Durch die andauernden Schulschließungen standen Familien in der Pandemie vor der Herausforderung, schulische Lern- und Arbeitsprozesse zeitlich und räumlich aufzufangen und in die Organisation des familiären Alltags zu integrieren. Erste Ergebnisse einer explorativen Studie zeigen, wie sich Eltern aus ‚mittleren' sozialen Lagen in Relation zur Institution Schule und zu den schulischen Vertreter:innen positionieren. Gestützt auf eine familientheoretische Perspektive, die Familie und Schule als funktional ausdifferenzierte Sozialisationsinstanzen ausweist, wird das Spannungsfeld zwischen einer selbstverständlichen Verantwortungsübernahme und einer notwendig erscheinenden Widerständigkeit der Familie gegenüber schulischen Erwartungen und Anforderungen diskutiert. Heuristisch geschärft werden die Rekonstruktionsergebnisse zu zwei Interviews von Eltern mit ihren Kindern im Rekurs auf die von Oevermann grundgelegte, professionalisierungstheoretische Figur des pädagogischen Arbeitsbündnisses.
Keywords: Eltern; Lehrer:innen; Arbeitsbündnis; Corona-Pandemie; Distanzunterricht
Die Inanspruchnahme der Familie während der pandemiebedingten Schulschließungen ist vornehmlich mit Blick auf eine Verschärfung sozialer Ungleichheitsprozesse sowie die Arbeitstätigkeit von Eltern und die Betreuungsfunktion von Bildungseinrichtungen diskutiert worden (vgl. z.B. [
Das Problem einer Verschiebung sozialisatorischer Aufgabenbereiche zwischen den historisch gewachsenen Institutionen ist von Tyrell bereits 1987 kritisch diskutiert worden. So stellt dieser mit Blick auf die funktional ausdifferenzierten Sozialisationsräume Familie und Schule eine zunehmende elterliche Ausrichtung an schulisch gestellte Anforderungen und schulischen Wertorientierungen fest. Im Wissen um die biografische Bedeutung schulischer Bildung und Bildungszertifikate habe die Schule, insbesondere bei Eltern aus ‚mittleren' sozialen Lagen, bedeutend an Relevanz gewonnen ([
Im Kontext qualitativer erziehungswissenschaftlicher Forschung gibt es eine Reihe von Studien, die das Verhältnis von Familie und Schule untersucht haben (vgl. zusammenfassend [
Oevermann (1996: 134) entfaltet die Figur des „Arbeitsbündnisses" zur Erläuterung der Struktur professionalisierter Berufe. Im Fokus der Betrachtung eines „pädagogischen Arbeitsbündnisses" (ebd.: 152) steht ein durch die Institutionalisierung von Schule geschaffener Verweisungs- und Interaktionszusammenhang zwischen Eltern, Lehrkräften und den Heranwachsenden, in dem different strukturierte Beziehungspraxen operieren und sich zueinander relationieren. Mit der Konzeption einer Trias von Eltern, Lehrer:innen und Schüler:innen bzw. Kindern legt [
Die Frage, ob von einer „widersprüchlichen Einheit von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen" (ebd.: 123) im Kontext schulisch evozierter Beziehungspraxen und damit auch von einer Professionalisierungsbedürftigkeit des Lehrberufs auszugehen ist, wurde und wird schultheoretisch kontrovers diskutiert (hierzu grundlegend [
Anders als die Modellierung Tyrells betont die Figur des pädagogischen Arbeitsbündnisses das Vorhandensein von Freiwilligkeit und die Bedeutung von Kooperativität. Kritisch angemerkt werden kann aber auch hier, dass die Eltern (strukturell) in die Verantwortung für die Umsetzung schulischer Lern- und Arbeitsprozesse ihrer Kinder genommen werden (vgl. [
