The article examines a genre of popular literature that accompanied the build-up of the German navy in the 1880 s and 1890 s. This Marineliteratur produced seminal images and narratives closely related to political naval and colonial discourses of the Deutsches Kaiserreich. The proponents of a national navy were then able to draw upon the wealth of these "naval fantasies" for their own propaganda. By appealing to a broad audience, but especially to young bourgeois men, the literary genre problematically partakes in shaping and popularizing national, imperial, and masculine identities.
Eher beiläufig hat Michel Foucault darauf hingewiesen, dass Schiffe in der Geschichte der Neuzeit nicht nur das „wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung", sondern auch „das größte Reservoir für die Phantasie" gewesen seien: „In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume". Wenn das stimmt, dann beginnt Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu träumen. Bis dahin kommt die deutschsprachige Literatur weitgehend ohne Schiffe aus, und auf der politischen Agenda steht der Aufbau einer deutschen Marine erst nach der Ernennung Wilhelms II. zum deutschen Kaiser (1888) und dem Rücktritt Otto von Bismarcks (1890). Vorangetrieben wird dieser Aufbau, der mit den Bemühungen um ein eigenes Kolonialreich verbunden ist, bekanntlich von Alfred Tirpitz. Noch vor seiner Ernennung zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes (RMA) erklärt dieser im Jahr 1896 den Flottenbau in einem Memorandum zur „neuen besonderen nationalen Aufgabe". Die Finanzierung des Unternehmens ist freilich von der Zustimmung des Reichstags abhängig. Und so lanciert Tirpitz in den nächsten Jahren als Staatssekretär, mithilfe eines eigens gegründeten Nachrichtenbüros, eine „Werbekampagne ungeheuren Ausmaßes", um „größere Kreise der Nation [...] so zu erwärmen, daß von ihnen schließlich der erforderliche Druck für die Reichstagsbewilligung ausgeht". Dabei findet auch die Literatur Beachtung: In besagtem Memorandum werden nicht nur Übersetzungen fremdsprachlicher Literatur empfohlen, um das „Verständnis" für Maritimes „in Deutschland zu erweitern", sondern auch die „Erzeugung deutscher Literatur in diesem Sinne, eingeschlossen solche novellistischer Art nach Cooper und Marryat".
Tirpitz' Bemühungen haben Erfolg: 1898 und 1900 verabschiedet der Reichstag – gegen die Stimmen der SPD-Abgeordneten und einiger Liberaler – zwei Flottengesetze, die den Ausbau der Hochseeflotte festlegen. Die Literatur ist der Wirklichkeit allerdings um einige Jahre voraus. Schon bevor das Nachrichtenbüro des RMA aktiv wird und eine Flut von Texten erscheint, die Deutschland zur See schicken – so der bezeichnende Titel eines Buches von 1914 –, hat sich im Deutschen Reich eine Literatur etabliert, die gezielt junge Leser adressiert, sie auf abenteuerliche Seereisen Durch alle Meere (1889) mitnimmt und insbesondere auch die jungen deutschen Kolonien ansteuert. Diese Literatur, eine ‚Marineliteratur' im weiteren Sinne, nimmt die Marineagitation der 1900er-Jahre vorweg und macht die deutsche Marine im wörtlichen Sinne populär, denn es handelt sich um unterhaltsame und breitenwirksame Texte. Erzählt wird, den Untertiteln zufolge, beispielsweise von den Erlebnissen eines deutschen Seekadetten in südlichen Meeren (Abb. 1), von den Abenteuern der Kadetten S. M. Korvette „Scharfschütz" auf deren Kreuzfahrten in tropischen Meeren oder vom Leben der Matrosen unserer Kriegsmarine.
Graph: Abb. 1 E[ginhard] von Barfus: Deutsche Marine am Kongo und in der Südsee. Erlebnisse eines deutschen Seekadetten in südlichen Meeren. Stuttgart: Bardtenschlager [1892].
Diese Marineliteratur der 1880er- und 1890er-Jahre, die im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen wird, träumt also bereits von Schiffen, bevor die Politik und die staatlich geförderte Marineliteratur nach 1900 sich des Themas gezielt annehmen. Und: Sie bereitet den politischen Träumereien den Weg, indem sie semantische und narrative Muster zur Verfügung stellt. Dass diese Träumereien alles andere als unschuldig sind, ist mit Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte und die verhängnisvollen Folgen der Aufrüstung zur maritimen Großmacht offensichtlich. Von Träumereien zu sprechen, ergibt dennoch Sinn: Texte wie die genannten kreieren – wie man in Anlehnung an Susanne M. Zantops Konzept der ‚Kolonialphantasien' sagen könnte – Marinefantasien: Die maritimen „Szenarios", die die Marineliteratur entwirft, gehen den realen Unternehmungen voraus und führen ihren Lesern (tatsächlich werden gezielt Männer angesprochen) die Einheit der deutschen Nation ebenso vor Augen wie die Notwendigkeit einer deutschen ‚Weltpolitik'. Bestenfalls rufen die Texte – so ein zeitgenössischer Autor – bei „unserem binnenländischen Träumervolke" eine Begeisterung hervor, „die es zu großen Thaten und Opfern bereitmacht". So sind Schiffe in dieser Zeit nicht nur ein ‚Reservoir für die Phantasie' schlechthin, sondern insbesondere auch ein Reservoir nationaler und imperialistischer Fantasien, und diese Fantasien nehmen bevorzugt in „populären Narrationen" der Unterhaltungsliteratur Gestalt an. Wie sehen diese Narrationen der Marineliteratur aus? Die folgenden Überlegungen dienen zunächst dazu, die Texte grob innerhalb der Medienliteraturgeschichte des späten 19. Jahrhunderts zu verorten. Danach werden drei Dimensionen der Marinefantasien anhand exemplarischer Texte genauer in den Blick genommen, unter punktuellem Einbezug der politischen Diskurse, auf die die Texte vorausgreifen.
