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Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Staatslexikon. Recht ‒ Wirtschaft ‒ Gesellschaft. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft und dem Verlag Herder. Sechster Band: Volk ‒ Zweites Vatikanisches Konzil. 8., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien, Herder 2021

Walter, Uwe
In: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 701-705
Online review

Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Staatslexikon. Recht ‒ Wirtschaft ‒ Gesellschaft. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft und dem Verlag Herder. Sechster Band: Volk ‒ Zweites Vatikanisches Konzil. 8., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien, Herder 2021 

Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Staatslexikon. Recht ‒ Wirtschaft ‒ Gesellschaft. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft und dem Verlag Herder. Sechster Band: Volk ‒ Zweites Vatikanisches Konzil. 8., völlig neu bearb. Aufl. 2021 Herder Verlag Freiburg im Breisgau, 978-3-451-39516-1, € 88,–

Geräuschlos und wenig beachtet wurde die Neubearbeitung des von der Görres-Gesellschaft und dem Herder-Verlag herausgegebenen „Staatslexikons" vollendet. Verlässlich erschien seit 2017 unter Leitung des Passauer Politikwissenschaftlers Heinrich Oberreuter jedes Jahr ein Band. Zwar ist im Zeichen digitalen Publizierens und kontinuierlicher Online-Aktualisierungen die Ereignishaftigkeit eines Lexikonunternehmens generell schwerer dingfest zu machen, aber wenn es wie hier um ein gedrucktes Werk geht und dieses so vorbildlich im Zeitplan vorgelegt wird, erscheint eine Notiz angebracht. Über die früheren Bände wurde an anderer Stelle berichtet; das dort Dargelegte, zumal der Vergleich mit der Vorgängerauflage (1987–1994), soll hier nicht wiederholt werden; s. geschichte für heute 11/1, 2018, 76–81 (Bd. 1); 12/3, 2019, 81 f. (Bd. 2); 13/2, 2020, 98 u. 100 f. (Bd. 3); 14/2, 2021, 101 f. (Bd. 4); Sehepunkte 21, 2021, Nr. 7/8, Bd. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2021/07/35959.html [3.3.2022]. Die folgenden Beobachtungen stammen aus der Feder eines Historikers; ihnen liegt keine Lektüre des Bandes von Deckel zu Deckel zugrunde.

Die Herausforderungen, mit denen das Unternehmen „Staatslexikon" konfrontiert war, haben sich im Laufe einer langen Geschichte selbstverständlich geändert. Ging es anfangs (1. Aufl. 1889–1897) darum, nach dem Kulturkampf und gegen den im akademischen, politischen und gesellschaftlichen Diskurs dominierenden protestantischen Liberalismus eine konsistente katholisch-normative Position zu formulieren, die eine „naturrechtliche Begründung und Begrenzung des Staates zur Orientierung erhob" (S. 8*), und hierfür geeignete Autoren zu finden, besteht die Herausforderung heute eher darin, pragmatisch Interdisziplinarität zu organisieren und eine komplexe Wirklichkeit integrierend aus den Sichten einer größer werdenden Zahl von Fächern einzufangen. Das Autorenverzeichnis listet auf 35 Seiten 1254 Autoren, die 1828 Beiträge geliefert haben. Da nur wenige Verfasser, darunter einige Fachredakteure für die disziplinären Gebiete, eine größere Zahl von Lemmata beigesteuert haben, die meisten jedoch nur einen einzigen Artikel oder Teilartikel, hat die Redaktion Großes geleistet.

Im Untertitel werden als Felder – wie seit der 6. Auflage (ab 1957) – Recht, Wirtschaft und Gesellschaft genannt, wobei letztere die inkludierten ‚Diskursdisziplinen' Philosophie und Theologie sowie deren pragmatische Töchter Pädagogik und Sozialethik mitumfasst. Zugriffe der weit ausgefächerten Politikwissenschaft und Soziologie spielen naheliegenderweise eine wichtige Rolle; hinzugetreten sind Felder wie Informations-, Kommunikations- und Umweltwissenschaften.

