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Bogusław Dybaś, Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814–1815. (Internationale Geschichte, Bd. 6.) Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2021.

Siemann, Wolfram
In: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-04-01), Heft 2, S. 492-495
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Bogusław Dybaś, Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814–1815. (Internationale Geschichte, Bd. 6.) Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2021 

Bogusław Dybaś, Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814–1815. Internationale Geschichte, Bd. 6. 2021 Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien, 978-3-7001-8580-2, € 49,–

Folgt man der Wiener Kongressakte, war die polnische Frage das größte Problem dieses epochalen Friedenskongresses von 1814/15, denn die Urkunde eröffnet in ihren ersten 14 Artikeln mit diesem Thema. Umso mehr verwundert es, dass die Forschung es noch nicht derart intensiv und zugleich transnational erörtert hat, wie es nun in dem vorliegenden Tagungsband geschieht. Bisher dominierten zwei dichotome Perspektiven: Einerseits galt das Werk als Stiftung eines originären völkerrechtlichen Systems, das mindestens bis zum Krimkrieg 1853 den europäischen Kontinent vor einem weiteren großen Krieg bewahrte. Andererseits zählten die staatsbildenden Beschlüsse mit Blick auf die ‚unerlösten' Nationalitäten (Polen, Deutsche, Ungarn, Italiener etc.) als Fehlkonstruktion, die sich – besonders aus polnischer Sicht – als Treibsatz erwiesen und letztlich den Ersten Weltkrieg provoziert habe. Der Band lässt auf wohltuende Weise diese Dichotomie hinter sich und liefert viele neue Erkenntnisse, die ein viel differenzierteres Urteil erlauben. Es sei als ein Resultat vorausgeschickt, dass die Einbettung der polnischen Frage in die Nationalitätenproblematik des 19. Jahrhunderts methodisch in die Irre führt, denn sie war singulär, weil in dem 1815 neu konstituierten „europäischen Konzert" keine Lösung gefunden wurde für ein 400-jähriges Imperium, das lange Zeit eine Großmachtstellung in Mittel-Osteuropa eingenommen hatte und 1792 sogar noch vor Frankreich mit einer modernen Konstitution hervorgetreten war. Die Frage war also zwischen 1812 (dem Scheitern Napoleons in Russland) und 1815 (nach seiner Abdankung), warum diese Großmacht – die Rzeczpospolita – als Zentralmacht zwischen Russland im Osten und den Mächten Preußen und Österreich in Mitteleuropa nicht wiederhergestellt wurde. Diese Frage durchzieht den hier vorzustellenden Tagungsband, wenn sie in der Argumentation auch nicht immer so klar und quellengestützt durchdrungen wird, wie man es sich gewünscht hätte.

Der Band ist das Ergebnis eines Symposions vom 16. Oktober 2014 sowie eines dem Fürsten Edward Lubomirski gewidmeten Workshops vom 26. Juni 2013, durchgeführt am Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien und herausgegeben von dessen ehemaligem Direktor Bogusłav Dybaś. Hier können die Resultate der elf Beiträge nur skizzenhaft bilanziert werden.

Das Herzogtum Warschau erlebte in der Zeitspanne von der Niederlage Napoleons 1812 vor Moskau bis zu seiner Abdankung am 6. April 1814 eine Phase des organisatorischen Übergangs, geprägt von der Spannung zwischen der pronapoleonischen Haltung der Beamten und Richter und der prorussischen Orientierung der Gruppe um den Fürsten Adam Czartoryski. Richtig ist, dass damals nach britischen Plänen die Wiederherstellung der alten Union erwogen wurde, allerdings anders, als hier dargelegt, auch mit der nachdrücklichen Unterstützung Metternichs, der alle polnischen Teilungen als Unrecht verurteilt hatte (J. Czubaty). Ein Blick auf die politischen Akteure bzw. ‚Netzwerker' im Hintergrund der Kongressverhandlungen (A. Czartoryski, H. Lubomirski, A. Radziwiłł, T. Kościuszko) offenbart die ganze Bandbreite an Restitutionskonzeptionen und was damals unter „national" zu verstehen war, aber auch deren Wirkungslosigkeit angesichts des imperialistischen Impetus des Zaren nach „russischer Oberhoheit" gegenüber einem amputierten „Kongresspolen" (K. Schneider). Ein Blick auf neun ausgewählte Karikaturen zum Wiener Kongress offenbart in typisch karikaturistischer Zuspitzung die Klischees vom „Länderschacher", von der „Schaukelpolitik" (Gleichgewichtspolitik im Bild der Waage) und dem „politischen Theater". Bezeichnenderweise firmiert Zar Alexander I. hier nicht als der konstitutionell inspirierte Beglücker eines wiederhergestellten Polens, sondern als der Politiker des Expansionsdrangs (W. Telesko).

Wo die Zeit nicht reif war für Staatsbildung nach streng nationalen Kriterien, musste die Arithmetik der Bevölkerungszahlen als Basis für Neukonstituierung dienen. Der viel geschmähte „Länderschacher" erscheint vor dem Hintergrund der höchst professionell arbeitenden statistischen Kommission in einem anderen Licht, wenn man berücksichtigt – wie hier gezeigt wird –, dass es ihr gelang, die Existenz einer polnischen „Nation" gleichwohl anzuerkennen, indem sie nationalitätenpolitische Rechte und eine gewisse kultur- und verfassungspolitische Autonomie in die Friedensakte hineinschrieb. Dieser Beitrag hebt die britische Initiative vom 12. Januar 1815 hervor, ein selbstständiges polnisches Staatswesen gemäß 1792 an der Nahstelle zwischen Russland und Mitteleuropa wiederherzustellen, was aber „am unüberwindlichen Widerstand des Zaren" scheiterte. In der Zusammenschau mit der Annexion Finnlands 1809 und Bessarabiens 1812 bedeutete die russische Inkorporation Kongresspolens „eine zentrale Etappe der Westverschiebung des russischen Staats- und Einflussgebiets" (R. Stauber).

Das gerühmte Wiener System hatte freilich eine wenig gesehene Hypothek: Die Etablierung der Pentarchie von 1815 war nur möglich durch die Demontage der polnisch-litauischen Großmacht. Ihrem Niedergang verdankten Preußen seinen Großmachtstatus und Russland seine Einflussmacht in Europa. Die Konstitutionalisierung Polens war nur Vorwand, die zarische Expansion (inklusive der nicht zurückgenommenen territorialen Inkorporation der polnischen Teilungsgebiete) akzeptabel zu machen. Das 1815 in der Kongressakte genannte „Polen" war nationalpolitisch ambivalent definiert in Form des weiterhin als existent dekretierten Wirtschafts- und nationalen Kulturraums von 1792 und in der staatlichen Aufsplitterung in die drei Teilungsgebiete, in Kongresspolen und Krakau. Die auch in diesem Beitrag hervorgehobenen Initiativen Metternichs und Castlereaghs, das Polen von 1792 wiederherzustellen, scheiterten an dem in der russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts angelegten Imperialismus (H. H. Hahn). Eine differenziertere Betrachtung Galiziens unter habsburgischer Oberhoheit zeigt, dass die Abkehr von der verhassten josephinischen Politik und der Wille zur nicht nur proklamierten, sondern realisierten ständischen Verfassung zugleich eine Rücksicht auf die polnische Sprache und eine Ämterzugänglichkeit gewährleistete. In Konkurrenz zu Kongresspolen erwies sich das habsburgische Galizien für die Bewahrung der polnischen Identität als zunehmend attraktiver, vor allem seit dem 1867 gewährten Autonomiestatus (M. Řezník). Richtig aufgelöst ist die Spannung zwischen einem – im Gefolge Alexanders I. – modern anmutenden Konstitutionalismus und dessen imperialistischem Dominanzstreben, das die Rekonstituierung der alten Föderation von 1792 bekämpfte, freilich immer noch nicht (L. Kuk). Dieses Dilemma zeigte sich bereits in dem höchst instruktiven Kongressbericht des glühenden polnischen Patrioten und zugleich loyalen Untertanen des Zaren: des hochgebildeten Diplomaten Fürst Edward Lubomirski (Jarosław Ławski, Ferdinand Opll).

Der Wiener Kongress löste die polnische Frage nicht auf eine vielberufene eindimensionale Weise, sondern so kompliziert, dass er nie richtig verstanden wurde: Er versuchte, um den großen Krieg zu vermeiden, die Quadratur des Kreises, indem er Merkmale des herkömmlichen „Composite State" mit den modernen Elementen der Nationalität und des Konstitutionalismus zu verbinden suchte (vgl. Wolfram Siemann, „Die blinde Vergrößerungssucht [...], diese allen Grundsätzen gesunder Politik entgegengesetzte Theilung". Die Polnische Frage, die Großmächte und der Wiener Kongress, in: Joachim Bahlcke/Anna Joisten (Hrsg.), Wortgewalten. Hans von Held – Ein aufgeklärter Staatsdiener zwischen Preußen und Polen. Potsdam 2018, 335–353); es war „[d]er originelle Versuch des Wiener Kongresses, dem polnischen Volk Grundlagen einer nationalen Existenz in einigen fremden staatlichen Organismen zu sichern" (L. Kuk, S. 157). Es ist das Verdienst dieses Bandes, den Blick für diese nur historisch zu begreifende Konstellation geschärft und erst damit weiteren Forschungen die Bahn geebnet zu haben.

By Wolfram Siemann

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Titel:
Bogusław Dybaś, Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814–1815. (Internationale Geschichte, Bd. 6.) Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2021.
Autor/in / Beteiligte Person: Siemann, Wolfram
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-04-01), Heft 2, S. 492-495
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2023-1105
Schlagwort:
  • DIE polnische Frage und der Wiener Kongress 1814-1815 (Book)
  • DYBAS, Boguslaw
  • CONGRESS of Vienna (1814-1815)
  • POLISH question
  • NONFICTION
  • Subjects: DIE polnische Frage und der Wiener Kongress 1814-1815 (Book) DYBAS, Boguslaw CONGRESS of Vienna (1814-1815) POLISH question NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Adelzhausen, Germany.

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