Wie steigert man die „Popularität der deutschen Seemacht" mithilfe von Literatur? Einen möglichen Weg zeigt Tirpitz' Memorandum, mit dem Hinweis auf Cooper und Marryat, auf: Indem man populäre Formen von Literatur für seine Zwecke einspannt. Ähnlich argumentiert der Militärschriftsteller Friedrich von Dincklage in einem Beitrag zu der vom RMA herausgegebenen Marine Rundschau (1898), wenn er der „bequemen Form von Romanen und Novellen, von Humoresken und spannenden Seegeschichten" zutraut, die „Kenntnis seemännischer Verhältnisse" wie „die Liebe zur Sache" zu steigern. Dabei ist sich Dincklage bewusst,
[d]aß die Männer, von deren Einsicht die Entwicklung unserer Marine abhängig ist [...], schwerlich selbst Romane und Marineskizzen lesen [...]. Aber – gerade im Familienkreise kommt doch nicht selten die Rede auf Fragen, die eben durch belletristische Lektüre angeregt wurden und etwas bleibt hängen, auch wenn's die Hausfrau, die Tochter anregte.
An Hausfrauen und Töchter richtet sich die „populäre Massenliteratur", die sich in den 1880er- und 1890er-Jahren maritimer Themen annimmt – die Marineliteratur im weiteren Sinn –, freilich nicht explizit. Hauptadressat der Texte ist die männliche, bürgerliche Jugend. Die anvisierte Zielgruppe wird oft schon auf den Titelblättern der Bücher benannt, die der reiferen deutschen Jugend oder der reiferen Jugend und der deutschen Familie gewidmet sind, wodurch auch die nationale Ausrichtung betont wird. Dass es dabei vorrangig um ein bürgerliches Publikum geht, wird in den Geschichten selbst deutlich, wird doch in der Regel von gebildeten bürgerlichen Protagonisten erzählt, die eine „erfolgreiche Marinekarriere" als Offiziersanwärter durchlaufen und so ihren Lesern „Aufstiegsmöglichkeiten" suggerieren, wie sie dem wilhelminischen Besitz- und Bildungsbürgertum zwar in der Marine, nicht aber im Heer offenstanden. Entsprechende Karrieren haben auch viele Autoren der Bücher vorzuweisen.
In typologischer Hinsicht handelt es sich bei den Texten um Seeabenteuerromane und -erzählungen, eine Sonderform von Abenteuerromanen und -erzählungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den „beliebtesten und marktgängigsten Genres der Jugendliteratur" werden, wobei die Übergänge zur populären Literatur für Erwachsene ebenso fließend sind wie die Übergänge zur Reise- und Kolonialerzählung. Entscheidend für die Marinetexte ist die „stoffliche und motivliche [sic] Verdichtung auf ‚Schiff, Hafen und Meer'". Die für Abenteuererzählungen typische Struktur einer „Abenteuerkette" ergibt sich in der Marineliteratur aus maritimen Situationen – die Verfolgung von Piraten oder Sklavenhändlern, die Rettung von Schiffbrüchigen, Schiffsmanöver auf See – und ist in den „Alltag auf See und/oder die Entwicklung eines jungen Matrosen beziehungsweise Kadetten zu einem erwachsenen Mann und Kapitän" eingebettet – Letzteres in Anlehnung an Frederick Marryats Peter Simple (1834), der das Genre des modernen Seeromans begründete und auch im deutschen Sprachraum verbreitet war. Wirkmächtiger als Marryat selbst sind für die Jugendliteratur der 1880er- und 1890er-Jahre seine deutschsprachigen Nachfolger:innen, die das dem Bildungsroman nahestehende Muster ab 1850 adaptierten, darunter Heinrich Smidt, Friedrich Gerstäcker und Sophie Wörishöffer, wobei Letztere als schreibende Frau eine Ausnahme in dem ansonsten rein männlichen Feld marineliterarischer Autoren darstellt.
Die Popularität der Marineliteratur ist, wie die der Abenteuerliteratur insgesamt, insbesondere auch auf ihre Verbreitung mittels massenwirksamer Medien zurückzuführen; schon Marryats Peter Simple war 1832 und 1833 zunächst als Fortsetzungsroman im monatlich erscheinenden Journal The Metropolitan publiziert worden. In den 1880er- und 1890er-Jahren wurde die Verbreitung durch technologische „Fortschritt[e] im Buchherstellungsverfahren" begünstigt, die preiswerte Serien- oder Reihenpublikationen möglich machten. Ihr Publikum erreichten Seeabenteuergeschichten aber nicht nur in Form erschwinglicher Einzelausgaben, sondern auch als preiswerte Kolportageheftchen, in Periodika wie der illustrierten Wochenzeitschrift Der Gute Kamerad (ab 1887), die gezielt männliche Jugendliche ansprach, oder in Jahrbüchern wie dem Neuen Universum (ab 1880) und dem Deutschen Knabenbuch (ab 1893), dessen Herausgeber Ernst von Bernstorff auch zahlreiche Marinebücher verfasste. Auf der anderen Seite des (Preis-)Spektrums stehen kompendienartige Bücher, die durch eine höherwertige Ausstattung vor allem gutbürgerliche Schichten angesprochen haben dürften. Umsatzfördernd dürfte sich auch der Einsatz von Bildmedien ausgewirkt haben, auf die von Verlagsseite (in der Werbung, auf Titelblättern) in der Regel eigens hingewiesen wird, oft mit Nennung der Bildkünstler.