Die historische Dimension ist gegenüber der – freilich nach Zahl der Wörter deutlich umfangreicheren – 7. Auflage zurückgeschnitten. Beibehalten wurden Einzelartikel zu wichtigen Parteien; im vorliegenden Band findet sich so das Zentrum behandelt (W. Becker, S. 536–542). Hingegen gibt es nunmehr keine biographischen Einträge mehr, was in Fällen wie G. Wirth, L. Windthorst oder Zwingli sicher zu verschmerzen ist. Doch ohne Ordnungsdenker wie William von Ockham und Max Weber fehlt dem Werk historische Tiefenschärfe. Das angefügte, über 300 Seiten umfassende Register zum Gesamtwerk listet für Weber mehr als hundert Nennungen, darunter im vorliegenden Band den Artikel „Werturteil", für Ockham deren vierzehn. Evident historische Artikel gibt es jedoch durchaus noch. So verfolgt P. Brandt die Entwicklung des Begriffs „Volk" und stellt für die Gegenwart fest, die „Zurückweisung, jedenfalls Relativierung von tradierten Gemeinschaftsvorstellungen" werfe ein Demokratieproblem auf, benötige doch auch der moderne, auf Inklusion angelegte demokratische Staat „ein Mindestmaß an ‚sozialer' [...] und kultureller Homogenität" (S. 8). Erloschene historische Formationen wie der Völkerbund, der Volksverein für das katholische Deutschland oder der Warschauer Pakt haben knappe Einträge; die Weimarer Republik ist in einem engagierten Artikel über ihre Verfassung (Chr. Gusy) aufgehoben. Ausführlicher erläutern J. Leonhard die Weltkriege und Th. Brechenmacher den Zionismus. Der knappe Artikel „Westen" ist für die Antike eher irreführend; hier wäre es wohl besser gewesen, nur die Moderne zu behandeln, anstatt retrospektive Kontinuitätsfiktionen nachzusprechen. Die multidisziplinäre Anlage des Werkes bildet der Kompositartikel „Widerstand" ab, in dem drei Autoren die ethischen Grundlagen, sodann Widerstand im Nationalsozialismus sowie in der DDR behandeln; hinzu kommt „Widerstandsrecht" aus jeweils gesonderter theologischer, philosophischer und juristischer Sicht. Verbindungen zwischen religiösen Normsetzungen bzw. -begründungen und ihren neuzeitlichen Transformationen zeigt der zupackende Eintrag „Zehn Gebote" (Chr. Breitsameter) auf. Die Veränderungen im Konzept von „Zeitgeschichte" skizziert H. G. Hockerts; der Artikel mündet in den berechtigten Hinweis, Zeitgeschichte als Wissenschaft sei von öffentlicher Erinnerungskultur und offizieller Geschichtspolitik zu unterscheiden; allenfalls leise Kritik klingt in der abschließenden Feststellung an, das Konzept Public History verstärke neuerdings die Bemühungen, akademische und öffentliche Geschichte zu verschränken.

Beklagt werden muss das Fehlen der historischen Dimension in einem Artikel wie „Zensur", die von H. Bethge ausschließlich juristisch vorgestellt wird. So hängt eine zentrale Aussage („Ob neben dem Staat auch ihm wirkungsgleiche private, wirtschaftliche bzw. gesellschaftliche Machtgruppierungen [Konzerne, Medien, Verbände] der Bindung an die Grundrechte unterliegen, war die große Frage des letzten Jahrhunderts.") ziemlich in der Luft, ebenso wie ihre lapidare Fortschreibung in die Gegenwart über die „staatsähnliche Wirkungsmacht zumal supranationaler sozialer Netzwerke" (S. 512). Der Verfasser von „Zukunftsforschung" benennt zwar durchaus wesentliche Etappen der disziplinären Entwicklung, sieht diese aber offenbar als Elemente der Bestätigung; seine Bilanz verblüfft: Zukunftsforschung sei eine Wissenschaft gegen Zukunftsangst; über kritische Gegenwartsanalysen hinaus mache sie „Zukunftspotentiale sichtbar und leistet verlässliche Zukunftsorientierung" (S. 587). Die recht umfangreiche Bibliographie listet sieben Arbeiten aus der Feder des Autors, nicht jedoch die Historisierung durch E. Seefried (Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980. Berlin/Boston 2015). J. Radkau brandmarkte in seiner Rezension dieses Buches mit Recht das „futurologische Fiasko der frühen 1970er Jahre" sowie einen „neuen naiv-geschichtsvergessenen ‚Zukunfts'-Boom der jüngsten Zeit". Die Zukunft mit ihren Überraschungen, ihren Kontingenzen, ihren Synergieeffekten unterschiedlicher Entwicklungslinien entziehe sich dem systematischen Zugriff und dessen zwangsläufig eingeschränktem Blickwinkel; sie brauche „den vagabundierenden Blick, die scharfe multiperspektivische Beobachtung gegenwärtiger Entwicklungen: womöglich eine Chance für einen neuen Typ von Historiker" (geschichte für heute 9/1, 2016, 90–97, hier: 97). Vorbildlich erscheint hingegen der Artikel „Wohnen" (Chr. Illies/W. Siebel, 452–464), wird hier doch zunächst mit weitem ideengeschichtlichem Blick der philosophische Kern der anthropologischen Universalie Wohnen als einer „soziale(n) Kulturleistung, die uns Weltbewältigung ermöglicht" (S. 452), herausgearbeitet, ohne die realhistorische Entwicklung und soziologische Figuration zu vergessen ‒ bis hin zu dem schönen Diktum, Wohnungspolitik sei unabschaffbar (S. 462).