Schulisch gestellte Anforderungen während des Schulausfalls werden explizit über die Aufforderung zur Bearbeitung konkreter schulischer Aufgaben und die Teilnahme am Online-Unterricht, aber auch implizit über die stillschweigende Einforderung von (zusätzlichen) Unterstützungsleistung transportiert. Die Eltern sind in diesen Zeiten besonders herausgefordert, den Kindern organisatorisch aber auch motivational zur Einnahme einer für die jeweiligen schulischen Lern- und Arbeitsprozesse erforderlichen Haltung zu verhelfen (vgl. [
Im Rahmen quantitativer Studien ist das Belastungs- und Kompetenzerleben der Eltern während des pandemiebedingten Betreuungs- und Schulausfalls untersucht worden. [
Im Folgenden werden stark komprimierte Ergebnisse zweier objektiv-hermeneutischer Sequenzanalysen vorgestellt (zur Methode vgl. [
Im Folgenden werden erste Ergebnisse einer explorativen Studie vorgestellt. Zur Untersuchung herangezogen werden zwei Interviews mit Eltern bei denen partiell auch die Kinder dabei waren. Die Interviews wurden zu einem Zeitpunkt erhoben, als die pandemiebedingten Schulschließungen bereits beendet waren. Sie protokollieren sowohl elterliche und kindliche Positionierungen gegenüber der Institution Schule und den schulischen Vertreter:innen als auch familiale Paar- sowie Eltern-Kind-Interaktionen. Auf ein Prä-Post-Design, das elterliche Positionierungen anhand zweier Erhebungszeitpunkte rekonstruiert, kann hier nicht zurückgegriffen und somit auch keine Aussagen zu möglichen Um- und Neuorientierung der Eltern in der Verhältnissetzung zur Schule getroffen werden (vgl. zur qualitativen Längsschnittforschung [
Im Folgenden wird zunächst der Fall einer Familie mit getrenntlebenden Eltern und mehreren Kindern betrachtet. Das Interview findet nur mit dem Vater und der zweitältesten Tochter der Familie statt, die ein Gymnasium besucht. Der Vater ist beruflich als Arbeitnehmer gut situiert und konnte im Homeoffice arbeiten. Seine Kinder sind Schüler:innen sowohl im Elementar- als auch im Sekundarbereich.
In der ersten ausgewählten Sequenz wird das Bereitstellen von Unterrichtsmaterialien als zentrale Problematik während der Pandemie thematisiert. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass den Eltern – über die Hausaufgabenbetreuung und ggf. ein vertiefendes Lernen zu Hause hinaus – die räumliche, zeitliche und partiell auch materiale Organisation schulischer Vermittlungs- und Arbeitsprozesse übertragen wurde. So wurde in den beiden vorliegenden Interviews, insbesondere in Bezug auf die Fachlehrer:innen in der Sekundarstufe, kritisiert, dass die vorbereiteten Unterrichtsmaterialien auf unterschiedlichen Wegen Verbreitung fanden.
In dem nun folgenden Interviewausschnitt werden Vater und Tochter danach gefragt, ob sie sich mehr Unterstützung, etwa in Form von mehr Anrufen und Nachfragen, gewünscht hätten und wie ein idealer Austausch zwischen Familie und Schule während der Pandemie allgemein betrachtet ausgesehen hätte:
I: [... ] was hätte man denn gerne gehabt von denen so idealerweise @ wie hätten die denn reagieren sollen @ (?)
V: idealerweise wäre es wirklich gewesen (.) wenn das wäre wirklich so mein wunsch gewesen tatsächlich wenn äh jedes kind für (.) jede woche (.) ein arbeitspaket (.) zugeschickt bekommt (I: mhm) in papierform (.) nicht als email (.) nicht als webdownload nicht per whatsapp nicht per filesurf sondern (.) ein paket mit papier (.)
In der väterlichen Antwort fällt das ‚idealerweise' der Interviewerin mit der Formulierung ‚ideal wäre es wirklich gewesen' zusammen. Während „idealerweise" als Antwort oder zu Beginn einer Ausführung auf eine Rüge oder einen Tadel verweist, wird eine Idealkonstruktion mit „ideal wäre es wirklich gewesen" auf deren reale Umsetzung hin geprüft und verworfen. Entsprechend schließt er mit einer latenten Klage über eine nicht genutzte Alternative an: „das wäre wirklich so mein wunsch gewesen". Die eigene Position aufwertend nimmt der Vater dabei in Anspruch, bereits eine (Ideal-)Lösung („so") aufgezeigt zu haben, was er mit „tatsächlich" untermauert. Dann macht er auf eine von ihm gesehene Notwendigkeit der geordneten Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien aufmerksam: „wenn äh jedes kind für (.) jede woche (.) ein arbeitspaket (.) zugeschickt bekommt". In der Logik der Arbeitswelt zeigt sich der Vater hierüber – anstelle der schulischen Vertreter:innen – als Koordinator und Organisator der schulischen Lern- und Arbeitsprozesse seiner Kinder. In der Präzisierung „jedes kind für (.) jede woche (.) ein arbeitspaket" kann aber auch eine partikularistische Bezugnahme zum Ausdruck kommen, die über die Übernahme lehrer:innenseitiger Aufgaben hinausweist. Denn thematisch wird hier auch das Schnüren eines individuellen Arbeitspaketes für jedes seiner Kinder. Handlungspraktisch schiene das der Arbeitswelt zugehörige Arbeitspaket in der Schule am ehesten in Form eines Wochenplans realisiert, der – wie u.a. die Studien von [
Auch an einer späteren Sequenzstelle verweist der Vater auf die beschränkten Handlungsmöglichkeiten der Lehrkräfte. Bezug nimmt er dabei auf eine vorangegangene Einlassung der Interviewerin, die über ein Gespräch berichtet, in dem das Bereitstellen von Unterrichtsmaterialien in Papierform für die ganze Woche bemängelt wurde:
I: also sie fand es total doof @.@ weil sie halt gerne irgendwie mehr (/V: achso) angebot gehabt hätte glaub ich (.) also mehr irgendwie (.) drumrum vielleicht an interaktion oder weiß ich (.) ideen die über die arbeitsblätter hinausgehen (.) aber das wäre ja quasi dann dein (.) also man könnte sagen (.) idealmodell in=dem sinne ja als das es n pragmatisches modell ist ne (.) also dann (.) krieg ich was (V: muss ja funktionieren) genau (.) ja
V: wenn i- wenn i- wenn ich viel energie und lust und zeit habe (.) ähm einfach auch pragmatisch gesehen weil die lehrer haben damit schon alle hände voll zu tun gehabt da ist n wunschtraum dann zu sagen es wäre doch schön wenn die wenn die dann noch vielleicht n paar arbeitsblätter dazu zu tun für kinder die besonders gerne malen (.) vielleicht nochn paar ideen was man so in der freien zeit machen kann
Der Vater nimmt auf die Deutung der Interviewerin Bezug, die ihm eine gewisse Pragmatik zuspricht. An die Schule gestellte Wünsche nach einer Individualisierung verwirft er als praktisch nur schwer umsetzbare und von der Motivation abhängende Handlungsoption („wenn i- wenn i- wenn ich viel energie und lust und zeit habe (.) ähm einfach auch pragmatisch gesehen weil die lehrer haben damit schon alle hände voll zu tun gehabt"). Im Rekurs auf eine erhöhte Arbeitsbelastung der Lehrkräfte wird bereits das Formulieren von Idealkonstruktionen desillusioniert als utopisch und als tendenziell überzogen verworfen: „da ist n wunschtraum dann zu sagen es wäre doch schön wenn die". Das Abweisen idealer Vorstellungen geht aber nicht mit einer Unterwerfung unter ein schulisches Diktat einher. Trotz des sich sinnlogisch selbst auferlegten Verzichts auf Wunsch- und Idealkonstruktionen, tut der Vater eben dies und erträumt sich eine Vereinnahmung der Schule für eigene Partikularinteressen: „wenn die dann noch vielleicht n paar arbeitsblätter dazu zu tun für kinder die besonders gerne malen (.) vielleicht nochn paar ideen was man so in der freien zeit machen kann". Während er manifest Verständnis für das Fehlen individualisierender Bezugnahmen zeigt, bedauert er latent eine fehlende Weiterbeschäftigung seiner Kinder durch die Schule – die ihm eine weitere Entlastung hinsichtlich seiner eigenen Arbeitstätigkeit zu Hause verschafft hätte. Die Idee der Ausweitung schulischer Aufgabenbearbeitung in den Bereich der Freizeitgestaltung thematisiert der Vater sich selbst gegenüber aber als eine Hoffnung, die zwangsläufig enttäuscht werden muss.