Als massenhafte Unterhaltungsliteratur geriet seit den 1880er-Jahren auch die jugendadressierte Abenteuerliteratur ins Visier einer Kritik, die sich gegen die Verbreitung von ‚Schundliteratur' richtete. Während „individualistische oder obrigkeitsleugnende Abenteuerheftchen" wie die populären Wildwest-Geschichten à la Karl May als jugend- und volksgefährdend diffamiert wurden, konnten kriegerische Seeabenteuer allerdings als nützlicher Beitrag zur nationalen Erziehung angesehen werden: „Nahm man den Kindern die Indianerheftchen weg, so blieben doch die Kriegsabenteuer." Umso heftiger fiel das Verdikt gegenüber Marinetexten seitens derer aus, die sich im sogenannten Tendenzstreit für ästhetisch hochwertige Jugendbücher ohne ideologische Ausrichtung aussprachen. Noch bevor der Hamburger Lehrer Heinrich Wolgast Das Elend unserer Jugendliteratur (1896) anprangerte, hatte er in der ersten Ausgabe der Jugendschriften-Warte – einem eigens gegründeten Rezensionsorgan – Sophie Wörishöffers Roman Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte (1877) als „Schundliteratur niedrigster Gattung" verrissen.
An der vielgestaltigen Realität der Marinetexte gehen die Polemiken ihrer Kritiker in der Regel vorbei. In diesen Texten verbinden sich unterhaltsame Schreibweisen mit weiteren Funktionen, etwa der Vermittlung von historischem, geografischem und sachkundlichem Wissen. Typisch sind in dieser Hinsicht Oskar Höckers kulturgeschichtliche Romane. Höckers Buch Der Seekadett von Helgoland. Eine Erzählung aus unsern Tagen (1892, Abb. 2), das als Teil der Reihe Kriegs- und kulturgeschichtliche Bilder erschien, bietet seinen jungen Lesern nicht nur eine spannende Abenteuererzählung, sondern auch historische und nautische Informationen, im Text selbst wie auch in Form von erläuternden Fußnoten und einem Glossar. Dem Titel des Buches ist noch eine weitere wichtige Eigenschaft von Marinetexten abzulesen: ein Aktualitätsbezug (Eine Erzählung aus unsern Tagen), der durch die Herkunft des Protagonisten zeitgeschichtliche Bedeutung gewinnt. Die Insel Helgoland wurde erst mit dem sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrag (1890), der von seinen Gegnern als Verzicht auf koloniale Besitzansprüche zugunsten eines ‚Hosenknopfes' diffamiert wurde, Teil des Deutschen Reiches. Wenn einer von Höckers drei Protagonisten am Ende vom Kaiser persönlich als „erster Seekadett auf Helgoland" (H, S. 161) gewürdigt wird, dann verkörpert er auch – wie die anderen „Söhne der Marine" (H, S. 159), deren Geschichten im Roman erzählt werden – eine erweiterte Nation.
Graph: Abb. 2 Oskar Höcker: Der Seekadett von Helgoland. Eine Erzählung aus unsern Tagen. Der reiferen deutschen Jugend gewidmet. Leipzig: Hirt & Sohn 1892 (= Unsere Deutsche Flotte, Bd. 2).
Dass und wie die Marineliteratur der 1880er- und 1890er-Jahre daran mitarbeitet, die Marine zum „Symbol nationaler Einheit" zu machen, ist Höckers Buch exemplarisch zu entnehmen. Die Rede von den ‚Söhnen der Marine' ist dafür ebenso symptomatisch wie die Bezeichnung „Lieblingskind der Nation" (H, S. 160), handelt es sich doch bei der deutschen Kriegsmarine um eine sehr „junge Flotte", woran Höcker seine Leser gleich zu Beginn, in einer Vorbemerkung, erinnert:
Unsere junge Flotte vermag noch wenig Thaten zu verzeichnen, aber in dem Mut und in dem begeisterten Wollen ihrer Matrosen und Seesoldaten liegt die beste Bürgschaft, daß sie hinter dem Landheer nicht zurückstehen wird, und zu dieser Überzeugung dürfte auch der Leser gelangen, wenn er die nachfolgende Erzählung gelesen haben wird. (H, o. S.)
Einerseits versucht Höckers Buch diesem Problem abzuhelfen, indem er die kurze Geschichte und die wenigen Taten ‚unserer jungen Flotte' schulbuchartig in der Handlung seines Romans verankert. Gleich im zweiten Kapitel tritt ein intradiegetischer Erzähler auf: ein Leutnant, der angehenden Seekadetten in der Marineakademie – darunter einer der drei Protagonisten – die „Geschichte der Marine" (H, S. 22) erzählt. Sie reicht von den Anfängen der „brandenburgischen Kriegsflotte" (H, S. 22) im 17. Jahrhundert bis zur „jetzige[n] Stellung unter dem schwarzweißroten Banner" (H, S. 24). Zwei Fußnoten verkoppeln diesen Vortrag des intradiegetischen Lehrers mit der Realität der Leser, sodass diese dazu angehalten sind, die Fiktion auf diese Realität zu beziehen. Die erste Fußnote verweist auf ein früheres Buch Höckers, in dem die brandenburgische Vorgeschichte der deutschen Marine erzählt wird. Zusammen mit dem Seekadetten von Helgoland bildet der Vorgängerroman eine Reihe, die den Titel Unsere Deutsche Flotte von der Flagge des großen Brandenburgers bis zur Schwarz-Weiß-Roten trägt und so, auf der Ebene der Publikationen, dieselbe Kontinuität herstellt, die der Lehrer-Leutnant in seinem Vortrag entwickelt. Die zweite Fußnote informiert über den genauen Schiffsbestand der deutschen Kriegsmarine im Jahr der Niederschrift des Romans (1891), der in den 1880er-Jahren spielt.
