Zifonun, Gisela : Das Deutsche als europäische Sprache. Ein Porträt. Berlin : de Gruyter, 2021. -- ISBN 978-3-11-061615-6. 355 Seiten, € 32,00 [Open Access unter https://www.degruyter.com].
Zifonun verspricht uns, in ihrem Buch „charakteristische, denk- und merkwürdige Eigenschaften des Deutschen" (
Kapitel 2 bis 7 befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten des Deutschen, zum Beispiel Tempora und Syntax. Zum Vergleich werden Englisch, Französisch, Polnisch und Ungarisch herangezogen. Vom Ansatz her bietet sich diese Vorgehensweise an, in der Praxis gelingt das eher bedingt. Die vielen Beispielsätze aus dem Deutschen und ihre Gegenstücke aus den anderen Sprachen beschränken sich in erster Linie auf folgendes Prinzip: Im Deutschen gibt es das und das, und im Französischen, Englischen usw. wird das so und so ausgedrückt. Das ist schön und gut für den Vergleich der jeweiligen Form, aber letztlich hilft es uns nicht bei dem Verständnis einer Sprache -- nicht zuletzt, weil über die anderen Sprachen nichts außer den Beispielsätzen gesagt wird. Wer mit den vier Vergleichssprachen vertraut ist, mag nachvollziehen können, was Zifonuns Satzpaare und -gruppen erreichen sollen, aber auch dann gehen die Beispiele selten über Listen hinaus.
Der Klappentext verspricht drei Dinge. Zum einen soll Grammatik „anschaulich und konkret" vermittelt werden. Dieser Anspruch wird nur teilweise erfüllt. Es gibt definitiv einen Reichtum von Beispielen aus den untersuchten Sprachen, allerdings verstehe ich unter sowohl „anschaulich" als auch „konkret" etwas anderes als kontextlose Sätze, die letztlich ein zwar umfangreiches, aber dennoch beschränktes Korpus spiegeln.
Beim nächsten Punkt („Innovativer Blick auf das Deutsche im Kreis europäischer Sprachen") fehlen wie bei Punkt 1 die Begründungen und Hintergründe für Satz- und Formvergleiche. Zum Beispiel wäre es im Rahmen einer Frage nach dem Wesen einer (oder fünf) europäischen Sprache interessant gewesen, wenigstens kurz etwas über die Entwicklung der jeweiligen Sprache zu erfahren. Wenn, wie Zifonun eingangs sagt, das Deutsche (und selbstverständlich alle anderen Sprachen) sich durch „Veränderung" (
Als wirklich „innovativ" kann man eine Gegenüberstellung im Stil von Wie drückt man das auf Ungarisch aus? eigentlich nicht bezeichnen. Außerdem gehört von den Vergleichssprachen nur Englisch zu den germanischen; die Unterschiede zu romanischen, slawischen und finno-ugrischen Sprachen können m. E. nicht wirksam durch Gegenüberstellung von Satzpaaren dargestellt werden. Hier müssten andere Parameter angewendet werden.
Und schließlich Punkt 3: „Kurzweilige Einführung für Sprachinteressierte auch ohne linguistische Fachkenntnisse". Das Werk ist sicherlich „kurzweilig", aber es ist zu bezweifeln, dass ein Leser „ohne linguistische Fachkenntnisse" lange durchhält. Ohne fundierten (= germanistischen) Hintergrund gibt es viel zu viel Information, die einen interessierten Laien (und nicht nur Laien) überfordert. Zifonun setzt zum Beispiel voraus, dass Schwergewichte der Linguistik (Chomsky, de Saussure, Bühler etc.) und ihre Arbeit bekannt sind. Das ist allerdings etwas, das man im Germanistikstudium lernt (und Germanistikstudenten würden vermutlich nicht auf dieses Werk zurückgreifen). Dann wieder finden wir Details auf Grundschulniveau über zum Beispiel Satztypen neben Minimalinformation über die Sprechakttheorie. Ebenso vorausgesetzt wird Fachterminologie, die weit über den Deutschunterricht hinausgeht.
Bei der Lektüre habe ich mich fortwährend gefragt: Wer soll der Adressatenkreis sein? Wie soll ein Leser überhaupt zu diesem Buch finden? In welche Nische passt es? Was genau bringt es mir, das ich nicht in anderen Werken entdecken könnte? Und wie würde ich überhaupt nach einem solchen Buch suchen? Es ist eine Mischung aus verschiedenen Ansätzen, die aber alle zu viele Fragen unbeantwortet lassen.