An die Äußerung des Vaters schließt die Tochter, wie der weitere Sequenzverlauf zeigt, unmittelbar an. Ein thematisch werdendes Verschwimmen von Schule und Freizeit sowie Familienleben lehnt diese entschieden ab:
T: ich find die ist auch gar nicht zuständig (
Die Tochter weist ihre Lehrerin trotzig als falsche Adressatin dieses Wunsches aus und hält diese dabei, den väterlichen Gedankenexperimenten entgegenwirkend, auf Distanz. Indem sie die Schule als Ort des Leistungsuniversalismus von anderen Lebensbereichen strikt abgrenzt, verteidigt sie die Autonomie der Familienzeit und auch ihrer persönlichen Freizeitgestaltung. Latent wird durch ihre Zurückweisung einer Zuständigkeit ihrer Lehrerin auch ihr Vater und seine Verantwortung thematisiert.
V: so is es (.) genau (.) die bespaßung obliegt den eltern (
Die Richtigkeit der Aussage der Tochter wird in gewährendem Ton direkt vom Vater bestätigt („so is es (.) genau"). Die Selbstbehauptungsansprüche der Tochter und eine elterliche Zuständigkeit werden manifest anerkannt, latent zeigt sich aber eine Überforderung oder auch Genervtheit des Vaters, wenn er die den Eltern zugewiesene Verantwortung, den Kindern vor dem Hintergrund von Kontaktbeschränkungen bei der Freizeitgestaltung zur Seite zu stehen, als „Bespaßung" tituliert. Die Sphäre der Familie wird mit der Begriffsfindung „Bespaßung" gegenüber schulisch zu vermittelnden Lerninhalten abgewertet. Die nicht zielgerichtete Aufgabe einer „Bespaßung" wird von ihm zudem als rechtlich kodifiziert ausgewiesen („obliegt") und damit parodiert. Das Eingeständnis des Vaters verweist so auch auf dessen Ermüdung hinsichtlich seiner (nun als ausufernd erscheinenden) väterlichen Pflichten: Es fehlt nicht nur an Betreuungseinrichtungen und externen Freizeitangeboten, sondern auch an eigenen Interaktionsräumen für die Kinder.
Als Lösung für das Problem einer nicht endenden Verantwortlichkeit und als Antwort auf die nun selbst aufgeworfene Frage nach einer idealen Beschulung zu Hause erscheint die Reduktion auf den Kern des Schulischen („was wäre meine idealwelt gewesen sich wirklich zu reduzieren auf diesen auf den schulischen stoff"). Wie ein Lehrer erträumt der Vater „sich" hier einen störungsfreien, auf das anzueignende Wissen reduzierten Vermittlungsprozess. Statt auf einen triadischen Verweisungszusammenhang Bezug zu nehmen und eine vermittelnde Position zwischen seinen Kindern und Lehrkräften einzunehmen, macht er sich eine (ideale) Lehrerrolle zu eigen. Sein Scheitern wird dabei über die Formulierung „wäre [...] gewesen" gerahmt. Das Elternsein kann nicht ausgeblendet werden. Während er lehrer:innenseitig eine personalisierte Beziehungspraxis nicht feststellen kann, bleibt er als Vater an seine Fürsorgepflichten gebunden. Den Wegfall einer über die Wissensvermittlung hinausgehenden Bezugnahme thematisiert er fachsprachlich: „die soziale komponente fällt halt weg". Welche erwünschten Bezugnahmen sich hinter dem in verwissenschaftlicher Sprache angeführten Begriff („soziale komponente") verbergen, bleibt hier weitgehend offen. Inhaltlich weist der Vater auf eine fehlende pädagogische Beziehungsgestaltung durch die Lehrkräfte hin. Auf das durchaus problematisch erscheinende Fehlen des Sozialen wird distanzierend Bezug genommen. Wie in der obigen Sequenz zeigt sich auch hier eine Tendenz des Vaters, das Lehrer:innenhandeln – und damit auch sein Handeln in der Begleitung der schulischen Lernprozesse seiner Kinder – instrumentell zu bearbeiten und technisierbare Lösungswege zu finden. Dem Wunsch nach einer bloßen Leistungsorientierung in der Familie sowie der nach einer Privatisierung der Schule wird eine Absage erteilt („halt"): Weder für eine Lehrkraft sei das vorstellbar („kann [...] nicht bringen") noch für ihn („auch"). Nicht ohne Resignation und Bedauern wird der schulische Handlungsraum mitsamt den lehrer:innenseitigen Aufgaben wieder im Kontext universalistischer Wert- und Handlungsorientierung verortet (vgl. hierzu [