Von den Taten der deutschen Marine ist dann im dritten Kapitel die Rede. Diesmal ist es ein „Augenzeuge" – ein alter „Seemann, welcher seit Gründung unserer Flotte in preußischen Diensten steht" (H, S. 42) –, der in Anwesenheit eines weiteren Protagonisten von einer Auseinandersetzung im deutsch-dänischen Krieg 1864 erzählt, als „ganz Deutschland auf die junge Flotte voll froher Erwartung" (H, S. 43) blickte. Diese Erzählung erfüllt einen bestimmten Zweck, soll sie doch einen Zweifler widerlegen: einen Zivilisten, der sich zuvor „in ziemlich gehässigem Tone" (H, S. 42) über die fehlende Kampferfahrung der Marine lustig gemacht hatte. Am Ende muss der Zweifler zugeben, „daß unsere Flotte, trotz ihrer Jugend, die Zähne zu zeigen versteht, und daß der Mut unserer Seesoldaten hinter jenem der Landtruppen nicht zurückbleibt" (H, S. 46). Mit fast denselben Worten hatte das Höcker schon in seinem Vorwort zum Ausdruck gebracht; und die weiteren Ereignisse des Buches, dessen Protagonisten viele Gelegenheiten haben, ihren Mut unter Beweis zu stellen, liefern zusätzliche Evidenz. Während Höckers Buch also einerseits bemüht ist, der „junge[n] Flotte" (H, S. 159 u. ö.) eine Geschichte zu geben, nutzt es doch andererseits deren immer wieder betonte Jugendlichkeit auch als Argument sui generis, ermöglicht es diese doch, die Geschichte der deutschen Marine als Geschichte des Neubeginns zu schreiben – was einer allgemeinen Tendenz der 1890er-Jahre entspricht, die Nation als „optimistische Zukunftsprojektion" zu entwerfen, nicht länger im nostalgischen Rückblick (auf preußische Größe). So werden die drei jungen Protagonisten des Romans zum Gesicht der jungen Marine und der jungen Nation. In den abenteuerlichen Lebensläufen der drei sieht der Leser sozusagen der Geschichte der deutschen Marine im Entstehen zu. In der Jugendliteratur ist die Marine, aufgrund ihrer eigenen Jugendlichkeit, bestens aufgehoben. Der jugendliterarische Rahmen verleiht der Semantik der Jugendlichkeit Evidenz. Andersherum bietet sich die junge Marine besonders jungen Menschen zur Identifikation an.
Im Unterschied zu anderen Marinetexten, die sich auf einen Protagonisten konzentrieren, bietet Höckers Buch, anders als sein Titel suggeriert, seinen Lesern drei junge Identifikationsfiguren an, die drei unterschiedlichen Schichten entstammen: dem Adel (Hellmut von Sonnstett), dem wohlhabenden Bürgertum (Walther Gluthen) und dem Kleinbürgertum (Fritz Stüdemann). Allen drei Schichten steht, so suggeriert es der Roman, die deutsche Kriegsmarine offen. Ungewöhnlich ist das insofern, als Klassengrenzen in anderen Marinetexten ebenso strikt beachtet werden wie auf den Schiffen der Kriegsmarine selbst. Die Texte der 1880er- und 1890er-Jahre erzählen in der Regel aus der Perspektive von Offiziersanwärtern, den Seekadetten, und ein solcher konnte realiter nur werden, wer die obrigkeitlich erwünschte soziale Herkunft, Kapital und/oder Vorbildung mitbrachte. Das schloss, neben dem Adel, zwar das Bildungsbürgertum ein, nicht aber die unteren Volksschichten, die sich auch in den Büchern meist mit der Matrosenlaufbahn begnügen müssen. Bei den einfachen Matrosen, die in den Marinebüchern auftreten, handelt es sich meist um (sympathische) Nebenfiguren, die die Befehle der (oft jüngeren) Seekadetten willig befolgen. Anders bei Höcker, dessen Schiffsjunge Fritz seine Sache so gut macht, dass ihm am Ende sogar die Offizierslaufbahn offensteht. Auf diese Weise arbeitet Höckers Buch einem Mythos von der Marine als klassenlosem „Schmelztiegel des Deutschtums" zu, wie ihn Alfred Tirpitz rückblickend in seinen Erinnerungen (1919) entworfen hat. Dass es sich dabei um einen Mythos handelt, der der sozialen Realität der kaiserlichen Marine mit ihren „inneren Gegensätzen und Standesunterschieden" nicht entspricht, hat die sozialhistorische Forschung überzeugend dargelegt.
Außer der Tatsache, dass sie alle in der deutschen Kriegsmarine Karriere machen, haben Höckers Protagonisten noch etwas gemeinsam: Alle drei haben ein schwieriges Verhältnis zu ihren Vätern. Der Seekadett Walther Gluthen wächst vater- und mutterlos bei einer alten Tante auf und nennt „das Haus der Tante seine Heimat" (H, S. 26). Der Offizier Hellmut von Sonnstett überwirft sich mit seinem Vater, weil der seine auserwählte kleinbürgerliche Braut (Tochter eines „vermögenslosen Schiffbaumeisters", H, S. 40) nicht gutheißt. Und für Fritz Stüdemann, der als Schiffsjunge zur See geht, ist das der einzige „Ausweg" (H, S. 16), um seinem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater zu entkommen, dem sich die Mutter bereits entzogen hat. Bekräftigt wird Fritz in seinem Plan von einem alten Steuermann, der für den Jungen einen Ersatzvater und „Beschützer" (H, S. 15) darstellt; vergleichbare Figuren finden sich auch an Bord. Ersatzvater für alle drei Protagonisten ist jedoch vor allem – metonymisch deutet es der Steuermann bereits an – die Marine selbst: Zu „Söhne[n] der Marine" (H, S. 159) werden Fritz, Hellmut und Walther, indem diese ihnen ein neues Zuhause gibt. So erfährt die familiäre Semantik der Nation im letzten Kapitel eine überraschende semantische Ausweitung: Die Marine, das „Lieblingskind der Nation" (H, S. 160), hat ihrerseits Kinder.
