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Stefanie Holder, Bildung im kaiserzeitlichen Alexandria. 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. (Historia, Einzelschriften, Bd. 253.) Stuttgart, Steiner 2020.

Niehoff, Maren
In: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-02-01), Heft 1, S. 217-220
Online review

Stefanie Holder, Bildung im kaiserzeitlichen Alexandria. 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. (Historia, Einzelschriften, Bd. 253.) Stuttgart, Steiner 2020 

Stefanie Holder, Bildung im kaiserzeitlichen Alexandria. 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. Historia, Einzelschriften, Bd. 253. 2020 Franz Steiner Verlag GmbH Stuttgart, 978-3-515-12063-0, € 80,–

Die vorliegende Dissertation zeigt eine umfassende Kenntnis auf dem Gebiet der alexandrinischen Bildungsgeschichte. Obwohl es seit den bahnbrechenden Veröffentlichungen von Naphtali Lewis auf diesem Gebiet keine neuen Quellen gibt, bietet Stefanie Holder eine neue und kritische Zusammenschau, die viel diskutierte Texte in den oft unbeachteten Kontext der Papyri stellt. Dabei fängt sie jeweils mit den Papyri an, geht also umgekehrt vor wie die meisten Literaturwissenschaftler, die eher dazu neigen, punktuell ihre Resultate durch derartige Zeugnisse zu bestätigen. Holder konzentriert sich auf eine in der Forschung oft vernachlässigte Zeitspanne, nämlich die hohe Kaiserzeit, namentlich die ersten drei Jahrhunderte n. Chr. Die Studie basiert auf umfassender Kenntnis der Primär- und Sekundärquellen, die ersteren werden auch zeilenweise im meist griechischen Urtext ohne Übersetzung zitiert. Die Stärke der Monographie besteht in der sorgfältigen Auswertung der Papyri and der ägyptisch-griechischen Literatur, ihre Schwäche dagegen in der inhaltlichen Marginalisierung von Philons Werk, dem einzigen, fast vollständig erhaltenen literarischen Corpus aus Alexandria im ersten Jahrhundert n. Chr.

Die Arbeit ist in fünf quantitativ und qualitativ unterschiedliche Teile gegliedert. Das erste Kapitel thematisiert den Bildungsbegriff, den Holder in Abgrenzung zu früheren Arbeiten dynamisch sieht, nämlich als ein sich den ändernden chronologischen und geographischen Gegebenheiten anpassendes Phänomen. Die Diversität der Bildung wird gewürdigt und antike Terminologie ernst genommen (S. 31).

Das zweite Kapitel ist das umfangreichste und reichhaltigste (S. 79–224). Im Mittelpunkt steht das Museion als Bildungsinstitution zu einer Zeit, für die die Quellen knapp sind und sich die Frage stellt, inwieweit es noch als Ort der Forschung und Lehre diente. Diese Frage beantwortet die Verfasserin nach Analyse aller papyrologischen und textlichen Fragmente folgendermaßen: „[D]ie große Zahl nichtwissenschaftlicher Museionsmitglieder lässt zunächst deutlich werden, dass der (sic) σύνοδος des kaiserzeitlichen Museions kein ‚institute of advanced studies' mehr war" (S. 219). Die Aufnahme in den erlauchten Kreis folgte oft politischen und sozialen Kriterien, nicht intellektuellen Leistungen. Es gelingt Holder, antike Figuren und politische Konstellationen lebendig werden zu lassen und in einer für Nichtspezialisten verständlichen Form die fragmentarischen Quellen und die reichhaltige Literatur zu diskutieren. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist Tiberius Claudius Balbillos, Leiter der Bibliothek in den 30er Jahren des ersten Jahrhunderts n. Chr., wohl kurz bevor er als Gesandter der ägyptischen Delegation nach Rom reiste und dort mit Philon um Gaius' Gunst wetteiferte (S. 203–206). Holder erwägt das Für und Wider jeder Auswertung der Fragmente und betont die Bedeutung seines Titels „supra museum" in I Eph 3042, den sie letztendlich auf Alexandria und nicht auf Ephesus bezieht. Daran schließt sie eine sehr überzeugende Widerlegung der allgemeinen, allein auf Plutarch fußenden Annahme, dass bei Caesars Eroberung ein Brand im Hafen ausgebrochen sei, der auch die zentrale Bibliothek zerstört habe. Balbillos' Rolle als Bibliotheksleiter unterstreicht das Fortbestehen dieser Einrichtung und ihre kulturelle Bedeutung.

Ein kurzes drittes Kapitel beleuchtet den Zugang zu Fächerwissen in der Chora, also außerhalb der Metropole (S. 225–246). Auch hier gibt es sehr anschauliche Beispiele, wie etwa Belege für Eratosthenes' Ilias-Kommentar in Herakleopolis und die Bestellung von hochspezialisierter Literatur durch Bücherhändler in Alexandria (S. 227–229). Neben lateinischen Gesetzestexten findet sich auch eine ins 5. Jahrhundert datierte Abschrift von Sallusts „Catilina", die suggeriert, dass die provinzialen Oberschichten literarische Interessen pflegten, die über die täglichen und politischen Bedürfnisse hinausgingen (S. 231).