Der Zufall des Alphabets sorgte dafür, dass auch in diesem Band unerwartete Einträge relativ selten sind, weil sehr viel Pflicht abzuarbeiten war; dazu gehören Komposita von „Volk/Völker", „Wirtschaft" und „Wissenschaft" nebst ihren zusammengesetzten Bildungen sowie – hier ist die Verwurzelung in der Katholischen Soziallehre noch spürbar – „Wohlfahrt", „Wohlfahrtspflege", „Wohlfahrtsstaat" und „Wohlfahrtsverbände". In dem überraschend knappen Artikel „World Wide Web" (drei Spalten) stellt sich das Aktualitätsproblem eines gedruckten Lexikons selbstverständlich besonders auffällig; dass der jüngste Titel der ohnehin knappen Bibliographie 2015 erschienen ist, wäre vielleicht doch vermeidbar gewesen. Dem Eintrag folgen „Wucher" und „Würde" ‒ bisweilen liegt im simplen Alphabet auch eine List der Vernunft.

Der Termindruck, unter dem das Unternehmen zweifellos stand, hat verhindert, die frühzeitig monierten Mängel in den Bibliographien auszubügeln. Statt des starren chronologischen Anordnungsprinzips – jüngst erschienene Titel zuerst – wäre eine gewichtete systematische Anordnung, etwa nach Forschungsberichten, neueren Überblickswerken, Klassikern und richtungweisenden Forschungsbeiträgen, klar vorzuziehen gewesen. Der Zufall regiert, weil Quellenwerke nach dem Erscheinungsjahr der benutzten Ausgabe eingeordnet sind; so stehen bei „Zivilisation" Th. Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen" an der Spitze, da sie nach der neuen Werkausgabe zitiert werden; an dritter Stelle folgt Alfred Weber. Verweise im Text wie „Mann 2009" und „Weber 2000" sind einfach ärgerlich und kein gutes Vorbild für Studenten. Gerade für dem Thema Fernerstehende wäre im letzten Lemma des Werkes – zum Zweiten Vaticanum – eine geordnete Orientierung wichtig gewesen, doch die Aufstellung am Ende des zweiten Teilartikels beginnt mit J. Assmanns „Exodus. Die Revolution der Alten Welt"!

Bei aller Kritik im Detail kann kein Zweifel bestehen, dass das „Staatslexikon" auch in seiner erneuerten Gestalt ein gelungenes und wertvolles Werk darstellt. Im Vorwort zum Abschluss ist von humanitären, ökologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Grundsatzfragen die Rede, „Fragen, die teils neue Antworten verlangen, teils aber auch solche, die sich aus unverzichtbaren und unwandelbaren Prinzipien menschenwürdiger Existenz in Konfrontation mit neuen Realitäten ergeben". Implizit wider einen überzogenen Konstruktivismus gerichtet bietet das Werk Bausteine und Hilfen zur „Reflexion eines Ordnungsrahmens"; es adressiert „das grundsätzliche und beständige Problem der Wertorientierung im Wandel" (Artikel „Wertewandel": S. 223–228). Der ‚Zeitgeist' bewegt sich gewiss nicht linear; in diesem Sinne habe die moderne Sozialwissenschaft ausgangs des 20. Jahrhunderts „den Staat wiederentdeckt, vor allem wegen der Ausweitung und Intensivierung der Staatstätigkeit und ihres gesellschaftspolitischen Gestaltungspotentials", das zwingend mit höherer sozialer Verantwortung einhergehe. Zugespitzt: Der Terminus „Staatswissenschaften" habe Geltung zurückgewonnen.

Die griffigen blauen Leinenbände regen auch durch ihr Layout zum Lesen an. Sie aufzuschlagen bietet die Chance zur entschleunigten Reflexion, sich zu vertiefen, stiftet Ordnung im Kopf. Die Artikel sind kostenfrei unter https://www.staatslexikon-online.de abrufbar; es gibt das Werk auch als App. Eine fortlaufende digitale Aktualisierung ist angekündigt.

By Uwe Walter

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Titel:
Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, Staatslexikon. Recht ‒ Wirtschaft ‒ Gesellschaft. Hrsg. von der Görres-Gesellschaft und dem Verlag Herder. Sechster Band: Volk ‒ Zweites Vatikanisches Konzil. 8., völlig neu bearb. Aufl. Freiburg im Breisgau/Basel/Wien, Herder 2021
Autor/in / Beteiligte Person: Walter, Uwe
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 701-705
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2022-1417
Schlagwort:
  • STAATSLEXIKON: Recht - Wirtschaft - Gesellschaft (Book)
  • LEXICON
  • LINGUISTICS
  • PROTESTANTS
  • NONFICTION
  • Subjects: STAATSLEXIKON: Recht - Wirtschaft - Gesellschaft (Book) LEXICON LINGUISTICS PROTESTANTS NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie – Alte Geschichte, Bielefeld,, 33501, Germany.
  • Full Text Word Count: 1477

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