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Maximilian Rönnberg, Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse. (Tübinger Archäologische Forschungen, Bd. 33.) Rahden, Westfalen, Leidorf 2021

Walter, Uwe
In: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 714-718
Online review

Maximilian Rönnberg, Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse. (Tübinger Archäologische Forschungen, Bd. 33.) Rahden, Westfalen, Leidorf 2021 

Maximilian Rönnberg, Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse. Tübinger Archäologische Forschungen, Bd. 33. 2021 Verlag Marie Leidorf GmbH (VML) Rahden, Westfalen, 978-3-89646-864-2, € 79,80

Drei Operationen bestimmen die Rekonstruktion der historischen Prozesse im frühen Griechenland vom Ausgang der Bronzezeit bis ins 6. Jahrhundert: Es gilt, die literarischen und epigraphischen Zeugnisse zu befragen, die archäologischen Befunde zu bewerten sowie Modelle zu bilden und das Material damit aufzuschließen. Für Athen sind die Bemühungen um das eisenzeitliche archäologische Material in den letzten Jahren durch Fundpublikationen bzw. Studien zumal von J. Papadopoulos und E. Smithson, A. Doronzio und E. Dimitriadou auf eine neue Grundlage gestellt worden. Die nunmehr vorliegende, in jeder Hinsicht gewichtige Arbeit von Maximilian Rönnberg, eine Tübinger archäologische Dissertation, unterscheidet sich von den genannten Werken v. a. dadurch, dass hier auch die literarischen Zeugnisse (epigraphische gibt es für Athen bekanntlich leider erst seit Ende des 6. Jahrhunderts) eindringlich und mit beeindruckender Literaturkenntnis diskutiert sind.

Einleitend (S. 1–22) verwirft Rönnberg verbreitete Generalisierungen aus früheren, nur punktuellen Befunden, u. a. zur Bevölkerungsentwicklung (dazu dann bündig S. 130–132), sowie die immer noch verbreitete Frage nach einem Zeitpunkt, wann die Polis entstand. Schon der Begriff sei für das 8. und 7. Jahrhundert problematisch, weil die agency unklar sei und sich etwa die ältesten Kultstätten auch als Orte aristokratischer Konkurrenz lesen ließen. Die Formierung urbaner Strukturen stelle grundsätzlich „zunächst ein gewissermaßen oberflächliches Phänomen dar, das inhaltlich mit dem politischen Phänomen der Formierung von Staaten verschränkt sein kann, aber nicht muss" (S. 16). So empfehle es sich, bei der Interpretation des archäologischen Materials den Begriff der Polis zu vergessen und auf die Gesellschaft zu schauen.

Rönnberg betrachtet – eine oft vernachlässigte Tugend! – literarische Zeugnisse und Bodenfunde je für sich und verbindet das mit jeweils passenden konzeptuellen Modellierungen: Während bei der Quellenexegese (Kap. II, S. 23–82) die Entstehung staatlicher Strukturen sowie das Verhältnis zwischen Athen und Attika im Vordergrund stehen, liegt der Akzent danach zunächst auf der Besiedlungsgeschichte und Siedlungsstruktur (Kap. III, S. 83–166), sodann auf den in der materiellen Kultur fassbaren gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Wegen der Befundsituation liegt es nahe, „Gräber als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen" (Kap. IV, S. 167–216) sowie „Die Heiligtümer als Orte sozialer Gruppenbildung" (Kap. V, S. 217–258) zu untersuchen. Um Muster und lange Entwicklungen fassen zu können, greift Rönnberg bis in die submykenische Zeit zurück und bietet nicht weniger eine Zusammenstellung aller bislang publizierten Befunde aus Attika bis ins frühe 6. Jahrhundert. Dieses Material wird in einem nach Subregionen gegliederten Katalog (S. 286–389) vorgelegt, ergänzt um Listen der gut 1000 figuralen Keramikgefäße vom 8. bis frühen 6. Jahrhundert sowie von ‚Orientalia' des 11. bis 7. Jahrhunderts (S. 393–426). Durch ein System von Abkürzungen sind die Einträge des Befundkatalogs in die darstellenden Kapitel III bis V eingespeist; in diesen schreitet Rönnberg zunächst Orte bzw. Regionen ab, bevor diachron eine Entwicklung skizziert wird. Die Bibliographie umfasst nahezu 130 Seiten. Auf die Register (Sachen, Personen, Orte) folgen Diagramme, Karten und Abbildungen ausgewählter Objekte. Die Seiten des Buches erinnern an G. Busolt: oft nur wenige Zeilen Text, den größeren Teil füllen Anmerkungen. Der Zweispaltendruck unterstreicht die monumentale Anmutung. Eine klare Gliederung sowie Zusammenfassungen auf verschiedenen Ebenen erleichtern es Nichtfachleuten, sich die Einsichten aus Rönnbergs stupender Leistung anzueignen. Vertrauen erzeugen auch die methodologischen Erörterungen, etwa zur Gräberstatistik (S. 199–214) oder zur Keramikchronologie (S. 271–277).

