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Volkhard Knigge (Hrsg.), Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft. (Buchenwald und Mittelbau-Dora. Forschungen und Reflexionen, Bd. 4.) Göttingen, Wallstein 2022

Brüning, Christina
In: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 845-847
Online review

Volkhard Knigge (Hrsg.), Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft. (Buchenwald und Mittelbau-Dora. Forschungen und Reflexionen, Bd. 4.) Göttingen, Wallstein 2022 

Volkhard Knigge, Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft. Buchenwald und Mittelbau-Dora. Forschungen und Reflexionen, Bd. 4. 2022 Wallstein-Verlag GmbH Göttingen, 978-3-8353-1914-1, € 26,-

Der Band versammelt mit einiger Verzögerung insgesamt 28 Beiträge, darunter lediglich vier von Frauen, die zumeist auf oder im Anschluss an die Tagung „70 Jahre danach. Historisches Begreifen und politisch-ethische Orientierung in der Gedenkstättenarbeit des 21. Jahrhunderts" 2015 in Berlin entstanden sind. Gegliedert ist diese große Vielfalt an Texten in die Bereiche „Theoretische Interventionen und Orientierungen", „Kontexte im Wandel" sowie „Reflektierte Praxis". Teilweise wurde der Vortragsmanuskriptcharakter beibehalten, teilweise wurden die Beiträge überarbeitet oder auch aktualisiert. Etwas unspezifisch bleibt die Zuordnung der großen Menge an Texten zu den drei genannten Großkapiteln. Nur schwer lässt sich der Eindruck widerlegen, dass unter der Überschrift „reflektierte Praxis" ebenso theoretische Einlassungen zu finden sind wie in den anderen beiden Teilen, sodass Leser:innen, die sich praxisnahe Ideen, Modellprojekte, Best practice-Vorstellungen u. ä. erhoffen, sicherlich enttäuscht wären.

Mit Lutz Niethammer, Jörn Rüsen, Norbert Frei, Martin Sabrow, Andreas Wirsching, Falk Pingel, Wulf Kansteiner, Micha Brumlik und natürlich dem Herausgeber selbst ist das Who ist Who der immer noch männlich dominierten Erinnerungskulturlandschaft in Deutschland vertreten. Als Referenzwerk ist der Sammelband also für Menschen, die einen Überblick über die etablierte Forschungslandschaft erhalten wollen, sicherlich hilfreich. Aufmerksamen Beobachter:innen dürfte aber nicht entgangen sein, dass in der Zeit zwischen der Tagung und dem Erscheinen des Bandes viele der Texte so gut wie wortgleich in anderen Publikationszusammenhängen erschienen sind. Das kostenlos downloadbare APuZ Heft von 2016 (Holocaust und historisches Lernen) enthält beispielsweise drei der Beiträge.

Den Auftakt des Bandes bildet eine Ansprache von Ivan Ivanji („Warum ich kein Zeitzeuge mehr sein will"): „Wenn ich in meinem Leben nichts anderes vollbracht hätte, als ‚als Jude' in Konzentrationslagern gewesen zu sein, wäre ich mit meinem Leben nicht zufrieden" (S. 36). Neben seiner vollkommen berechtigten Kritik schlägt Ivanji einen Bogen zur 2015 aktuellen Krise, die er die erste „Völkerwanderung" bei der das „Fernsehen dabei" ist, nennt. Ivanji ruft zum Kampf auf für die, „die heute leiden. Das ist noch wichtiger, als dass sie uns nicht vergessen" (S. 36). Seinen Appell beendet er mit Hoffnung, die er in die Jugend setzt: „Es ist sinnvoll, mit den jungen Menschen zu sprechen. Sie werden das richtige tun" (S. 37). Dieser Beitrag setzt einen Orientierungsrahmen, der mit dem den Band beschließenden Beitrag von Micha Brumlik zur Globalisierung der Erinnerung („Kosmopolitische Moral. Globales Gedächtnis und Menschenrechtsbildung") diese Vergleiche nationalsozialistischer Verbrechen zu vergangenen, aber eben auch aktuellen Verbrechen oder Menschenrechtsthematiken erneut aufgreift, eine in der Holocaust Education verbreitete, aber nicht unumstrittene Ausrichtung.

Innerhalb dieses breit gefassten Rahmens gibt es daher auch etliche, einen weiten Fokus aufgreifende Beiträge, die beispielsweise einen Vergleich von Nationalsozialismus und DDR diskutieren (Klaus-Dietmar Henke) oder die Erinnerung an die SED-Diktatur selbst (Hans-Joachim Veen) thematisieren sowie auf Fragen und Herausforderungen der (post-)migrantischen Gesellschaft eingehen (Volkhard Knigge, Astrid Messerschmidt, Omar Kamil).

Weiterführende Impulse geben auch die geschichtsdidaktischen sowie gedenkstättenpädagogischen Beiträge von Holger Thünemann, Axel Doßmann, Beatrice Ziegler, Falk Pingel sowie Matthias Proske und Verena Haug. Thünemanns Beitrag „Lernen aus der Geschichte? Überlegungen zur historischen Auseinandersetzung mit NS-Vergangenheit und Holocaust", in dem er die Debatten um das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas aufgreift, gibt dabei einen knappen und – bei der Fülle der Publikationen – notwendigerweise unvollständigen Einblick in die empirische Forschung zu Nationalsozialismus und Holocaust-Vermittlung in Schulen. Hier hätte eine größere Bandbreite an aktuellen empirischen Studien, ein Aspekt, der im gesamten Band zu kurz kommt, sicherlich dankbare Leser:innen gefunden.

Zukunftsweisende Denkanstöße bietet v. a. der Beitrag Cornelia Siebecks. Als Mitarbeiterin in einer KZ-Gedenkstätte übt sie selbstkritische „Narrativkritik" und beleuchtet vor dem Hintergrund aktueller politische Fehlentwicklungen und erinnerungskultureller Missstände die „Geschichten vom Angekommensein" ebenso wie die „Erfolgsgeschichten". Dieses Gegen-den-Strich-Bürsten, wie sie es selbst nennt, fordert ein Ende der Bequemlichkeit und dient der Selbstbeunruhigung, derer wir dringend benötigen. Zu lange hat sich Deutschland nach 1990 in seinem Nationsbildungsprozess als Weltmeister der Erinnerung gefühlt und sich auf einem vermeintlich bestehenden Erinnerungskonsens ausgeruht, wie Siebeck pointiert ausführt. Solcherart widerspenstiger Interventionen und (selbst-)kritischer Stimmen kann unsere Disziplin gar nicht genug haben!

By Christina Brüning

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Titel:
Volkhard Knigge (Hrsg.), Jenseits der Erinnerung – Verbrechensgeschichte begreifen. Impulse für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft. (Buchenwald und Mittelbau-Dora. Forschungen und Reflexionen, Bd. 4.) Göttingen, Wallstein 2022
Autor/in / Beteiligte Person: Brüning, Christina
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 315 (2022-12-01), Heft 3, S. 845-847
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2022-1491
Schlagwort:
  • JENSEITS der Erinnerung-Verbrechensgeschichte begreifen: Impulse fur die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft (Book)
  • KNIGGE, Volkhard
  • NATIONAL socialism
  • HISTORY of crime
  • NONFICTION
  • Subjects: JENSEITS der Erinnerung-Verbrechensgeschichte begreifen: Impulse fur die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach dem Ende der Zeitgenossenschaft (Book) KNIGGE, Volkhard NATIONAL socialism HISTORY of crime NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Berlin, Germany.
  • Full Text Word Count: 724

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