In diesem Kapitel tritt noch ein weiterer symbolischer Vater in Erscheinung: Am „zehnten August 1890" bescheint die Sonne „ein deutsches Helgoland" (H, S. 160), wo Fritz' Mutter „ihr väterliches Heim wieder angekauft hatte" (H, S. 162). Passend zum ‚Kaiserwetter' hat sich der „junge[-] Kaiser" Wilhelm auf die Insel begeben, um diese in „Besitz" zu nehmen, seine Marine zu beschauen und seine „jungen Seekadetten" zu begrüßen (H, S. 161):
„Ihre Eltern leben noch, Seekadett Stüdemann?" [...] „Sehen Sie, meine Herren", sagte er fröhlich, „das ist unser erster Seekadett auf Helgoland! [...] Sie haben sich durch eigene Kraft emporgearbeitet, Seekadett Stüdemann. Fahren Sie fort in Ihrem Fleiß und Eifer, damit Sie dereinst als Offizier in meiner Marine ein Zeugnis ablegen deutschen Mutes und deutscher Willenskraft!" (H, S. 161)
Vergleichbare Kaiser-Auftritte finden sich auch in anderen Marinetexten. So werden am Ende von Höckers Buch nicht nur die realen Väter und die ‚väterlichen Heime' rekonstituiert; die symbolischen Väter – Kaiser, Marine, Nation – treten jenen gleichberechtigt zur Seite. Dass daraus kein Widerspruch entstehen muss, zeigt das Ende von Höckers Roman: Neben dem geläuterten biologischen Vater darf auch der Ersatzvater-Steuermann das ‚väterliche Heim' auf Helgoland beziehen.
Zehn Jahre nach Höckers Roman schickt sein Schriftstellerkollege Friedrich Meister seinem als Jugend- und Familienbuch betitelten Roman In der deutschen Südsee (1902) ein Vorwort voraus, das nicht nur Nation und Marine zusammenbringt, sondern die „deutsche[-] Seegeltung" in einem globalen Rahmen entwirft:
Es muß daher die Erkenntnis von der Notwendigkeit tatkräftiger Anteilnahme des ganzen Volkes an den stets wachsenden gewaltigen Interessenkämpfen der Weltmächte, der deutschen Seegeltung auf allen Meeren und dem ersprießlichen Gedeihen des tropischen Neu-Deutschlands allenthalben nach Kräften gefördert werden. Die Schule aber ist an erster Stelle dazu berufen, die Begeisterung für die Macht und Herrlichkeit deutscher Seegewalt und Weltherrschaft zu wecken. [...] Denn nicht nur den Engländern, und den andern seefahrenden Nationen, auch uns Deutschen gehört die Welt [...]. In diesem Sinne sei der Südseefahrer der deutschen Jugend und der deutschen Familie übergeben.
In der Rede von ‚Weltmächten' und ‚Weltherrschaft' kommt ein imperialistischer Duktus zum Ausdruck, der sich um 1900 auch in den Debatten um die Flottenaufrüstung findet und im Begriff einer ‚Weltpolitik' kulminiert, die von ihren Befürwortern zum Gebot der Stunde erklärt wird. Der (vage) Begriff wird zum „Schlagwort", das für die „nationale Sinngebung" funktionalisiert wird. Dass Deutschland ein „Weltreich" geworden sei, hatte Wilhelm II. schon 1896 in einer Tafelrede verkündet, und um Unterstützung geworben, um „dieses größere Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern". Kritiker wiesen demgegenüber darauf hin, dass Deutschland aus wirtschaftlichem Interesse immer schon „Weltpolitik" betrieben habe, ohne dass man „auf den Gedanken gekommen" sei, „durch Kriegsschiffe gegenüber zivilisierten Völkern günstige Handelbeziehungen erzwingen zu können". Noch deutlicher wurde der SPD-Abgeordnete Bruno Schoenlank, der in der Reichstagsdebatte um das erste Flottengesetz darauf hinwies, dass die „Phantasien einer überstiegenen Weltpolitik" auf eine „handgreifliche Praxis der Annexion" fremder Länder hinausliefen. Entschieden kritisierte er in diesem Zusammenhang auch die „Marineagitation" des neuen Nachrichtenbüros. In ein griffiges Bild brachte Bernhard von Bülow, der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, in seiner Replik die Notwendigkeit ‚weltpolitischen Engagements': Man wolle zwar die „andere[n] Großmächte[-]" nicht „in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne". Im gleichen Zuge versuchte Bülow allerdings auch, den (offenbar naheliegenden) Verdacht zu zerstreuen, „daß wir uns in Abenteuer stürzen" und „unnütze Händel" suchen wollen. Die Kriegsflotte schütze lediglich die „Sicherheit" deutscher Bürger im Ausland und die „Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie".
Für die Marineliteratur ergibt sich daraus ein spannungsvoller Befund. Einerseits greifen die Texte der 1880er- und 1890er-Jahre ‚weltpolitischen' Träumereien voraus, indem sie ihre deutschen Leser in die große weite Welt mitnehmen und sie dazu einladen, Drei Monate an der Sklavenküste (Reinhold [
Graph: Abb. 3 Reinhold Werner: Drei Monate an der Sklavenküste. Erzählung für die reifere Jugend [1885]. Stuttgart: Richter & Kappler [2. Auflage, um 1886].
Während Werners Text die ‚weltpolitische' Rolle der Marine am Beispiel der englischen Flotte vorführt und diese am Ende ausdrücklich der „vaterländische[n] Marine" als „Vorbild" empfiehlt (W, S. 237), zeigt Barfus' Roman die deutsche Marine im ‚weltpolitischen' Einsatz (Abb. 1). Auf dem „gefürchtete[n] Kanonenboot" Falke geht es für den 18-jährigen Protagonisten und Seekadetten Ehrhardt zunächst nach Westafrika und dann in die Südsee. Gleich der erste Satz der Erzählung (die ungefähr 1887 spielt) macht deutlich, dass mit Deutschland als See- und Kolonialmacht inzwischen zu rechnen ist: Die Erwähnung der „Trümmer[-] des am 17. Dezember 1884 verbrannten Dorfes des Königs Bell" (B, S. 3) ruft nicht nur die Unterzeichnung von ‚Schutzverträgen' mit Vertretern der Duálá im Sommer 1884 in Erinnerung, Grundlage für die Inbesitznahme Kameruns, sondern auch militärische Eingriffe in lokale Unruhen im selben Jahr, bei denen zwei Kreuzergeschwader im Zuge einer ‚Bestrafungsaktion' die Dörfer von Einheimischen zerstörten. Vergleichbare Aktionen einer solchen ‚Kanonenbootpolitik' – die kleineren Kanonenboote hatten aufgrund des geringen Tiefgangs die Möglichkeit, weit in Flüsse hineinzufahren und so auch Siedlungen im Inneren des Landes zu erreichen – finden sich dann vor allem im zweiten (Südsee-)Teil von Barfus' Buch.