Im erwähnten zweiten Kapitel pflegt der Verfasser eine rigorose Quellenkritik; selbst von Solon bleibt nichts übrig als ein Name, dem erst im 5. und 4. Jahrhundert z. T. in anachronistischer Rückprojektion Gedichte und Gesetze zugeschrieben worden seien. Ich würde längst nicht so weit gehen, zumal Rönnberg die naheliegende Frage nicht beantworten kann, warum die Athener all die mit Solon verknüpften Gedanken und Regelungen, die sich bei genauer Interpretation zu einem Entwurf fügen, auf eine so schattenhafte, ja kaum zu greifende Figur projizierten. Die dem Autor zufolge nur zu erahnenden Institutionalisierungsschritte (Phylen/Phratrien, Archontat, weitere Ämter) bleiben ebenfalls vage. Gleichwohl können diese 60 Seiten als gründliche quellenkritische Aufarbeitung der literarischen Tradition gelten. Besonders erhellend erörtert Rönnberg in diesem Kontext das Problem der Einheit Attikas (Synoikismos, mögliche Inkorporation von Eleusis u. a.); wichtiger als die plausible, jedoch recht allgemeine Annahme einer „sukzessiven Verschränkung des späteren Zentrums Athen mit dem Rest Attikas" (S. 78) erscheint der Hinweis, dass die Frage nach der ‚Einheit' Attikas bis ins 7. Jahrhundert hinein verfehlt sei: Da der Verdichtungs- und Institutionalisierungsprozess außerhalb von Athen (und möglicherweise Eleusis) verzögert abgelaufen sein dürfte, habe die Zugehörigkeit bestimmter Siedlungen zu einem ‚Athen' in geometrischer Zeit kein Thema oder gar Problem dargestellt. Den Beitrag archäologischer Arbeiten wie der seinen sieht der Verfasser darin, „den groben gesellschaftlichen Rahmen zu umreißen und so Folien zu schaffen, die mit den allgemeinen Entwicklungen im archaischen Griechenland verknüpft und ggf. mit konkreteren Abläufen, wie sie in Athen oder an anderen griechischen Orten nachvollziehbar werden, kontrastiert werden können" (S. 82).

Hinsichtlich der Besiedlungsgeschichte und Siedlungsstruktur schreitet Rönnberg das Untersuchungsgebiet nach Unterregionen ab: Attika im Süden, Osten, Nordosten, Westen, Nordwesten und Norden, dazu Salamis, die Umgebung Athens und Athen selbst. Die zahlreichen wertvollen Beobachtungen können hier nicht referiert werden; erwähnt sei, dass wohl oft Siedlungskontinuität seit der Bronzezeit bzw. mindestens seit geometrischer Zeit sowie erstaunlich dichte Besiedlungen anzunehmen seien, ferner, dass Attika und selbst Athen lange Zeit in verstreuten Weilern mit jeweils eigenen Nekropolen bewohnt waren. Der Verfasser benennt und diskutiert die Fallstricke, wenn es darum geht, aus den publizierten Befunden generellere Entwicklungsaussagen zu formulieren (u. a. chronologisch unpräzise Publikationen, ungleiche archäologische Sichtbarkeit verschiedener Phasen, Probleme der Keramikchronologie); der Prozess der Siedlungsverdichtung in Athen während der archaischen Zeit könne nicht näher bestimmt werden (S. 142). Dennoch erscheint es plausibel, ältere Annahmen einer nach Zahl und Orten diskontinuierlichen Bevölkerungs- und Besiedlungsentwicklung seit Beginn der Eisenzeit vorsichtig zu korrigieren (S. 127: „deutliche Verdichtung der Siedlungsaktivitäten, nicht jedoch grundsätzliche Veränderungen im Siedlungsmuster").

