es, „setzen sich zunehmend nostalgische Denkweisen durch, die sich nicht mehr aus der Zukunft speisen, ‚sondern aus der verlorenen, gebauten, verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit'" (S. 32). An diesem Satz ist allerdings so ziemlich alles falsch. Erstens imaginierte Thomas Morus Utopia nicht als zukünftigen, sondern, wie der Begriff impliziert, als Nicht-Ort, als Parallelentwurf zu der bestehenden Gegenwart, der er so einen kritischen Spiegel vorhielt. Zur Verzeitlichung dieses Topos kam es erst im 18. Jahrhundert. Zweitens ist die zugrundeliegende Vorstellung, ein rückwärtsgewandtes, nostalgisches Regime habe ein zukunftsgerichtetes, utopisches abgelöst zumindest unterkomplex. Während man Nostalgie, wie hier als Vergangenheitsverklärung und Rückwärtsgewandtheit verstanden, bereits in der Antike und im Mittelalter ausmachen kann, findet sich die Vorstellung eines gesamtgesellschaftlichen Fortschritts nicht vor der frühen Neuzeit. Ebenso wenig ist diese, trotz aller Kritik, der sie sich spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert gegenübersah, völlig verschwunden. Wenn es Belege dafür gibt, dass gegenwärtige Gesellschaften rückwärtsgewandter sind als vergangene Epochen, ist die Kulturkritik sie bislang jedenfalls schuldig geblieben.

In einem zweiten Schritt unterscheidet das Buch zwischen „reflektiver", „restaurativer" und „reparativer Nostalgie". Dass die beiden ersten Begriffe auf die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym zurückgehen, erfährt allerdings nur, wer die Endnoten mitliest, denn ihr Name fällt im Text nicht. Obwohl das Buch immer wieder auf die drei Konzepte zurückkommt, fragt man sich, wozu es diese eigentlich benötigt und was Nostalgie überhaupt mit Restitution zu tun hat. In seinem letzten Absatz wirft es diese Frage selbst auf. „Die Restitution von Kulturgütern", heißt es hier, „ist daher nicht in erster Linie ein nostalgisches, sondern ein politisches Projekt – und sollte auch als solches gesehen und behandelt werden" (S. 134). Doch wer, wenn nicht das vorliegende Buch, hat Restitution überhaupt zu einem nostalgischen Projekt erklärt? Und wenn es das nicht ist, wieso bedient es sich dann dieses Konzepts? Kurz: „Was soll zurück?" löst ein Problem, das ohne das Buch gar nicht bestünde und trägt so dazu bei, einen ohnehin vertrackten Gegenstand noch weiter zu verunklaren.

Ganz anders die Publikation der französischen Philosophin und Altphilologin Barbara Cassin „Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause?". Auch hier handelt es sich um einen gefällig geschriebenen, flott zu lesenden Essay. Damit hören die Ähnlichkeiten aber bereits auf, denn Cassin will die positiven Seiten von Nostalgie entdecken. Allerdings versteht sie darunter auch etwas ganz anderes als Schönberger, nämlich ein Instrument, um dem „Verhältnis von Heimat, Exil und Muttersprache" (S. 21) nachzuspüren. Und das tut sie, wie man es als Altphilologin eben tut, über weite Strecken hinweg anhand der Klassiker. So ist das erste Kapitel mit „Odysseus und der Tage der Heimkehr" und das zweite mit „Aeneas: von der Nostalgie zum Exil" überschrieben. Das dritte, „Arendt: wenn Sprache zur Heimat wird", vollzieht dann mit Hannah Arendt den Sprung in die Moderne.

