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Jung, Udo O.H.: Investigativer Fremdsprachenunterricht. Norderstedt: Books on Demand, 2021. -- ISBN 978-3-7534-0846-0. 461 Seiten, € 59,99.

Heidermann, Werner L.
In: Info DaF: Informationen Deutsch als Fremdsprache, Jg. 50 (2023-04-01), Heft 2/3, S. 230-233
Online academicJournal

Jung, Udo O.H.: Investigativer Fremdsprachenunterricht. Norderstedt: Books on Demand, 2021. -- ISBN 978-3-7534-0846-0. 461 Seiten, € 59,99 

Jung, Udo O.H.: Investigativer Fremdsprachenunterricht. Norderstedt: Books on Demand, 2021. -- ISBN 978-3-7534-0846-0. 461 Seiten, € 59,99.

Der Titel passt nicht zum Buch, denn es handelt von allem, nicht aber von investigativem Fremdsprachenunterricht! Auf nicht weniger als 460 Seiten unterhält der Autor die Leserschaft mit Fakten, Zahlen, Tabellen, Diagrammen, mit Anekdoten und Erfahrungen, mit Lebensweisheiten und politisch-historischen Einschätzungen. Er konfrontiert Leser und Leserin mit Tatsachen und verrät nur in Ausnahmefällen, was mit diesen Tatsachen seiner Meinung nach im Unterricht zu geschehen hat.

Anfangs werden noch vielversprechend und naheliegend investigativer Journalismus und investigativer Fremdsprachenunterricht miteinander in Beziehung gesetzt: Beide „decken Sachverhalte auf, die bisher verborgen waren -- manchmal auch dem Lehrer. Dies zu erläutern und zu exemplifizieren, wird Aufgabe dieses Buches sein" (6).

Der Autor gibt sich in der Folge aber nicht mit „Sachverhalten" zufrieden; er präsentiert ein enormes Konglomerat von Materialien und von Informationen, die er für interessant und für irgendwie unterrichtstauglich hält. Interessant sind die Materialien und Informationen auch tatsächlich, zumindest zu einem großen Teil. Aber: Wo der Leser Ansätze zu einem investigativen Arbeiten erwartet, stößt er auf endlose Listen und Tabellen. Investigatives Lernen geht von Fragen aus; dieses Buch präsentiert beinahe ausschließlich Antworten. Neugier wird befriedigt, bevor sie überhaupt geweckt worden ist.

Jung arbeitet vorzugsweise mit den Textsorten Leserbrief, Karikatur und Cartoon. Er stellt imposante Sammlungen zusammen, referiert politische Zusammenhänge und kennt sich in den Details aus. Das dokumentierte Faktenwissen ist sehr beeindruckend. Die Steckenpferde des Sammlers allerdings sind Straßennamen und Briefmarken. Die Liste von Straßennamen und auch von Schulnamen sind nahezu unendlich -- wie auch die Beschreibungen und wirklich sehr liebevollen Interpretationen der Briefmarken, über die es an einer Stelle heißt: Es „helfen schon einfachste Kniffe. Ich erinnere mich sehr gern, wie sich die gelangweilten Mienen von Honorarkräften des Goethe Instituts aufhellten, als ich ihnen ein paar abgelöste Briefmarken in die Hand drückte und sie um Beachtung und Beschreibung bat. Allein die haptische Qualität der winzigen Blättchen sorgte für Aufmerksamkeit und Interesse" (38). Ich bin davon überzeugt, dass der Autor hier recht hat, und auch davon, dass die Haptik im Unterricht zu kurz kommt. Nur: Wir sprechen doch hier generell von Unterricht, und Unterricht lebt (immer!) auch von didaktischer Reduktion. Das Gegenteil von didaktischer Reduktion ist Akribie, und die ist in diesem Buch zu besichtigen. Akribie des Dozenten muss nicht schaden, aber sie steht dem Verständnis von investigativem Unterricht im Weg. Der Autor des hier zu besprechenden Buches überflutet seine Klientel mit Informationen, anstatt sie dazu zu bringen, der Welt eigenständig fragend und forschend zu begegnen.

Was soll man investigieren, wenn einem Folgendes bereits vorgegeben ist: „[...] natürlich genießt Beethoven weltweites Renommee. In den Niederlanden zählt man 61 Beethovenstraßen, in Frankreich gar 204. Die Österreicher haben seinen Namen 92 mal auf Straßenschilder geschrieben, die Briten nur 5 mal und die Luxemburger einmal. In den USA ist Beethovens 5. Symphonie immerhin so bekannt, dass Filmhunde sich dafür begeistern. Knapp die Hälfte der Bundesstaaten, 24 genau, haben Beethoven zum Namenspatron einer ihrer Straßen gekürt. In der Summe sind es 57 Stück" (30). Der didaktische Vorschlag lautet einleitend: „Unsere Schüler könnten dem Bonner Verein nun eine Mail schreiben und die gesammelten Daten mitteilen, aber auch die Würdigung des Komponisten außerhalb Deutschlands erwähnen" (30). Ja, aber eine solche Mitteilung ist ganz konventionell und nicht investigativ!