Generell setzt Rönnberg beschleunigte Formierungen, zumal von Staatlichkeit, spät an; das 6. Jahrhundert hat eine große Transformationslast zu tragen. Für die Zeit davor deute die unzusammenhängende Siedlungsweise „mit in sich weitgehend geschlossenen und zwar wohl nicht im eigentlichen Sinne stratifizierten, doch sozial differenzierten Untereinheiten auf segmentäre Gesellschaften" hin (S. 157). Manche Siedlungsgemeinschaften hätten zwischen hierarchischen und egalitären Strukturen geschwankt; neben der Dominanz einzelner Siedlungsführer habe es Konkurrenzverhältnisse bis hin zu akephal bleibenden Binnengliederungen gegeben (S. 159). Dafür sprächen nicht zuletzt „Dorfspaltungsprozesse" (S. 164), die noch lange in unbesiedelte Gebiete ausgreifen konnten (nicht zu verwechseln mit einer „Binnenkolonisation"!). Auch die „Grabvariabilität" im spätgeometrischen Attika, also ein Nebeneinander und bisweilen eine schnelle Folge sich wandelnder Bestattungssitten, deuten in Rönnbergs Rekonstruktion auf Konkurrenzen innerhalb einer segmentär gegliederten Gesellschaft, wobei es kaum darum gegangen sei, eine „Zugehörigkeit zur Gesamt-Gemeinschaft zu betonen" (S. 191). In dieser Verknüpfung liegt indes ein Problem, denn das Konzept der Konkurrenz hat einen gemeinsamen Orientierungsrahmen sowie eine den Rang im Wettbewerb bestimmende Instanz zur Bedingung. Wer auch immer diese Instanz war: Der Vorgang als solcher setzt – anders als bloße Koexistenz – logisch eine gewisse ‚Zentralisierung' voraus. Mag der vom Verfasser angenommene Wettbewerb „differierende Repräsentationsstrategien verschiedener Gruppen" befördert haben (S. 192) – diese müssen sich aufeinander und auf ein geteiltes Drittes bezogen haben. Abgesehen davon ist die Annahme von „längerfristigen strukturellen Veränderungen in der frühen Eisenzeit" (S. 213) sicher nicht falsch, und es erscheint auch plausibel, aus der Art und Verteilung der Grabbefunde zunächst eine Devolution nach dem Ende der Bronzezeit zu erkennen in dem Sinne, dass eine „kleinräumige Betonung des persönlichen Status vom späten 11. bis ins 9. Jh. v. Chr. an Bedeutung gewann, während anschließend wieder sukzessive gesamtgesellschaftlich gedacht wurde" (S. 215). Nicht zuletzt größere Nekropolen deuteten auf neuerliche Orientierungen auf ein Gemeinsames ab dem 8. Jahrhundert hin.

