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Martin Baumert, Autarkiepolitik in der Braunkohlenindustrie. Ein diachroner Systemvergleich anhand des Braunkohlenindustriekomplexes Böhlen-Espenhain, 1933 bis 1965. (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Bd. 240.) Berlin/Boston, De Gruyter 2021

Ziegler, Dieter
In: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-04-01), Heft 2, S. 520-523
Online review

Martin Baumert, Autarkiepolitik in der Braunkohlenindustrie. Ein diachroner Systemvergleich anhand des Braunkohlenindustriekomplexes Böhlen-Espenhain, 1933 bis 1965. (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Bd. 240.) Berlin/Boston, De Gruyter 2021 

Martin Baumert, Autarkiepolitik in der Braunkohlenindustrie. Ein diachroner Systemvergleich anhand des Braunkohlenindustriekomplexes Böhlen-Espenhain, 1933 bis 1965. Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Bd. 240. 2021 Walter de Gruyter GmbH Berlin/Boston, 978-3-11-073478-2, € 99,95

In den letzten Jahren ist eine Reihe von Studien erschienen, die sich der Geschichte deutscher Unternehmen über die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 hinweg widmen. So ist das auch hier. Allerdings handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit nicht um eine Unternehmensgeschichte, sondern um die politische Betriebsgeschichte in einem Teilrevier der mitteldeutschen Braunkohleregion. Geprägt war das Revier südlich von Leipzig nicht nur durch den Braunkohlentagebau, sondern auch durch die auf diesen Rohstoff aufbauende Kraftwerks- und Chemieindustrie. Der Auf- und Ausbau dieser Industrien stand im engen Zusammenhang mit der Autarkiepolitik des „Dritten Reichs" und der DDR. Für die Entstehung des Industriekomplexes Böhlen-Espenhain waren besonders zwei Unternehmen verantwortlich: die Aktiengesellschaft Sächsische Werke (ASW) mit ihren Gruben und Kraftwerken in Böhlen und Espenhain, die bereits in den zwanziger Jahren gegründet worden waren, sowie die Braunkohle-Benzin AG (Brabag), die 1934 auf Veranlassung von Reichswirtschaftsminister Schacht als Pflichtgemeinschaft der deutschen Braunkohleindustrie errichtet worden war. Während der Gründungszweck der ASW vor allem die Sicherung der Elektrizitätsversorgung im Freistaat gewesen war, diente die Brabag in erster Linie der Treibstoffversorgung.

In beiden Fällen handelte es sich ursprünglich um Aktiengesellschaften, wobei allerdings die ASW im alleinigen Besitz des Freistaates Sachsen war. Die Brabag war zwar von Unternehmen der Privatwirtschaft finanziert worden, die Verfügungsgewalt lag aber bei Funktionären der NSDAP, die Vorstand und Aufsichtsrat beherrschten. Der Autor bezeichnet die Brabag deshalb als „Parteiunternehmen". Wenn er demnach den Untersuchungszeitraum über die Zäsur von 1945 hinaus verlängert, behandelt er, so seine Formulierung, nicht etwa „den Wandel von der Markt- zur Planwirtschaft, sondern die Transformation eines Staats- bzw. Parteiunternehmens in unterschiedlichen Systemen" (S. 5). Tatsächlich interessiert der Markt, abgesehen vom Arbeitsmarkt, in dieser Arbeit so gut wie gar nicht. Untersucht werden die „Wirtschaftsorganisation" und die „Belegschaftspolitik"; und zwar gesondert für drei Untersuchungsperioden, die NS-Zeit sowie die Phasen der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) in der SBZ und der Volkseigenen Betriebe (VEB) Braunkohlenkombinat Espenhain und Kombinat „Otto Grotewohl" Böhlen nach der Übergabe der Werke an die DDR. Gefragt wird nach den „Möglichkeiten und Freiheiten des Einzelnen in der Betriebsführung" in den jeweiligen „Systemen" (S. 10). Am Ende der sehr detaillierten empirischen Untersuchung kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Kontinuitäten sowohl in der Wirtschaftsorganisation als auch bei den Funktionseliten gemessen an der Radikalität des Systemwechsels erstaunlich hoch waren. Denn es habe keinen „Primat der Politik" gegeben, etwa durch eine weitgehende Säuberung der Belegschaft von belasteten Nationalsozialisten nach 1945. Vielmehr habe es wegen der Abhängigkeit der auf Autarkie ausgerichteten Wirtschaftspolitik von der Energie- und Chemieproduktion des Reviers in allen drei Systemen einen „Primat der Produktion" gegeben, wodurch die „Kontinuität der Betriebsorganisation determiniert" worden sei (S. 434).