Dieser Rezensent erlaubt sich, ein Projekt zu skizzieren, das er selbst vor Jahren mit Studierenden durchgeführt hat und das er für ein ganz gutes Beispiel für tatsächlich investigatives Lernen hält. Ausgangspunkt war die vergleichende Betrachtung von Volkswagen-Werbung in Deutschland und in Brasilien. Die Studierenden (in Brasilien) waren aufgefordert, die beworbenen Automodelle zu vergleichen. Sie mussten zu diesem Zweck Forschungen anstellen, die sie zu den Vertragshändlern führten und später Mails an die Unternehmenszentralen in Brasilien und in Deutschland schreiben ließen. Es ergaben sich nämlich im Wesentlichen zwei Fragen: Erstens: Wieso ist der Kraftstoffverbrauch der brasilianischen VW-Modelle viel höher als der der (vergleichbaren) deutschen Fabrikate? Zweitens: Wieso haben die deutschen Autos durchweg Airbags, die brasilianischen nicht? Hier ist nun nicht der Ort für die detaillierte Protokollierung des Projekts. Festzuhalten ist aber, was als ein beunruhigendes Ergebnis der Arbeit herauskam: ein brasilianisches Menschenleben war dem VW-Konzern eindeutig weniger wert als ein deutsches! Mittlerweile sind Airbags auch hier vom Gesetzgeber vorgeschrieben.

Investigatives Lernen ist wesentlich Projektarbeit, die von einer (sozial) relevanten Fragestellung ausgeht, eigenständiges Arbeiten ermöglicht, die Dozentin/den Dozenten die Arbeit begleiten und steuern lässt (und nicht organisieren und bestimmen), deren Ergebnisse nicht von vornherein feststehen und das durchaus als Projekt auch scheitern kann. All dies ist in dem hier besprochenen Buch nicht gegeben. Es werden stattdessen Fakten produziert, die nicht weiter zu hinterfragen sind, die im Grunde oft nur bestaunt werden können, die aber jedweder Möglichkeit einer produktiven Erarbeitung entbehren. Dem Autor geht es tatsächlich auch um das Staunen bzw. um das Beeindrucken. So heißt es einmal: „So etwas könnte unsere Schüler beeindrucken" (39). Der Dozent will und soll „Glanzlichter setzen" (53). Ich halte das alles für den völlig verkehrten Ansatz. Diese Art der fast obsessiven Präsentation von Briefmarken und von Straßennamen lässt einfach keinen Platz für schülerseitige Aktivitäten.

Jung, der über jahrzehntelange Erfahrung mit Fremdsprachenunterricht verfügt, hat ganz offensichtlich ein anderes Verständnis von investigativem Unterricht. Ein Beispiel: Es geht um ein Gedicht, dessen Titel und Autor hier nicht weiter wichtig sind. Der Kommentar: „Die Aufgabe investigativ vorgehender Schüler könnte darin bestehen, das Gedicht zu transkribieren und die Prozentzahlen der ausgezählten Laute auf die beiden Abbildungen mit den Normwerten zu übertragen. Wie steht es nun um die Nasale? Die konsonantischen Nasale unterschreiten in aller Regel die Normalverteilung. Bei 2 der 4 Nasalvokale ist ein Überhang festzustellen. Viel Staat lässt sich damit nicht machen" (163). Eben: Viel Staat lässt sich damit nicht machen. Warum sollte man dann so vorgehen -- und was hieran kann auch nur ansatzweise als investigativ verstanden werden?

Dem Autor ist zugutezuhalten, dass er sich für innovative technologische Systeme interessiert und sich für deren Einsatz im Fremdsprachenunterricht ausspricht; es geht u. a. um Kartierungsprogramme und um das Konkordanzprogramm Ngram Viewer von Google. Diese Programme produzieren ansehnliche und ausdruckfähige Visualisierungen. Ein weiteres Verdienst des Buches besteht darin, dass man sich nicht auf Deutsch und den deutschen Sprachraum beschränkt. Es werden vielmehr kulturell relevante Themen aus Frankreich, Kanada, Luxemburg, Großbritannien, den USA und auch aus Russland einbezogen. Apropos: Ungezählte Informationen dieser nahezu enzyklopädischen Faktensammlung sind sehr aktuell. Eine Ausnahme findet man auf Seite 14, es geht um die Frage, welche Probleme wo am ehesten als solche betrachtet werden: „Die Energieversorgung, Strom aus atom- oder kohlgetriebenen Kraftwerken, respektive Gas aus Russland sehen die meisten Europäer als gesichert an." Das Erscheinungsjahr ist 2021, ein Jahr nur vor der Zeitenwende von Bundeskanzler Scholz.

Geschlossen werden soll nicht mit der düsteren europäischen Gegenwart des Jahres 2022, sondern mit einer bedenkenswerten Sentenz von Seite 4: „Manchmal gibt es gute didaktische Gründe, die Sprachwirklichkeit zu vernachlässigen."

By Werner L. Heidermann

Reported by Author

Titel:
Jung, Udo O.H.: Investigativer Fremdsprachenunterricht. Norderstedt: Books on Demand, 2021. -- ISBN 978-3-7534-0846-0. 461 Seiten, € 59,99.
Autor/in / Beteiligte Person: Heidermann, Werner L.
Link:
Zeitschrift: Info DaF: Informationen Deutsch als Fremdsprache, Jg. 50 (2023-04-01), Heft 2/3, S. 230-233
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0724-9616 (print)
DOI: 10.1515/infodaf-2023-0040
Schlagwort:
  • FOREIGN language education
  • INVESTIGATIVER Fremdsprachenunterricht (Book)
  • JUNG, Udo O.H
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  • VOLKSWAGEN AG
  • STUDENT activities
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  • NONFICTION
  • ADVERTISING
  • BRAZIL
  • Subjects: FOREIGN language education INVESTIGATIVER Fremdsprachenunterricht (Book) JUNG, Udo O.H STREET names LANGUAGE & languages VOLKSWAGEN AG STUDENT activities TEACHING AUTHOR-reader relationships NONFICTION ADVERTISING
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Investigative foreign language teaching.
  • Language: German
  • Document Type: Product Review
  • Geographic Terms: BRAZIL
  • Author Affiliations: 1 = Florianópolis, / Brasilien Brazil

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