Begründet wird das ‚weltpolitische Engagement' hier nicht nur mit dem zivilisatorischen Auftrag, wenngleich sich Kämpfe gegen Sklavenhändler auch bei Barfus finden. Wichtiger ist etwas anderes: Die Seereisen führen im Buch zu Besuchen bei deutschen Siedlern, Faktorei- oder Plantagenbesitzern, die sich im kongolesischen Boma ebenso finden wie in Neu-Guinea, dem Bismarck-Archipel und Samoa. In dieser Weise nimmt ein ‚größeres Deutsches Reich' (wie es Wilhelm II. in seiner Tafelrede beschwören wird) auf der Ebene der Diegese Gestalt an, und die Aufgabe, dieses ‚fest an unseres zu gliedern', wird durch den Schiffsverkehr repräsentiert. Die Funktion der Marine erschöpft sich allerdings nicht darin, „unseren dort wohnenden Landsleuten die Freude zu machen, nach längerer Zeit wieder einmal ein Schiff der deutschen Kriegsmarine bei sich zu sehen" (B, S. 88). Es geht vor allem darum, den „jetzt so günstig sich entwickelnde[n] Handelsverkehr" (B, S. 90) zu schützen – „Ihre Ankunft, meine Herren, ist uns deshalb doppelt willkommen, da wir doch nun nicht gänzlich ohne Schutz sind" (B, S. 103) –, wobei die wirtschaftliche Dimension auch dadurch betont wird, dass die angebauten oder gehandelten Produkte stets benannt werden. Der ‚Schutz' schließt Kämpfe gegen die lokale Bevölkerung ein, die in den Südsee-Kapiteln als (äußerst brutale) Bestrafungsaktion ausgewiesen sind: Eine „Expedition gegen die Eingeborenen von Neu-Mecklenburg" (B, S. 100) – die südpazifische Insel, die seit 1885 zum ‚Schutzgebiet' der deutschen Neuguinea-Kompagnie zählte und dann vier Jahre später zum Teil der Kolonie Deutsch-Neuguinea wurde – dient explizit der „Züchtigung" (B, S. 90) der indigenen Bevölkerung, deren Dörfer von den Matrosen in Brand gesteckt werden. An die Seite der ‚zivilisatorischen' und der wirtschaftlichen Begründung tritt drittens eine wissenschaftliche, die im Buch durch eine Boots-Expedition zum Kaiserin-Augusta-Fluss in Neuguinea figuriert wird.
Die Abenteuer, die mit dem ‚weltpolitischen Engagement' der deutschen Marine einhergehen, sind in dieser Weise dreifach gerechtfertigt. Der Blick auf die Anfänge deutscher ‚Weltpolitik' in den beiden Büchern zeigt aber noch etwas anderes. Nachvollziehen lässt sich hier nämlich auch die zunehmende Konkurrenz zwischen den imperialistischen ‚Weltmächten'. Während die englische Flotte – anders als die englische Kolonialpolitik in Sierra Leone – in Werners Buch noch als erklärtes Vorbild dient und die Grenzen zwischen zivilisierten Europäern einerseits und unzivilisierten Afrikanern andererseits verlaufen, endet Barfus' Roman in einer unübersichtlicheren Konstellation: Auf Samoa gerät das deutsche Kanonenboot (und seine Besatzung) in die Wirren des von den Kolonialmächten für ihre Interessen funktionalisierten samoanischen Bürgerkrieges. Die sich abzeichnende Konkurrenz wird am Ende des Buches freilich von einem melodramatischen Wiedersehen mit einem französischen Siedler und seiner Familie überlagert, die den Protagonisten im Kongo beherbergt hatte und nun von diesem von einem sinkenden Schiff gerettet wird. In der „Gesellschaft der liebenswürdigen Familie" geht es zurück in die „Heimat" (B, S. 112). Dabei bleibt offen, „welcher Nation der Dampfer angehörte" (B, S. 111), der das Schiff der Franzosen in Seenot gebracht und „gewissenlos im Stiche gelassen" (B, S. 112) hat.
Graph: Abb. 4 Karl Tanera: Der Freiwillige des „Iltis". Erzählung aus unsern Tagen. Der reiferen deutschen Jugend gewidmet [1900]. Leipzig: Hirt & Sohn [81902].