Heimat, Exil, Muttersprache – inwiefern hängen nun wieder diese Aspekte mit Nostalgie zusammen? Einfach und doch kompliziert: als Übersetzung des deutschen Wortes „Heimwehe" ins Altgriechische diente Nostalgie ursprünglich als medizinischer Fachbegriff für eine pathologische Form von Heimweh. Geprägt hat ihn 1688 (nicht 1678, wie Cassin schreibt, S. 18), der elsässische Arzt Johannes Hofer. Erst im 20. Jahrhundert erhielt Nostalgie ihre heutige, zeitlich gewendete Bedeutung und büßte zugleich ihre räumliche Konnotation ein. Damit beginnen aber schon wieder die Probleme, denn das gilt für das Englische und Deutsche (das die neue Bedeutung aus dem Englischen übernahm), nicht aber im gleichen Maß für das Französische. Dort ist der Begriff noch schwammiger als in anderen Sprachen, denn hier kann er sowohl eine Sehnsucht nach einem Früher, nach einem Ort, wie Sehnsucht überhaupt ausdrücken. Da dies vielen aber nicht bewusst sein dürfte, wäre es sinnvoll gewesen, wenn die Übersetzerin diese semantischen Nuancen erläutert hätte. So dürften manchen vielleicht nicht klar werden, warum Cassin meint, die deutschen Begriffe „Heimweh" und „Fernweh" (S. 52) bzw. „Heimweh" und „Sehnsucht" (S. 54) – und nicht Nostalgie – brächten besser zum Ausdruck, worauf sie hinauswolle. Cassin baut auf dem ursprünglichen, räumlichen Nostalgie-Begriff auf, sucht diesen aber zugleich gegen Heimat und Nationalismus ins Kosmopolitische zu wenden.

Kurz: wer Nostalgie, wie wir sie grosso modo heute verstehen, besser greifen will, findet hier nicht unbedingt Hilfe. Mitunter trägt Cassin eher zu weiterer Verwirrung bei. „Jede Sprache hat ihre eigene Weise, Nostalgie zum Ausdruck zu bringen" (S. 23), schreibt sie differenziert, sieht sich diese sprachlichen Unterschiede aber nicht näher an. Zugleich essentialisiert sie Nostalgie, impliziert sie hier doch, es handele sich bei dieser um eine anthropologisch, überzeitliche und überkulturelle Konstante. Historisch wäre es interessanter, danach zu fragen, wie verschiedene Kulturen und Epochen Heimweh (bzw. Rückwärtsgewandtheit) jeweils empfunden bzw. konzeptionalisiert haben.

Indem sie einen neuen Nostalgie-Begriff einzuführen sucht, macht auch Cassin – wie Boym vor ihr – immer wieder Dualismen auf, die letztlich auf „gute" vs. „schlechte" Nostalgie hinauslaufen: Odysseus – Aeneas, Arendt – Heidegger, Exil – Xenophobie, Kosmopolitismus – Nationalismus. Damit geht sie jedoch immerhin entschieden über die kulturkritische Verwendung des Begriffs hinaus, die Nostalgie als moderne Erscheinung und zugleich als antimoderne Verfallserscheinung versteht.

Zusammengenommen zeigen die beiden Bücher, dass unter Nostalgie so ziemlich alles, auch einander Widersprechendes verstanden werden kann: bei Schönberger Vergangenheitssehnsucht und -verklärung, bei Cassin ein in Kosmopolitismus umschlagendes Heimweh. Um so überraschender ist, dass beide Bücher nicht nur darauf bestehen, dass sich Nostalgie in ihrer Essenz erfassen lässt, sondern dass sie diese auch erfasst zu haben meinen. Dies allerdings ist ein Problem, das die beiden Essays mit vielen Beiträgen teilen, die Nostalgie analytisch operationalisierbar zu machen versuchen.

By Tobias Becker

Reported by Author

Titel:
Sophie Schönberger, Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie. München, Beck 2021; Barbara Cassin, Nostalgie. Wann sind wir wirklich zuhause? Berlin, Suhrkamp 2021.
Autor/in / Beteiligte Person: Becker, Tobias
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-10-01), Heft 2, S. 557-560
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2022-1405
Schlagwort:
  • WAS soll zuruck? Die Restitution von Kulturgutern im Zeitalter der Nostalgie (Book)
  • SCHONBERGER, Sophie
  • CRIMINAL reparations
  • ASSIMILATION (Sociology)
  • NONFICTION
  • Subjects: WAS soll zuruck? Die Restitution von Kulturgutern im Zeitalter der Nostalgie (Book) SCHONBERGER, Sophie CRIMINAL reparations ASSIMILATION (Sociology) NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Freie Universität Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut, Berlin,, 14195, Germany.
  • Full Text Word Count: 1371

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -