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Elena Višlenkova / Andreas Renner (Eds.), Istorija mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii (Die Geschichte der Medizin und der medizinischen Geografie im Russländischen Imperium). Moskau, Izdatel'stvo AO «Šiko» 2021.

Cvetkovski, Roland
In: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 681-685
Online review

Elena Višlenkova / Andreas Renner (Eds.), Istorija mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii (Die Geschichte der Medizin und der medizinischen Geografie im Russländischen Imperium). Moskau, Izdatel'stvo AO «Šiko» 2021 

Elena Višlenkova, Istorija mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii (Die Geschichte der Medizin und der medizinischen Geografie im Russländischen Imperium). 2021 AO «Šiko» Moskau, 978-5-907348-20-2, ₽ 400,-

In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine enorme, kaum zu überblickende Menge an Literatur erschienen, die im Kielwasser der new imperial history und der postcolonial studies Imperien als hybride, dezentrierte und im andauernden Modus der Selbstverhandlung befindliche Gebilde entwarf. Die ehemals passiven kolonialen Objekte erhielten Gesicht und Stimme und dadurch Subjektstatus, Metropolen und Peripherien beschreiben nun schon lange keine absoluten Gegensätze mehr, sondern lösen sich in je unterschiedliche imperiale oder auch koloniale Situationen mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien auf. Diese sehr komplexen und auf verschiedenen Ebenen teilweise gleichzeitig ablaufenden Prozesse generierten riesige Informationsbestände, aus denen die Zeitgenossen – aber auch die späteren Historikerinnen und Historiker – Wissen über das Imperium herstellen konnten, etwa über demografische Entwicklungen, soziale und religiöse Zugehörigkeiten oder ökonomische Verhältnisse, aber auch über Rasse, Klasse, Geschlecht und über spezifische Macht- und Verwaltungsinstrumente. Wissen über das Imperium reaktualisierte sich in einem beständigen Austausch zwischen den jeweils in sich heterogenen Akteuren der Ränder sowie der Zentren.

Die vorliegende, insgesamt sieben Autorinnen und Autoren umfassende Kollektivmonografie reiht sich nun in diese neuere Forschungstradition ein. Mit der Ärzteschaft im Russländischen Reich rücken sie eine professionelle sowie soziale Kaste in den Fokus, die, so könnte man meinen, zunächst einmal wenig mit imperialen Aushandlungsprozessen, dafür aber umso mehr mit der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu tun hatte. Allerdings besaß das Wissen, das sich die Mediziner über die Bevölkerung und deren Lebensumstände aneigneten, um in erster Linie zu verstehen, wodurch Krankheiten entstanden und wie sie sich ausbreiteten, gleichzeitig eine enorme Bedeutung für die imperiale Bürokratie. Denn die von den Ärzten eingeholten Erkundigungen boten nämlich zunächst genaue Informationen über die spezifische Struktur und Zusammensetzung der Bevölkerung und konnten entsprechend dazu herangezogen werden, eine angemessene Medizinal- bzw. Gesundheitspolitik zu entwerfen und durchzuführen. In impliziter Anlehnung an die Überlegungen Michel Foucaults zur gouvernementalité und zur biopouvoir formulieren die beiden Herausgeber die den Band anleitende These, dass die russländischen Ärzte, indem sie ihre Patienten untersuchten (und zu heilen versuchten), zugleich dem Imperium insgesamt eine Diagnose stellten. Die „medizinische Geografie" dient hierfür gewissermaßen als epistemischer Türöffner: Indem die Bürokratie die Ärzte dazu aufforderte, die Regionen, die sie bereisten, in ihrer geografischen sowie klimatischen Beschaffenheit zu beschreiben und deren spezifischen Einfluss auf den Ausbruch von Krankheiten bzw. Epidemien zu untersuchen, verfolgte sie das Ziel, mit den so gewonnenen Erkenntnissen die Bevölkerung als maximal nutzbare Ressource verfügbar zu halten. Die Professionalisierung der russländischen Ärzteschaft, die zu großen Teilen in der Formalisierung des zunehmenden medizinischen Wissens bestand, verband sich demnach auch mit einer imperialen Selbstbeobachtung und dem imperialen Machtausbau.

Die Autoren gehen dafür in drei Schritten vor: Im ersten Kapitel stellen sie die grundlegenden Infrastrukturen vor, mit und in denen die russländische Ärzteschaft zwischen ca. 1770 und 1870 ihre wissenschaftlichen Routinen einüben und medizinisches Wissen produzieren konnten. Neben dessen Institutionalisierung in der Verwaltung und den höheren Bildungseinrichtungen stehen in diesem Kapitel besonders die Herausbildung der Ärzteschaft als Berufsstand wie auch der medizinischen Gesellschaften als bedeutsamste Plattformen für die Generierung medizinischen Wissens im Vordergrund. Es zeigt sich, dass die Professionalisierung der Ärzte nicht nur eng mit der Profilierung ihres sozialen Status einherging, sondern dass sich im 19. Jahrhundert auch zunehmend eine Nationalisierung des Ärztestandes – Ärzte wurden im 18. Jahrhundert aus dem Ausland nach Russland geholt – beobachten lässt.

Das zweite Kapitel nimmt die medizinische Forschung selbst und deren imperiale Indienstnahmen genauer in den Blick. Hier erfährt man von der Implementierung, Erweiterung und Verbreitung der Humoralpathologie in der Frühen Neuzeit im Allgemeinen und von deren Aufnahme im Russländischen Reich im Besonderen, folgt den von den Ärzten vorgenommenen konkreten geografisch-klimatischen Beschreibungen des Imperiums – erwähnenswert sind vor allem jene des in Russischen Diensten stehenden deutschen Arztes Johann Jacob Lerche – und taucht schließlich in die ersten medizinischen Statistiken ein, die auf Grundlage der durch die Ärzte eingesammelten Informationen erstellt und die von der imperialen Bürokratie zur Ausarbeitung einer Hygiene- und Gesundheitspolitik herangezogen wurden.

Das dritte Kapitel versammelt schließlich vier Fallbeispiele: Mit Vilnius und der kasachischen Steppe widmen sich zwei Abschnitte Regionen im Westen und Südosten, ein drittes beschäftigt sich mit der Medizin auf Kriegsschiffen und verlässt dadurch die Grenzen des Russländischen Reiches, und das letzte Unterkapitel richtet seinen Blick nach Norden auf den Arktischen Ozean und untersucht den Skorbut und dessen Bekämpfung.

Die vorliegende Publikation weist viele Vorzüge auf. Das größte Verdienst liegt wohl darin, dass die Herausgeber und Autoren nicht den üblichen Narrativen folgen und ihnen entsprechend auch nicht erliegen: Sie konzipieren die Ärzte weder als bloße Handlanger des imperialen Staates noch sehen sie in ihnen eine sich nach außen abschließende mobile imperiale Elite. Stattdessen gehen sie von den Ärzten selbst aus, zoomen ihre Protagonisten so nah wie möglich heran und versuchen sie in ihren mannigfaltigen Bezügen, die sie zu ihren Patienten, zu ihren Ärztekollegen und zur Bürokratie unterhielten, zu konturieren. Entsprechend fällt das Bild, das sie zeichnen, nicht einheitlich aus, die Autoren zwingen die zuweilen miteinander konkurrierenden Interessen, die ein und derselbe Arzt in seinen unterschiedlichen Rollen vertrat, in keine konsistente, vermeintlich linear verlaufende (möglicherweise ‚neue') imperiale Erzählung.

Drei Aspekte zeichnen die vorliegende Kollektivmonographie aus. Erstens ist ihre archivalische Tiefe schlichtweg beeindruckend, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass ausschließlich in der Medizingeschichte langjährig ausgewiesene Expertinnen und Experten an diesem Gemeinschaftsprojekt beteiligt sind. Was sie insbesondere im ersten Kapitel zur Ärzteprofession (S. 62–112) und zu den Ärztegesellschaften (S. 112–138) ans Tageslicht befördern, ist in seiner Quellendichte außerordentlich. Hier wird die Ärzteschaft nicht nur sehr plastisch als sich formierende Profession kenntlich, viel bedeutsamer ist, dass sowohl der konkret praktizierende Arzt als auch der Patient endlich ins Bild rücken. Dies mag für Medizinhistorikerinnen und -historiker, die etwa zu England oder Frankreich arbeiten, angesichts der dort reich vorhandenen Quellen nichts Besonderes darstellen; die Kärrnerarbeit, die die Autorinnen und Autoren angesichts der viel dünneren Quellenlage für das Russländische Reich hierfür leisten mussten, lässt sich daher gar nicht hoch genug veranschlagen.

Zweitens berücksichtigen nahezu alle Abschnitte in der Kollektivmonografie eine transregionale bzw. eine transnationale Perspektive. Die Autoren bieten keine nur den inneren Bedingungen geschuldete Geschichte der russländischen Ärzteschaft, sondern binden die untersuchten Aspekte immer in einen internationalen Kontext, in dem die Berührungen, Überschneidungen und Rezeptionen fein herausarbeitet werden. Ins Auge fällt dabei besonders das Kapitel zu den Quarantänebestimmungen an den Häfen der Ostsee (S. 51–63), die vor dem Hintergrund internationaler Regelungen in eine gleichsam transnational geführte Epidemiebekämpfung mündeten. Auch wird klar, dass die medizinischen Gesellschaften im Russländischen Reich in einem globalen Maßstab agierten (S. 112–138), und die medizinische Theoriebildung in der Frühen Neuzeit (S. 139–162) entwickelt die Autorin souverän in den europäischen Zusammenhängen und den jeweils wechselseitigen Rezeptionen.

Drittens schließlich gelingt es den Autoren, die unterschiedlichen Manifestationen von medizinischem Wissen deutlich herauszuarbeiten und den Wegen zu folgen, auf denen dieses Wissen dann zirkulierte. Besonders hervorzuheben ist, dass die Autoren in erster Linie untersuchen, wie medizinisches Wissen aufbereitet und meist umgeschrieben wurde, damit es den unterschiedlichen Milieus, also den Ärzten als Fachexperten sowie den Bürokraten als Machtträger, zur Verfügung stand. Gerade die Abschnitte zu den topografischen Beschreibungen (S. 162–215), doch vor allem zu den Statistiken (S. 216–254) – hier finden sich die stärksten Passagen des Buchs – zeigen auf, dass es sehr schwierig und oft geradezu unmöglich war, eine gemeinsame ‚Sprache' zu finden, in der die Erkenntnisse sowohl für den medizinischen als auch für den politisch-bürokratischen Bereich gleichermaßen erfolgreich hätten formuliert werden können.

Diese sehr gut informierte Kollektivmonografie zeigt eindrücklich, wie im 19. Jahrhundert die pathologische, ätiologische und epidemiologische Theoriebildung, bei der die geografische Beschaffenheit, das Klima und auch das spezifische Verhalten der ansässigen Bevölkerung in einen kausalen Zusammenhang gebracht wurden, sich auch in Russland langsam in ein Instrument des social engineering und der gesundheitspolitischen Kontrolle verwandelten. Die medizinische Expertise transformierte sich – zumindest in Teilen – in ein Projekt der imperialen Selbstoptimierung, deren Akteure es allerdings nicht vermochten, aus den Erkenntnissen, die sie aus den einzelnen medizinisch-topografischen Beschreibungen gezogen hatten, eine übergeordnete, gesamtimperiale Gesundheits- und Epidemiepolitik zu formen.

Es ist daher sehr bedauerlich, dass die Herausgeber es unterlassen haben, am Ende des Bandes eine Art Syntheseversuch zu wagen und die Fäden, die in den einzelnen Abschnitten ausgelegt worden sind, versuchsweise zusammenzuführen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, inwieweit die imperiale Aufbereitung von medizinischem Wissen gerade auch vor dem Hintergrund der stillschweigend übernommenen Foucault'schen Prämissen als politisches Scheitern bewertet worden wäre. Der Gesamteindruck leidet ein wenig darunter. Doch gerade angesichts der Unmenge an zutage geförderten Quellen sowie des innovativen Ansatzes dürfte diese flüssig geschriebene, den aktuellen internationalen Forschungsstand berücksichtigende Kollektivmonographie ein Referenzwerk für die künftige Beschäftigung mit der Medizingeschichte Russlands werden.

By Roland Cvetkovski

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Titel:
Elena Višlenkova / Andreas Renner (Eds.), Istorija mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii (Die Geschichte der Medizin und der medizinischen Geografie im Russländischen Imperium). Moskau, Izdatel'stvo AO «Šiko» 2021.
Autor/in / Beteiligte Person: Cvetkovski, Roland
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 681-685
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2022-1409
Schlagwort:
  • ISTORIJA mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii (Book)
  • VISLENKOVA, Elena
  • RENNER, Andreas
  • MEDICAL geography
  • NONFICTION
  • Subjects: ISTORIJA mediciny i medicinskoj geografii v Rossijskoj imperii (Book) VISLENKOVA, Elena RENNER, Andreas MEDICAL geography NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität zu Köln, Historisches Institut, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Köln,, 50931, Germany.
  • Full Text Word Count: 1466

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