Familiäre Inszenierungen deutsch-französischer Eintracht finden sich in Karl Taneras Buch Der Freiwillige des „Iltis" (1900) nicht mehr (Abb. 4). Der Protagonist dieses Romans, der als einer der ersten Marineromane „im Zuge der staatlich organisierten Marinepropaganda" gilt, muss sich zwischen den Nationen entscheiden. Seine eigene Zwischenposition zeigt sein Name bereits an: Louis Kurmanns Familie stammt aus dem Elsaß; sein Vater ist während des deutsch-französischen Krieges nach Französisch-Nordafrika ausgewandert, „um nicht für Deutschland optieren zu müssen" (T, S. 39). Genau das holt der Sohn nach. Zum Initiationserlebnis wird für Louis, der sich zunächst als „Elsässer" und als „Franzose" (T, S. 60) fühlt, die Begegnung mit einem Kriegsschiff der deutschen Marine. Dabei ist es weniger das Schiff – ein Dampfer namens Oldenburg – als das Auftreten der Mannschaft, das „einen tiefen Eindruck in seinem Inneren" (T, S. 60) hinterlässt. Auf dem Weg nach Europa wird er in Lissabon Zeuge einer „Matrosenrauferei" (T, S. 60) zwischen deutschen und französischen Matrosen, die der Text im Zeichen des Gegensatzes inszeniert. Dem „wüsten Gebaren" der Franzosen steht eine „geordnet" und „geschlossen" agierende Formation der deutschen Matrosen gegenüber (T, S. 58). Es ist dieses „geschlossene Auftreten und Vorgehen der Deutschen", das Louis „gewaltig imponiert":
Das rief in ihm eine hohe Meinung von der deutschen Seemacht hervor, und er begriff es jetzt erst, daß Weckerle [ein Fremdenlegionär und ebenfalls Elsässer; C. S.] stets mit so großer Achtung von der deutschen Manneszucht sprach. Sie hatte sich ja soeben vor seinen eigenen Augen sogar bei einer gewöhnlichen Matrosenrauferei auf das beste bewährt, zu welcher Geltung mußte sie erst in einem Kriege kommen! Andererseits war seine gute Meinung von der französischen Marine sehr gesunken. (T, S. 60)
Nachdem er dann auf seiner Reise auch noch rücksichtlose Engländer kennengelernt hat (vgl. T, S. 65), steht für Louis fest: „deutscher Seemann zu sein, ist doch das beste" (T, S. 74). Die Änderung seines Vornamens in Ludwig macht die eindeutige Nationalidentität augenfällig. Als „Angehöriger seines Vaterlandes" und „gleichberechtigtes Mitglied der großen deutschen Nation" fühlt sich der Junge dann allerdings erst, nachdem er den Eid als freiwilliger Matrose auf dem Kanonenboot Iltis abgelegt hat: Erst jetzt ist er ein „deutscher Matrose" (T, S. 181), und auch sein Vater wird schließlich am Ende des Buches bekehrt, nachdem sein Sohn den Untergang des Kanonenbootes im chinesischen Meer überlebt und zum Fähnrich befördert worden ist: „Seit jener Stunde bin ich ein guter Deutscher und ein treuer Untertan des Kaisers geworden." (T, S. 206)
Taneras Buch markiert nicht nur eine Art ersten Höhepunkt nationalistischer Marinefantasien, die in der Gegenüberstellung des ‚Deutschen' mit einem Fremden Gestalt annehmen, das als ganz und gar Anderes entworfen wird. In aller Deutlichkeit sind diese Fantasien zugleich auf Männlichkeitskonstruktionen bezogen, wie sie zum einen in den bürgerlichen Aufsteigergeschichten zum Ausdruck kommen. So erzählt Taneras Buch von einer Marinekarriere als männlichem Bildungsweg, der darauf abzielt, das individualistische, chaotische Potenzial des Abenteuerdaseins zu überwinden. „Das Herumziehen in der Welt habe ich nun satt. Ich will endlich meinen Eintritt in die deutsche Marine durchsetzen", heißt es in diesem Sinne in der Fortsetzung von Taneras Roman, Aus der Prima nach Tientsin (1902). Während die Abenteuerkette von Abenteuererzählungen potenziell unabschließbar ist, hat der Bildungsroman ein klares Ziel, das die Marinetexte als „Eintritt in die militärisch-soziale Ordnung" und die dazugehörige männliche Identität figurieren. „Ja, Ludwig Kurmann hat sein Ziel erreicht" (T, S. 207), heißt es in diesem Sinne in einem Schlusswort von Taneras Iltis-Roman.
Marinetexte präsentieren ihren Lesern aber nicht nur ideale männliche Karrieren, sondern offerieren ihnen zudem Männlichkeitsbilder, die „libidinöse Energie[n]" ansprechen und diese in bestimmte Bahnen zu lenken geeignet sind: „Männerphantasien", wie sie Klaus Theweleit für die Freikorps der 1920er- und 1930er-Jahre beschrieben hat, in der Absicht, die psychologischen Hintergründe faschistischer Ideologien und der von ihnen ausgehenden Gewalt aufzudecken. Diese Konstruktionen soldatischer Männlichkeit sind um das Konzept eines geschlossenen „Körperpanzer[s]" zentriert, dessen (reale und symbolische) Ausbildung vor allem auch in Kadettenanstalten stattfand. In der formierten Truppe, die als „Ganzheitsmaschine" auftritt, erfährt der versprochene „Körperzusammenhang" des einzelnen Mannes eine Ausweitung. Auf der anderen Seite dieses Panzers, der geschlossene Identität verheißt, steht eine bedrohliche „Masse", die im Unterschied zum geformten Kollektiv (etwa der Truppe oder der Mannschaft) mit den Attributen des „Flüssigen, Schleimigen, Wimmelnden" versehen ist – des Form- und Differenzlosen – und so letztlich mit wirkmächtigen kulturellen Konstruktionen von Weiblichkeit zusammenfällt. Bei Tanera kulminiert diese Männerfantasie im Begriff einer national codierten ‚deutschen Manneszucht', die im geschlossenen Handeln des Kollektivs zum Ausdruck kommt. Das deutsche Matrosenkollektiv ist der undifferenzierten „Masse" (T, S. 58) der Franzosen gegenübergestellt: „[W]ie ein geschlossener Keil" brechen die deutschen Matrosen „in die Masse ihrer Gegner, sprengten dieselben völlig auseinander, drangen wiederum auch durch die Zuschauer" (T, S. 59). Auch die phallische Symbolik bezeugt hier noch einmal die libidinöse Energie.
