Keywords: Europäisierung; Ungleichheitssoziologie; räumliche Bezüge in Ungleichheitsregimen
Martin Heidenreich, Die doppelte Spaltung Europas: Territoriale und soziale Ungleichheiten als zentrale Herausforderungen der europäischen Integration. Wiesbaden : Springer VS 2022, 456 S., gb., 79,99 €
Die Frage nach der europäischen Vergesellschaftung ist in den letzten 20 Jahren im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb zum Dreh- und Angelpunkt der europasoziologischen Forschung geworden. Heidenreichs Buch über die doppelte Spaltung Europas fügt einen weiteren Baustein zur Beantwortung dieser Frage hinzu – und zwar mit einer wirtschafts- und arbeitsmarktdatengesättigten Analyse sozialer und territorialer Ungleichheiten in Europa. Der Autor stellt seine Befunde, die er im Wesentlichen auf der Grundlage der europäischen Erhebungen über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) seit 2004 herausarbeitet, „als Ergebnis von unterschiedlichen grenzüberschreitenden Vergesellschaftungsprozessen in Europa" (S. 30) dar. Gleichzeitig betont er immer wieder die Bedeutung der nationalstaatlichen Handlungsebene für die beobachteten Ungleichheitsstrukturen. „Der sogenannte ‚methodologische Nationalismus' der Ungleichheitsforschung ist somit keinesfalls überholt. Nationale Strukturen, Institutionen und Politiken sind immer noch zentrale Bestimmungsfaktoren sozialer Ungleichheiten und ihrer Muster und Dynamiken." (S. 406) Die gleichwohl von Heidenreich festgestellte Europäisierung sozialer Ungleichheiten, welche in sozialen und territorialen Spaltungen (und nicht in einer europäischen Schichtungspyramide) zum Ausdruck kommt, ist das Resultat (i) einer „komparativ-internationalen Perspektive" auf die nationalen Bestimmungsfaktoren sozialer Ungleichheit, (ii) der Auswirkungen der EU-Politiken „auf die Einkommens- und Lebensbedingungen der Menschen und die nationalstaatlich verfassten Gesellschaften", (iii) der „transnationale[n] Wahrnehmungen und Einstellungen" und (iv) der europäisch strukturierten Handlungsfelder, grenzüberschreitenden Karrieren, Strategien und Alltagspraktiken (kursiv im Original, S. 30, 31). Mit dieser Unterscheidung greift der Autor auf die Überlegungen und Befunde der von ihm koordinierten DFG-Forschergruppe „Europäische Vergesellschaftungsprozesse – Horizontale Europäisierung zwischen nationalstaatlicher und globaler Vergesellschaftung" zurück, deren Mitglieder und Teilprojekte neben den englischsprachigen Klassikern der Europaforschung den zentralen Literaturkanon des Buchs bilden. Das hier besprochene Buch ist das Ergebnis des siebten Teilprojekts der Forschergruppe.
Die Zentralität der Vergesellschaftungsfrage in der Europaforschung des deutschsprachigen Wissenschaftsbetriebs beruht sicherlich auf der Eingängigkeit des Vergesellschaftungsbegriffs in der deutschsprachigen Soziologie ([
Zunächst als „Europa ohne Gesellschaft" ([
Ist dieses Ergebnis nicht zu erwarten gewesen oder besser gesagt die Voraussetzung des gesamten Buchs? Heidenreichs Datenanalyse, die zwischen den EU-Mitgliedstaaten, Norwegen und der Schweiz in dem Zeitraum 2004–2018 vergleicht, und die von ihm etablierten Zusammenhänge zwischen einzelnen statischen Positionen bzw. zwischen jenen und EU-Politiken bauen auf zwei im Vorfeld definierte europäische Vergesellschaftungsprozesse auf, welche Heidenreich mit den Ergebnissen der Untersuchung der Ungleichheiten zu beweisen versucht. Der Autor arbeitet zudem mit Daten, die in europäischer Perspektive mit europäisch vereinheitlichen Instrumenten und Methoden auf der Basis des nationalstaatlichen Musters erhoben worden sind. Der Vergesellschaftungscocktail des Wasserglases ist gewissermaßen durch das empirische Material vorgegeben. Auch sind er selbst mit dem hier besprochenen Buch sowie seinen vorausgehenden Veröffentlichungen (z. B. [
Heidenreich führt eine an der klassischen nationalstaatlichen Strukturanalyse angelehnte Untersuchung „der nationalen und transnationalen Muster sozialer Ungleichheiten in Europa" durch. Hierbei verfolgt er das Ziel, „die jeweiligen Länder und sozialen Gruppen zu identifizieren, die auf der Gewinner- und der Verliererseite stehen." (S. 9) In dieser Hinsicht arbeitet er zunächst unter einem wirtschaftsstrukturellen Blickwinkel eine territoriale Spaltung heraus. Auf der Basis des Vergleichs von Staatsschulden, nationalen Austeritätspolitiken, Wirtschaftsmodellen und Beschäftigungsregimen unterscheidet er zwischen einem nord- und kontinentaleuropäischen Zentrum und einer süd-, mittel- und osteuropäischen Peripherie, die er anhand der Beobachtung von zwei unterschiedlichen Entwicklungspfaden untergliedert. Für Mittel- und Osteuropa stellt er „auch während der Finanzmarkt- und Eurokrise eine steigende Wirtschaftsleistung und sinkende Arbeitslosenquoten" (S. 79) fest, was er u. a. auf den „signifikanten Einfluss" der wirtschaftlichen und monetären Europäisierung zurückführt (ebd.). Die wirtschaftliche Ausrichtung „auf personenbezogene Dienstleistungen und auf eine Dualisierung der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte" (ebd.) hat hingegen in Südeuropa in der Krise zu „[ü]berdurchschnittliche[n] Einbrüche[n] der Wirtschaftsleistungen, hohe Arbeitslosenquoten und de[n] Wegfall einfacherer, entweder industrieller oder tertiärer Tätigkeiten" (S. 89) geführt.
Die Spaltungslinien sind insofern territorial zu verstehen, als dass sie die von Heidenreich herausgearbeiteten Ungleichheiten zwischen den Nationalstaaten in Bezug auf die Segmentierung sowie Marginalisierung auf den Arbeitsmärkten, den Lohn, das Einkommen, Armutsrisiko und die Bildung widerspiegeln. Sie führen das Ende der automatischen wirtschaftlichen Konvergenz der „alten" 15 EU-Mitgliedsländer (S. 268), die erfolgreiche Integration der mittel- und osteuropäischen Staaten in den europäischen Wirtschaftsraum (S. 307), den geringen Einfluss der Austeritätspolitiken auf die Arbeitsmarktchancen (S. 243) oder auch den Erfolg europäischer sowie nationaler Aktivierungspolitiken (S. 136) vor Augen. Allerdings erlauben sie darüber hinaus wenig Rückschlüsse auf die räumlichen Bezüge der untersuchten sozialen Ungleichheiten. Nicht nur gehen die „feinen", die Spaltungslinien transzendierenden Differenzierungen und Prozesse (S. 396) verloren, die Heidenreich aus seinem Datenmaterial etwa für die Lohnungleichheiten oder Einkommensverteilung herausarbeitet und vor dem Hintergrund bereits veröffentlichter Studien analysiert. Auch lässt die Konstruktion territorialer Blöcke die Ungleichheiten im Dunkeln, die durch die wissensintensiven Dienstleistungs- und technologischen Industriemetropolen mit einem hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften wie auch an Niedriglohn-Serviceleister:innen im Norden und Westen wie auch im Süden und Osten Europas produziert werden ([
Die Stärke von Heidenreichs Buch liegt in der detaillierten Auswertung der EU-SILC-Daten von 2004 bis 2018 und entsprechenden Analyse der sozialen Ungleichheiten. Indem der Autor die Datenreihe in drei Phasen unterteilt – 2004 bis zu den Boomjahren 2007/2008, die Finanzmarkt- und Eurokrise von 2009 bis 2013 und der daran anschließende Aufschwung bis 2018, bildet er detailliert Entwicklungen sowie Kontinuitäten der sozialen Ungleichheiten ab. Jedes Kapitel gleicht einer Datenbank, aus der in einer weiteren Forschung sowohl einzelne Informationen als auch kausale Zusammenhänge geschöpft werden können. Zudem werden in den Kapiteln, die jeweils mit einer Literaturliste schließen und quasi als eigenständige Aufsätze gelesen werden können, die herausgearbeiteten Entwicklungen und Kontinuitäten systematisch ländervergleichend und in Bezug auf Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken wie auch im Hinblick auf bereits veröffentlichte Analysen diskutiert.
Heidenreich stellt u. a. heraus, dass Niedriglohntätigkeiten und atypische Beschäftigungsformen (und nicht nur Arbeitslosigkeit) maßgeblich die sozialen Ungleichheiten und Armutsrisiken in Europa bestimmen und sich bei bestimmten Gruppen konzentrieren: Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen und Geringqualifizierten in ausführenden Tätigkeiten (S. 310–311; S. 393–394). Die Kumulation dieser Risiken im Fall von überschneidenden Gruppenzugehörigkeiten wird in dem Buch allerdings nicht thematisiert. Während in ost- und mitteleuropäischen Ländern Armuts- und Benachteiligungsrisiken verdichtet sind, so herrschen dem Autor zufolge in den südeuropäischen Ländern Beschäftigungsrisiken vor (S. 305).
Heidenreich hebt gleichzeitig den Erfolg der nationalen und europäischen Aktivierungspolitiken für die Schaffung inklusiverer Arbeitsmärkte und den Beitrag flexibilisierter Beschäftigungsverhältnisse für egalitärere Verteilungen hervor (S. 124; 137; 239). „Die Ungleichheit zwischen Haushalten verringert sich in erheblichem Maße dadurch, dass Haushaltsmitglieder unterschiedliche und unterschiedlich gut bezahlte Beschäftigungsverhältnisse eingehen." (S. 235) Hier scheint sich die Katze in den Schwanz zu beißen: Haben Aktivierungspolitiken und die Flexibilisierung des Normalarbeitsverhältnisses nicht zu einer Verstärkung von Niedriglohntätigkeiten und atypischen Beschäftigungsverhältnisse beigetragen, die für die sozialen Ungleichheiten und Armutsrisiken verantwortlich sind? Analysen der nationalen und europäischen Sozialpolitiken lassen dies zumindest vermuten ([
Insgesamt gilt Heidenreichs Aufmerksamkeit vor allem den „Verlierer"-Strukturen und denjenigen, die ein Abrutschen auf die Verliererseite zur Bedrohung werden lassen. Über die Gewinner erfährt man in dem beeindruckend kleinteiligen und länderspezifisch gezeichneten Porträt europäischer Ungleichheiten wenig. Folgt man Heidenreich, entsteht durch die Ungleichheitsstrukturen lediglich ein Legitimationsproblem, weil die europäische Integration in wesentlicher Weise auf einem meritokratischen Prinzip aufbaut. Doch drängt sich die Frage auf, welche Gruppen in welchen EU-Mitgliedstaaten von den wirtschaftlichen Spaltungslinien in Europa profitieren ([
By Nikola Tietze
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