Die Kontinuitätslinien erklären sich außerdem durch die den gesamten Untersuchungszeitraum kennzeichnenden Mängel an Material und Personal. Wegen des Mangels an qualifiziertem Personal konnten es sich die SAGs und VEBs einfach nicht leisten, Nationalsozialisten unterhalb der Leitungsgremien von Brabag und ASW aus ihren Funktionen zu entfernen. Das heißt aber nicht, dass die DDR auf eine Überwachung der Belegschaften verzichtet hätte. Auch hier sieht der Autor Kontinuität. Richtete sich das betriebliche Überwachungsregime der Brabag noch überwiegend auf Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeiter, so überwachten die SAGs und VEBs die gesamte Belegschaft, was nicht nur eine Verschwendung des knappen Gutes Arbeitskraft bedeutete, sondern in der DDR geradezu paranoide Züge aufwies. Ein Unterschiedsmerkmal zwischen den „Systemen" scheint dagegen die Beschäftigung von Frauen gewesen zu sein. Allerdings lässt sich die Zunahme der Frauenarbeit nach 1945 nicht allein ideologisch erklären, sondern es galt vor allem die (nach-)kriegsbedingt fehlenden Männer zu ersetzen. Das zeigt sich etwa daran, dass Frauen auch in der Zeit der DDR in der Regel bei gleicher Arbeit weniger verdienten und nur selten in Führungspositionen aufrückten. Das ist zwar nicht in erster Linie, aber doch auch auf den Widerstand des männlichen Teils der Belegschaften zurückzuführen, wie sich überhaupt lange Versatzstücke bürgerlicher und sogar von NS-Ideologie in den Belegschaften hatten halten können.

Während die Thesen meist gut begründet und ausführlich belegt sind, ist die Darstellung der Brabag doch problematisch. Ein wesentlicher Baustein des Systemvergleichs ist die Annahme, dass Brabag und ASW vor 1945 außerhalb einer marktwirtschaftlichen Rationalität agierten. Bei der Begründung für diese These versteigt sich der Autor zu der These, dass Brabag und ASW im Unterschied zu einer „Privatfirma [...] von Anfang an monopolistische Staats- bzw. Parteiunternehmen" gewesen seien (S. 7), ja die Brabag habe nach ihrer Gründung sogar einen „staatsmonopolistischen Auftrag" erfüllt (S. 5). Monopole waren beide Unternehmen im „Dritten Reich" ganz sicher nicht und ob sie wirklich nicht nach einer marktwirtschaftlichen Logik agierten, wäre zu untersuchen gewesen. Doch leider wird nur postuliert, dass statt Gewinnmaximierung der Unternehmenszweck die „ausschließliche Erfüllung der staatlichen Anforderungen" gewesen sei.

Davon abgesehen rückt der Autor den Vierjahresplan nah an die Fünfjahrpläne der DDR heran, wenn es etwa mit Verweis auf die Devisen- und Rohstoffbewirtschaftung der dreißiger Jahre heißt, dass sich die Ökonomien beider Diktaturen „nicht so stark [...] unterschieden" wie „lange Zeit angenommen" (S. 429 f.). Das ist nicht nur eine sehr gewagte These, sondern der Autor hat auch die vor etwa 20 Jahren geführte Debatte über den Charakter der NS-Wirtschaftsordnung nicht rezipiert. So finden sich weder Arbeiten von Christoph Buchheim noch von Jonas Scherner in der Literaturliste. Auch die Rolle des Mitteldeutschen Braunkohlensyndikats wird an keiner Stelle gewürdigt. Die Forschungslage über dieses größte, allerdings auch fragile Braunkohlensyndikat in Deutschland ist zwar begrenzt. Bekannt ist aber, dass sich das Syndikat Mitte der dreißiger Jahre sehr erfolgreich gegen die von Wirtschaftsminister Schacht forcierte Kontingentierung der Kohleförderung gewehrt hatte, und auch bei der erzwungenen Abberufung von Reichskohlenkommissar Walter, der 1941 versucht hatte, die Macht der Syndikate zu brechen, war das Mitteldeutsche Braunkohlensyndikat beteiligt. Das ist das Gegenteil von der „Erfüllung der staatlichen Anforderungen". Indem Buchheims „gelenkte Marktwirtschaft" zu einer „gelenkten Wirtschaft" erklärt wird, ruht der Systemvergleich methodisch auf einem sehr wackeligen Fundament, was aber den empirischen Gehalt und damit den Wert der Studie nur marginal schmälert.

By Dieter Ziegler

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Titel:
Martin Baumert, Autarkiepolitik in der Braunkohlenindustrie. Ein diachroner Systemvergleich anhand des Braunkohlenindustriekomplexes Böhlen-Espenhain, 1933 bis 1965. (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum, Bd. 240.) Berlin/Boston, De Gruyter 2021
Autor/in / Beteiligte Person: Ziegler, Dieter
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-04-01), Heft 2, S. 520-523
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2023-1120
Schlagwort:
  • AUTARKIEPOLITIK in der Braunkohlenindustrie: Ein diachroner Systemvergleich anhand des Braunkohlenindustriekomplexes Bohlen-Espenhain, 1933 bis 1965 (Book)
  • BAUMERT, Martin
  • SELF-reliant living
  • LIGNITE industry
  • NONFICTION
  • Subjects: AUTARKIEPOLITIK in der Braunkohlenindustrie: Ein diachroner Systemvergleich anhand des Braunkohlenindustriekomplexes Bohlen-Espenhain, 1933 bis 1965 (Book) BAUMERT, Martin SELF-reliant living LIGNITE industry NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Lehrstuhl für Wirtschafts- u. Unternehmensgeschichte, Bochum,, 44780, Germany.

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