Die bedrohlichen Gegenbilder zu solchen männlichen Identitäten werden in den Texten nicht nur von anderen Marinen (wie der französischen) figuriert. Sie werden auch im Inneren verortet, vor allem aber nehmen sie – in rassistischer Form – in anderen Völkern Gestalt an. Beides wird in einem anderen Buch aus dem Jahr 1900, in Paul Oskar Höckers Seekadett Tielemann. Erzählung aus dem chinesisch-japanischen Kriege (Abb. 5) deutlich. Die innere Bedrohung der soldatischen Männlichkeit repräsentieren hier ein effeminierter adeliger Kadett und ein ebensolcher Kaufmannslehrling. Allerdings werden diese beiden Figuren am Ende zum Teil des Kollektivs deutscher Matrosen. Für die beiden „asiatischen Rasse[n]", mit denen Höckers Buch seine Protagonisten konfrontiert, gilt das nicht, wenngleich es Unterschiede gibt. Auf der einen Seite stehen die Japaner, die zwar tendenziell als feminin codiert werden, aber doch auch als zivilisiert. Das „höfliche Betragen" japanischer Beamter ruft bei den deutschen Besuchern „sofort den Eindruck" hervor, „man habe es mit einem Kulturvolk zu thun. Die Japaner trugen auch in ihrer Gesichtsbildung nur wenige Merkmale der asiatischen Rasse" (PH, S. 77). Dass der Protagonist des Buches, Erich Tielemann, sich der japanischen Armee anschließt, hat aber vor allem damit zu tun, dass diese „in ihrer Organisation und in ihrer Ausbildung fast ganz nach deutschem Muster gebildet" ist, sodass ihre Erfolge „gewissermaßen deutsche Waffenerfolge bedeuten" (PH, S. 133). Entsprechend gut organisiert erscheint auch die japanische Marine – tatsächlich war der japanische Sieg im (ersten) chinesisch-japanischen Krieg (1894–1895), in dem Höckers Buch spielt, maßgeblich einer modernisierten Flotte zu verdanken.
Genau gegensätzlich fällt die rassistische Darstellung der Chinesen aus: „Wie tief steht doch noch dieses Volk!" (PH, S. 71) Diese Darstellung ist völlig von den von Theweleit analysierten Symboliken bestimmt. Von „Mannszucht" kann bei den chinesischen „Soldaten" keine Rede sein (PH, S. 116), und die „barbarischen Chinesen" zeichnen sich außerdem durch eine besondere Grausamkeit aus, sodass der Protagonist der Erzählung „über die Roheiten, von denen er Zeuge wurde, empört und von ihnen angewidert" (PH, S. 113) ist. Auch chinesische Seefahrer, die als Piraten auftauchen, werden als flüssige, schleimige, wimmelnde und schmutzige Masse figuriert: „Ein Strom von schreienden, kreischenden gelben Menschen, halbnackt und von abschreckender Häßlichkeit, wälzte sich aus der Deckluke herauf" (PH, S. 167). Im Kontext der sogenannten Boxeraufstände um 1900, in dem Höckers Buch erscheint, waren solche Darstellungen gängig, um die europäische Expansion in China zu legitimieren. Das Buch nimmt damit freilich eine Revision der früheren Verhältnisse vor, indem es sich auf die Seite der (japanischen) Sieger stellt und deren Sieg als Sieg der Kultur über „Unmenschen" (PH, S. 160) ausweist. So werden auch die eigenen kolonialen Bestrebungen, die 1898 in der Überlassung eines ‚Schutzgebiets' auf chinesischem Boden gipfelten, nachträglich noch einmal legitimiert.
Graph: Abb. 5 Paul Oskar Höcker: Seekadett Tielemann. Erzählung aus dem chinesisch-japanischen Kriege. Der reiferen Jugend gewidmet [1900]. Stuttgart: Weise [41909].
Der „Typ Mann, der entscheidend zum Sieg des Faschismus beigetragen hat", ist bei Höcker und anderen Marinetexten der Zeit also ebenso komplett ausgebildet wie die diesem gegenübergestellten Schreckensbilder „revolutionärer Massen". Dass es ausgerechnet deutsche Matrosen sein werden, von denen die Revolution gegen den wilhelminischen Staat 1918 ausgeht, mag man demgegenüber als Ironie der Geschichte verbuchen. Die fatale Wirkmächtigkeit faschistischer Männerfantasien, die auch von Marinetexten propagiert werden, hat das freilich wenig tangiert.
Die Marineliteratur scheint um 1905 ihr Ziel erreicht zu haben. Jedenfalls ist das der Eindruck, den man bekommt, wenn man Ernst von Bernstorffs ‚deutsches Flottenbuch' Hans Eisenhart (1905) aufschlägt. Der Name des Protagonisten zeigt bereits an, dass die Tendenz zur Vereindeutigung – die bereits dem Namenswechsel von Taneras Protagonist Louis abzulesen war – hier an ein sinnfälliges Ende gekommen ist: Im Seekadetten Hans Eisenhart hat der maritime „Genius, der über unserem Volke waltet", eindeutige, nämlich allegorische Gestalt angenommen. Für Abenteuer im emphatischen Sinne des Wortes ist in Bernstorffs Buch wenig Platz: Hans' fiktive Lebensgeschichte hat von Anfang an ein klares Ziel, zielt sie doch auf den „Abschluß jener großen und langen Lebensperiode, in welcher der Mann wird". Außerdem wird diese Geschichte lediglich erzählt, um die Wirklichkeit der Marine – in allen ihren Aspekten, in Wort und Bild – panoramatisch vor den Lesern auszubreiten. Bernstorffs Buch gleicht einem sachkundlichen Katalog, der alles noch einmal versammelt, was die kaiserliche Marine ausmacht. Solche Kompendien erscheinen nach 1900 auch als reine Sachbücher. Während in früheren Texten die Entwicklung der jugendlichen Protagonisten mit der Entwicklung der jungen Marine korrespondiert, dokumentiert und zelebriert Bernstorffs Buch in dieser Weise das Erreichte. Nur eines fehlt noch: Der „Kriegssturm" über der „dunkle[n] Nordsee", von dem der Erzähler am Ende von Hans Eisenhart fabuliert – und den der Autor wenig später auch als Phantasie von Deutschlands Flotte im Kampf ausführlich beschreibt –, ist eine Träumerei, die erst neun Jahre später schreckliche Wirklichkeit werden wird.
By Christian Schmitt
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