Im Kapitel zu den Heiligtümern dominiert die Frage nach der Funktion der erstaunlich zahlreichen Stätten (einschließlich Höhen- und Höhlenheiligtümer sowie Kultplätze an Gräbern) für die Siedlungsgemeinschaften in Attika. In Athen selbst wuchs die Akropolis, im 8. Jahrhundert noch Nekropole, Siedlungsort und Heiligtum in einem, allmählich zu einer Stätte, an der Eliten zusammenkamen, Weihungen tätigten und Feste veranstalteten. Die Heiligtümer, sowohl größere wie die Akropolis als auch kleinere, lokale wurden zu „Versammlungs- und Interaktionsorten größerer Teile der Gesellschaft" (S. 255). Zugleich wirkten diese Orte verdichteter Kommunikation katalytisch auf die „Gruppenbildungsprozesse verschieden großer Skalen" (S. 254), d. h. die sozialen Bindungen und v. a. Hierarchien, nachdem die bloße Ausdehnung flacher, segmentärer Strukturen im Modus der Dorfteilung wegen wachsender Siedlungsdichte versperrt war. Jedenfalls könne die Entstehung der Heiligtümer noch im 7. Jahrhundert „keineswegs direkt mit der Formierung der athenischen Polis verbunden" werden (S. 258). An dieser Stelle lässt sich eine Brücke zu den Forschungen Jan B. Meisters schlagen: Erst die physisch-präsente Ausrichtung der Eliten auf gemeinsame Orte und Praktiken schuf die Voraussetzungen für ein politisches Zusammenwachsen der zuvor für sich lebenden Orte und Regionen Attikas.

Die von Rönnberg rekonstruierten Prozesse stellten, so wird in der Zusammenfassung (S. 259–263) nochmals betont, lediglich Voraussetzungen für die Verdichtung von Staatlichkeit in Athen und Attika seit dem 6. Jahrhundert dar. Dabei unterscheidet der Autor eine Phase der stärkeren gesellschaftlichen Fragmentierung vom 11. bis zum 9. Jahrhundert und eine „Periode der wachsenden sozio-kulturellen Verbindungen ab dem 8. Jahrhundert v.Chr." (S. 260). Verbindendes Element zwischen der segmentären und der konsolidierten, sich allmählich stratifizierenden Gesellschaftsform sei Konkurrenz innerhalb der Eliten gewesen. Hinsichtlich der ‚Einheit' Attikas unter Führung Athens muss der Verfasser vage bei der Annahme einer „sukzessiven Vertiefung der innerattischen Beziehungen im Zusammenhang der strukturellen Verdichtung des athenischen Gemeinwesens" bleiben (S. 262). Die „kleinteiligen, instabilen Machtstrukturen segmentärer Ranggesellschaften" in der frühen Eisenzeit und der archaischen Zeit „erlaubten die Herausbildung einer politischen Gemeinschaft in einem derart großen Areal kaum" (ebd.). Wenn das zutrifft, stellt sich die Frage nach dem Sonderweg Attikas – die großen Siedlungen außerhalb Athens wurden eben keine eigenständigen Poleis, anders als im ähnlich großen und geographisch ähnlich segmentierten Boiotien! – lauter denn je. Man wird sie kaum beantworten können, ohne auf politischen Willen zurückzugreifen, womit dann auch Solon wieder im Spiel wäre. Die Diskussion wird jedoch künftig von Maximilian Rönnbergs Buch ausgehen müssen.

By Uwe Walter

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Titel:
Maximilian Rönnberg, Athen und Attika vom 11. bis zum frühen 6. Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse. (Tübinger Archäologische Forschungen, Bd. 33.) Rahden, Westfalen, Leidorf 2021
Autor/in / Beteiligte Person: Walter, Uwe
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 714-718
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2022-1422
Schlagwort:
  • ATHEN und Attika vom 11. bis zum fruhen 6.Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse (Book)
  • RONNBERG, Maximilian
  • INSTITUTIONALIZED persons
  • LEGAL settlement
  • NONFICTION
  • Subjects: ATHEN und Attika vom 11. bis zum fruhen 6.Jh. v. Chr. Siedlungsgeschichte, politische Institutionalisierungs- und gesellschaftliche Formierungsprozesse (Book) RONNBERG, Maximilian INSTITUTIONALIZED persons LEGAL settlement NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie – Alte Geschichte, Bielefeld,, 33501, Germany.
  • Full Text Word Count: 1687

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