Das Buch ist durchaus interessant geschrieben, aber es fehlt der rote Faden. Man hat oft den Eindruck, als wäre der Autorin beim Schreiben immer wieder noch etwas eingefallen, das noch eingeschoben werden musste -- aber nicht immer logisch und/oder konsequent. Es gibt zu viele Sprünge, Exkurse, Aus- und Abschweifungen. Beispielsweise beginnt Kapitel 4 damit, vorauszusetzen, dass jeder weiß, was Nominalphrasen sind (können Sie das als „Sprachinteressierte[r]" mal schnell definieren?), dann geht es ein paar Seiten weiter zur Frage, was Wortarten sind. Von der Fachsprache zum Plauderton -- und umgekehrt. Eine straffere und übersichtliche Ordnung hätte die Lesbarkeit des Werks erheblich verbessert.
Kapitel 5 (Der Satz) ist 35 Seiten lang. Auf der zweiten Seite wird der Leser (also auch der „ohne linguistische Fachkenntnisse") mit folgendem Satz bombardiert: „Gerade bei den konditional-fundierten Supplement-Typen kann man feststellen, dass Sprecher ihre Aussagen nicht nur auf der Ebene der thematisierten Sachverhalte zum Beispiel kausal oder konzessiv ergänzen, sondern mit (fast) denselben sprachlichen Mitteln auch auf die ‚epistemische', also wissensbezogene, oder gar die illokutive Ebene umschwenken können" (
Dieser Leser müsste hier wahrscheinlich ein halbes Dutzend Begriffe nachschlagen, und selbst einer, der über dieses Fachwissen verfügt, müsste den Satz mehrmals lesen. Solche Sätze sind keine Ausnahme.
Wenn man nicht aufgibt und sich durch den Wust an Beispielen und die oftmals unschlüssige Struktur arbeitet, findet man durchaus einige Lichtblicke, zum Beispiel zur Entwicklung von Groß- und Kleinschreibung (Kapitel 4) oder zum Thema Wortschatz und Anglizismen (Kapitel 6). Im Großen und Ganzen sind diese Edelsteine aber schwer auffindbar und auch nicht verlässlich im Register aufgeführt (wo man als Leser vermutlich auch gar nicht suchen würde). Außerdem werden ähnliche Beobachtungen auch in vielen herkömmlichen Sprachgeschichten gemacht.
Am Ende der jeweiligen Kapitel kommt es zu einem Gefühl von sowohl Übersättigung als auch Verwirrung. Es fehlt ein Fazit, um dem Leser das Wichtigste vor Augen zu führen. Aus nicht wirklich erfindlichen Gründen erhalten wir eine Art Zusammenfassung dann am Anfang von Kapitel 8 (Das Deutsche -- auf dem Weg zu einem Sprachportrait). Für viele kommt das vermutlich zu spät.
Ist das Deutsche also eine europäische Sprache? Nun, man sollte es annehmen, liegt doch Deutschland mitten in Europa. Ganz am Ende des Buchs lesen wir (fast nebenbei), dass das Deutsche neun charakteristische Merkmale des Standard Average European (SAE) erfüllt und dadurch „zum innersten Kern dieses Sprachbundes" (
Vor dem Hintergrund dieser Merkmale ergibt das Buch rückblickend schon mehr Sinn, da es eben diese Merkmale untersucht (zu ihnen gehören beispielsweise das Vorhandensein eines bestimmten und unbestimmten Artikels, die Perfektbildung mit haben und die Passivbildung mit Hilfsverb und Partizip). Hätte dies am Anfang gestanden, wäre das Konzept des Buchs viel klarer. Jedoch kann ein Leser nicht bis zur letzten Seite auf den Aha-Moment warten -- und schon gar nicht der, der mangels ausreichender „linguistische[r] Fachkenntnisse" (s. o.) schon längst die Segel gestrichen hat.
Für mich (seit Ewigkeiten im Fachbereich Deutsch tätig) ist der Zweck eines Buchs zum Thema Deutsche Sprache, sowohl etwas Neues zu lernen als auch etwas Bekanntes aufzufrischen und/oder neu zu evaluieren. Hier muss ich leider sagen, dass weder der erste noch der zweite Zweck ausreichend erfüllt wurden.
By Manuela von Papen
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