Im Vergleich zu diesen interessanten Kapiteln sind die folgenden beiden eher enttäuschend, da sie Philons Werke im Vergleich zu Apion marginalisieren. Im fünften Kapital geht es um das Verhältnis der Bildungsfächer zueinander, vor allem Rhetorik und Grammatik (Apion), Rhetorik und Philosophie (Philon), Philosophie und Sophistik (Aelius Demetrios, S. 248–357). Apion, nach Josephus ein Mitglied einer ägyptischen Gesandtschaft in Rom (A. J. 18.257–9), begegnet in den Fragmenten und Testimonien als Grammatiker und reisender Vortragender über homerische Themen. Die antiken Titel seiner verschiedenen Werke und die Spuren seiner literarischen Aktivität legen eine Verbindung zur Schule des Homerspezialisten Aristarchos nahe. Apions Tätigkeit als Gesandter seiner Heimatstadt, seine Lehre in Alexandria und Rom sowie seine Vorträge im östlichen Mittelmeerraum fügen sich in Holders Diskussion zu dem Bild eines Sophisten avant la lettre zusammen.

Obwohl Philon ähnliche Lebensdaten aufzuweisen hat – auch er reiste als Gesandter nach Rom, lehrte zumindest in Alexandria und war in römischen Intellektuellenzirkeln gut vernetzt (Prob. 1) – interpretiert die Verfasserin ihn als ein Gegenbeispiel zu Apion. Sie stützt sich dafür auf Philons Polemik gegen die Sophisten, hier nicht im Rahmen platonischer Diskurse verstanden, und wendet zudem befremdliche Dichotomien an, die das Judentum von der griechischen Bildung absetzen. Sie spricht von „hebräisch-jüdischen Bildungsauffassungen" (S. 15, 289–311), obwohl Philon sicher des Hebräischen nicht mächtig war und die Tora nicht im Urtext las. Holder sieht zwar zurecht die homerische Literaturkritik Apions als ein Abweichen von den Charakteristika der Zweiten Sophistik an, untersucht aber gerade sie bei Philon, um festzustellen, ob er als ein Mitglied des alexandrinischen Bildungszirkels gelten kann. Trotz frappanter Parallelen in den Homerscholien zu Philons Interpretation der Aloiden (Phil., Conf. 1–15; cf. Schol. Od. 11.315), betont Holder seine völlige Isolation. Um seine Fremdheit unter den Griechen zu betonen, bemängelt sie sogar, Philon habe den Namen Homer nur im Nominativ erwähnt und nie den Vokativ benutzt.

Als Leserin wird man den Eindruck nicht los, dass hier mit zweierlei Maßstab gemessen wird. Apion schafft es mit Leichtigkeit in die Bildungselite, während Philon aus undurchsichtigen Gründen außen vor bleibt. Diese Diskrepanz wird besonders deutlich in dem direkt nach Philon diskutierten Fall von Aelius Demetrios, zu dem fast keinerlei sichere Daten vorliegen und Holder selbst betont, dass die diversen Hinweise auf einen Demetrios sich nicht unbedingt auf dieselbe Person beziehen (S. 317). Trotzdem zieht sie den Schluss: „Festzuhalten bleibt, dass Aelius Demetrios, obwohl er aus Alexandria stammte und Kontakte zu korporierten Philosophen seiner Heimat hielt, als Redner mit Stegreifreden in Rom auftrat" (S. 319). Er sei weiterhin als „Vertreter der Zweiten Sophistik anzusprechen" (ebd.). Philon dagegen, meint Holder, „sollte außen vor bleiben, obwohl er Gesandter war, weil weder Vortragsreisen noch ein Schülerkreis von ihm belegt sind" (S. 323). Da bei Demetrios kaum mehr als der Name sicher ist, kann einen diese Einschätzung der Quellenlage bei Philon nur erstaunen.

By Maren Niehoff

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Titel:
Stefanie Holder, Bildung im kaiserzeitlichen Alexandria. 1. bis 3. Jahrhundert n. Chr. (Historia, Einzelschriften, Bd. 253.) Stuttgart, Steiner 2020.
Autor/in / Beteiligte Person: Niehoff, Maren
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-02-01), Heft 1, S. 217-220
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2023-1020
Schlagwort:
  • BILDUNG Im Kaiserzeitlichen Alexandria: 1 Bis 3 Jahrhundert N. Chr. (Book)
  • HOLDER, Stefanie
  • IMPERIALISM
  • NONFICTION
  • ALEXANDRIA (Egypt)
  • Subjects: BILDUNG Im Kaiserzeitlichen Alexandria: 1 Bis 3 Jahrhundert N. Chr. (Book) HOLDER, Stefanie IMPERIALISM NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: ALEXANDRIA (Egypt)
  • Author Affiliations: 1 = The Hebrew University of Jerusalem, Department of Jewish Thought, Jerusalem,, 9190501, Israel.
  • Full Text Word Count: 1044

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