Im vorliegenden Fall wird deutlich, wie sich der schulische Leistungsuniversalismus am familialen Partikularismus bricht. Der Vater orientiert sich im Kontext der räumlichen, zeitlichen und in Teilen auch materialen Verantwortungsübernahme von schulischen Lern- und Arbeitsprozessen an der Idee der Formalisierung sowie Effizienzsteigerung. Über die Reduktion der Lehrer:innentätigkeit auf technisierbare Vermittlungsprozesse wird eine Verhältnisbestimmung im Sinne eines pädagogischen Arbeitsbündnisses verworfen. Von den Lehrkräften werden in Zeiten des Schulausfalls (rückblickend) möglichst effiziente Dienstleistungen eingefordert; sie werden – womöglich aufgrund ihrer pandemiebedingten Situation – nicht als soziale Interaktionspartner:innen der Kinder wahrgenommen.
Am zweiten Interview nahmen ein Vater, eine Mutter und ihre drei Kindern (partiell) teil. Die Tochter besucht die Grundschule, die Söhne gehen gemeinsam in eine Klasse auf eine weiterführende Schule. Der akademisch ausgebildete Vater konnte als Arbeitnehmer größtenteils im Homeoffice arbeiten. Den Ausführungen im Interview ist zu entnehmen, dass der Vater sich auch aktiv mit den schulischen Belangen der Kinder auseinandergesetzt und die Koordination der online bereitgestellten Arbeitsmaterialien übernommen hat. Die Mutter hat auf Lehramt studiert und ist Hausfrau. Den studierten Beruf hat sie nicht ausgeübt. Im Folgenden findet, bevor der weitere Sequenzverlauf mit Blick auf die elterliche Interaktion rekonstruiert wird, zunächst die mütterliche Perspektive Betrachtung. Das zu Beginn zum Ausdruck gebrachte Verständnis der Mutter für die Lehrkräfte kann dabei auch als Ausdruck des Wissens um die besonderen Herausforderungen des Berufes interpretiert werden:
M: also es war auch für die lehrer nicht so einfach (Km2: tschüss) (I: jaa) weil manche (.) sind wirklich (Km1: tschüüüss) nicht da gewesen oder sind plötzlich ähh weggewesen (.) und man konnte da kaum unterricht machen also ähmm (.) (V: Km1 warte doch mal) unsere jungs waren zu zweit (.) manchmal kam es zum streit weil der eine konnte nicht richtig gucken oder der andere nicht richtig gucken (.) und ähm (.) das war wirklich
Die Mutter zeigt sich im Interview mit „also es war auch für die lehrer nicht so einfach" verständnisvoll gegenüber den Lehrkräften. Ersetzt man „lehrer" hier aber beispielsweise durch Gastronomen, wird eine in der Verteidigungsrede eigene Positionseinnahme und damit auch eine Abgrenzung zur Lehrer:innentätigkeit offenbar. Das Zugeständnis, dass die Lehrkräfte eine schwierige Zeit durchlebt haben, wird über das vergemeinschaftende „auch" mit Blick auf die eigene zu vertretende Akteursgruppe, die Elternschaft, gemacht. Die Lehrkräfte und die Eltern werden für das Nichterreichen eines gesteckten Zieles in Schutz genommen. Die Aufgabe der Initiierung und Aufrechterhaltung von Lern- und Bildungsprozessen wird als eine gemeinsam zu teilende Aufgabe gerahmt und als partnerschaftlich ausgewiesen.
Mit „weil manche (.) sind wirklich (Km1: tschüüüss) nicht da gewesen oder sind plötzlich ähh weggewesen" nimmt sie entschuldigend auf ein krisenhaftes, durch Unabwägbarkeiten gekennzeichnetes Unterrichtsgeschehen Bezug. Aus der Perspektive einer Lehrerin schildert sie dann die Problematiken des Online-Unterrichts und führt ein unterrichtliches Misslingen auf die äußere Rahmung zurück: „und man konnte da kaum unterricht machen". Gegenüber der nun neu eingeführten Akteursgruppe der Heranwachsenden entwirft sie sich in Personalunion (als Mutter und Lehrerin) als Autoritätsperson, deren Wirkmächtigkeit eingeschränkt ist. Das Herstellen einer flächendeckenden Bereitschaft der Schüler:innen, am Online-Unterricht teilzunehmen und so auch ihrer Schulpflicht nachzukommen, liegt in der Erzählung nur sehr bedingt in der Verfügungsgewalt der Lehrperson – und kann so auch als Resultat elterlichen Einsatzes verstanden werden. Lehrer:innen und Eltern erscheinen hinsichtlich der Aufgabe, eine unterrichtsadäquate Schüler:innenhaltung herzustellen, als Schicksalsgemeinschaft. Die Mutter übernimmt dabei eine Doppelrolle: Als Mutter und in der sinnlogischen Übernahme der Position einer Lehrkraft macht sie sich verantwortlich für den Ablauf des Online-Unterrichts. Dies verweist auf eine bestehende elterlich-unterstützende und mit den Lehrer:innen solidarische Haltung. Durch das Mitbekommen des Unterrichts zu Hause, ist – so kann vermutet werden – ein Resonanzboden eröffnet, indem eine einsozialisierte Nähe zur Lehrer:innenrolle und eine Diffusion elterlicher und lehrer:innenseitiger Perspektiven sich (womöglich verstärkt) Ausdruck verschaffen kann.
Das Problem der Mitwirkung am Online-Unterricht deutet die Mutter dann zu einer Frage der Partizipationsmöglichkeit um: „unsere jungs waren zu zweit (.) manchmal kam es zum streit weil der eine konnte nicht richtig gucken oder der andere nicht richtig gucken (.) und ähm (.) das war wirklich". Mit der Formulierung „unsere jungs" vollzieht sich ein erneuter Perspektivwechsel. Partikularistisch nimmt sie nun auf die Besonderheit der Situation ihrer Kinder Bezug und rechtfertigt deren abgelenktes Verhalten. Da die beiden sich einen Bildschirm teilen mussten, sei eine angemessene Unterrichtsteilnahme der Kinder erschwert gewesen. Während die Lehrer:innen als entmachtete Hüter:innen der unterrichtlichen Interaktion erscheinen, kommt ihr als Mutter die Aufgaben der Herstellung angemessener Rahmenbedingungen zu. Damit interpretiert sie ihre Aufgabe dahingehend, dass sie auch für die Tätigkeiten ihrer Kinder im Online-Unterricht Sorge zu tragen hat. Sie zeigt sich als eine Mutter, die ihre Kinder während einer Unterrichtsstunde beobachtet, in denen den Lehrkräften ein unmittelbares Eingreifen oftmals nicht möglich ist. Die in der Rechtfertigung deutlich werdende Verantwortungsübernahme wird im weiteren Verlauf durch die elterliche Interaktion gebrochen. Statt sich weiter an dem Problem einer notwendigen Disziplinierung abzuarbeiten, zeigen sich die Eltern einklängig amüsiert über ein abgelenktes und vom Unterricht ablenkendes Verhalten der Heranwachsenden:
V: dann haben die kinder die chatfunktion entdeckt (I: hmm) und ähh das war x (uv.) M: genau dann haben sie untereinander kommuniziert das hat die lehrer auch äh @richtig aufgeregt@ (I: @) also hut ab ne ähh (V: genau) was-was die lehrer auch geleistet haben
Das Übertragen von Unterricht unterlaufenden Schüler:innenpraktiken in den digitalen Raum wird dabei vom Vater anspielungsreich über die belustigte Ankündigung eines drohenden Unheils kommentiert („dann haben die kinder die chatfunktion entdeckt"). Ein abweichendes Verhalten seiner Kinder kennzeichnet der Vater als unvermeidlich. Mit Blick auf den Unterricht wird dies zwar durchaus problematisiert („und ähh das war x (uv.)"), durch die Mutter dann aber auch wieder wohlwollend belächelt („genau dann haben sie untereinander kommuniziert das hat die lehrer auch äh @richtig aufgeregt@"). Die Eltern solidarisieren sich mit ihren Kindern. Insbesondere das „genau" zeigt dabei die Eingespieltheit der elterlichen Interaktion. Nachdem der elterliche Spaß an der Gewitztheit der Kinder und einer lehrer:innenseitigen Machtlosigkeit zum Ausdruck gebracht wurde, wird die damit einhergehende Schadenfreude aber wieder eingefangen. Das süffisante Belächeln der Unterrichtssituation wird durch eine Verbeugungsgeste partiell zurückgenommen: „also hut ab ne ähh (V: genau)". Die äußerliche Solidarisierung mit den Lehrkräften wird dabei begleitet von einer Distanzierung gegenüber den von ihnen ausgeübten Tätigkeiten („was-was die lehrer auch geleistet haben"). Während manifest das Aushalten der Belastungssituation anerkannt wird, ist latent auf eine gesehene Machtlosigkeit der Lehrer:innen im Kontext des Online-Unterrichts und die Fragwürdigkeit des lehrer:innenseitigen Tuns verwiesen.
Der zur Kontrastierung herangezogene Fall macht auf die Bedeutung familialer Interaktion für die Bearbeitung der veränderten schulischen Arbeitssituation aufmerksam. Identitäts- bzw. rollendiffundierende Perspektivwechsel der Mutter werden interaktiv durch die elterlichen Interaktionen aufgefangen (vgl. hierzu auch [
Das verstärkte Einbinden der Eltern in schulische Belange geht in den vorgestellten Fällen mit einer Selbstexpertisierung der Eltern einher. Infolge einer selbstverständlichen Übernahme der an sie gestellten Aufgaben, die Lern- und Arbeitsprozesse ihrer Kinder zu initiieren und zu garantieren, zeigen sich die Eltern als Organisator:innen von Unterrichtsmaterialien und als sozialisatorische Autorität, die um die Begrenztheit der Wirkmächtigkeit von Lehrer:innen wissen. Die rekonstruierten elterlichen Bearbeitungsmodi und Bezugnahmen geben Aufschluss darüber, wie sich das Spannungsfeld zwischen einer gesellschaftlich eingeforderten Pflichterfüllung hinsichtlich schulischer Anforderungen und der Aufrechterhaltung familialer Handlungspraxis ausgestaltet – und sich das Verhältnis zwischen Familie durch die Schule während der Pandemie mit Blick auf spezifische Problemkontexte ausformt. Zentral werden dabei vor allem die veränderten Formen, in der die Schule nun in der Familie präsent wird. So finden das Prinzip der schulischen Aufgabenerledigung sowie der Unterricht selbst über dessen Gestaltung online Eingang in den familialen Alltag. Im ersten Fall werden infolge der pandemiebedingten Schulschließungen vor allem Fragen einer bestmöglichen und effizienten Arbeitsorganisation bearbeitet und eine Universalisierung des familialen Alltags herbeigesehnt und verworfen zugleich. Im zweiten Fall werden aufgrund der elterlichen Partizipation am Unterricht Disziplinierungsprobleme sowie die Frage nach der Solidarisierung mit den Lehrkräften auf der einen und den eigenen Kindern als Schüler:innen auf der anderen Seite relevant.
Das Verhältnis zu den Lehrer:innen wird sowohl arbeitsteilig als auch partnerschaftlich konzeptualisiert. Die Ausgestaltung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses im Sinne der gemeinsamen Bearbeitung von Krisen lässt sich hier nicht rekonstruieren. Die mütterlichen Perspektivwechsel sowie die väterlichen Imagerien eines von Interaktionsdynamiken befreiten Lernens zu Hause legen vielmehr eine Orientierung am schulischen Leistungsuniversalismus nahe. Einer Überanpassung der Familie an die Schule – wie [
By Julia Labede
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