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Christian Schmitt, Labiles Gleichgewicht. Vermittlungen der Idylle im 19. Jahrhundert. Wehrhahn, Hannover 2022. 376 S., € 34,–.

Fischer, Clara
In: Arbitrium, Jg. 41 (2023-04-01), Heft 1, S. 67-70
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Christian Schmitt, Labiles Gleichgewicht. Vermittlungen der Idylle im 19. Jahrhundert. Wehrhahn, Hannover 2022. 376 S., € 34,– 

Christian Schmitt, Labiles Gleichgewicht. Vermittlungen der Idylle im 19. Jahrhundert. Wehrhahn, Hannover 2022. 376 S., € 34,–.

Das Interesse an der Idylle wächst. Davon geben ein unlängst erschienenes Handbuch Idylle oder das DFG-Netzwerk Politiken der Idylle, in dessen Kontext die kulturwissenschaftliche Studie Labiles Gleichgewicht entstanden ist, beredte Beispiele. Dass der Autor Christian Schmitt in beiden Projekten als Herausgeber und Mitglied vertreten ist, zeugt einerseits von seiner Versiertheit als Idyllenforscher, andererseits davon, dass die Idyllenforschung, trotz des in einigen Sammelbänden und Doktorarbeiten materialisierten Zulaufs der letzten Jahre, über eine nach wie vor überschaubare Anhängerschaft verfügt. Das mag unter anderem daran liegen, dass die Idylle nicht nur eine literarische Gattung, sondern auch ein Klischee ist. Das Klischee Idylle als das einer überzuckerten Glücksdarstellung, die so künstlich wie langweilig und damit irrelevant ist, setzt die Idyllenforschung seit ihren Anfängen unter Rechtfertigungsdruck. Viele Arbeiten beschäftigen sich daher nicht nur mit dem Gehalt vordergründig harmloser Szenerien, sondern hinterfragen auch das dargestellte Glück. Idyllen, so wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder betont, setzen sich mit den Schattenseiten des Daseins durchaus auseinander, enthalten Brüche, Irritationen oder ein Bewusstsein der problembehafteten Außenwelt, vor der die räumlich und zeitlich in sich geschlossene Idylle eine trügerische oder lediglich temporäre Zuflucht bietet.

Auch die These, die Schmitt seiner Studie zugrunde legt, lässt sich als Antwort auf einen virulenten Trivialitätsverdacht lesen. Die Idylle, so argumentiert Schmitt ausgehend von Goethes Kommentaren zu einem Bilderzyklus Wilhelm Tischbeins, ist im 19. Jahrhundert nicht einfach das ‚Schöne', ‚Gute', das im Kontrast zum ‚Hässlichen' oder ‚Schlechten' steht, sondern ein „Verfahren der Vermittlung, dessen Ergebnis spannungsvolle semantische Gleichgewichtszustände sind" (S. 36), mittels dessen Differenzen also allererst bewusst gemacht, in einen Ausgleich gebracht, aber nicht in Wohlgefallen aufgelöst werden. Die Idylle wird damit gleichsam zum bildgebenden Verfahren von „Ausdifferenzierungsprozesse[n] der Moderne" (S. 17) in literarischen, bildkünstlerischen oder populärwissenschaftlichen Werken.

Diese unter Rückgriff auf die Idyllenforschung der letzten Jahrzehnte hergeleitete These spezifiziert Schmitt im Kapitel „Labiles Gleichgewicht. Idylle als Verfahren der Vermittlung", in dem er mit einem weiten Gattungsbegriff arbeitet und die Idylle über ein Konzept von „Harmonie" definiert, die einerseits eine „performative Dimension" des Zusammenfügens von Gegensätzen, andererseits eine „Brüchigkeit des Ergebnisses" impliziert (S. 43). Diese „verfahrensorientierte Beschreibung" (S. 44) unterscheidet Schmitt dezidiert von Definitionen, die „formale, strukturelle, motivische und funktionale Aspekte" zur Bestimmung der Idylle anbieten und damit „statische Gattungskonzepte" pflegen (S. 45). Dass die Idylle schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert über Schwellensituationen gedacht wurde, weist der Autor, ausgehend von Rousseaus Konzeptualisierung von Natur- und Kulturzustand, in den heute wohl bekanntesten Idyllentheorien, Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/1796) und Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1813), sowie in Goethes Tischbein-Kommentaren (1822) und der Novelle (1828) nach.

Auf dieser theoretischen Fundierung aufbauend unterzieht Schmitt seine These in sieben Kapiteln einem ausgedehnten Praxistest. Dabei geht es ihm explizit darum, mithilfe seines Konzepts von Idylle als Vermittlungsverfahren einen wertungsfreien Blick auf verschiedene Künste und Genres zu werfen. Nicht die ästhetische Qualität einer Idylle interessiert, sondern die Reflexionsleistung, die sie im Kontext von zeitgenössischen Modernisierungserfahrungen erbringt. Entsprechend breit ist das Korpus aufgestellt: Schmitt berücksichtigt kanonisierte Autorinnen und Autoren ebenso wie solche, die heute vergessen und aus ästhetischer oder gattungshistorischer Sicht vermeintlich zweitrangig sind, untersucht die Idylle als „Kunstreflexion bei Eduard Mörike" (Kapitel III), in der Reiseliteratur des Vor- und Nachmärz (Kapitel IV) oder zeigt die Verbindung von Idyllik mit medizinischen und diätetischen Diskursen bei Adalbert Stifter auf (Kapitel VI). Idyllik wird als Verfahren einer spannungsvollen Vermittlung in Geschlechterdiskursen (Kapitel VII) ebenso behandelt wie in Bezug auf die sich mit der Industrialisierung neu ausrichtende (Markt-)Ökonomie, wofür Schmitt die kritischen Implikationen in Handwerkeridyllen Jeremias Gotthelfs und Gottfried Kellers herausarbeitet (Kapitel VIII). Die Idylle, so lässt sich nach Lektüre der Studie konstatieren, ist in der Literatur des 19. Jahrhunderts omnipräsent, weil das Befremden an Modernisierungserfahrungen in diesem Zeitraum omnipräsent ist und immer wieder drängende Fragen nach Möglichkeiten des Ausgleichs aufwirft. Wenig verwunderlich ist es daher, dass Schmitt die Idylle auch auf einer abstrakteren Ebene, der des textinhärenten Dialogs, der für die Gattung seit der Antike prägend ist, bei Ludwig Tieck, Stifter und Wilhelm Raabe mit Spannungen beladen findet (Kapitel IX).

Schmitts breiter Zugriff auf die Idyllik des 19. Jahrhunderts und seine Ausgangsthese führen in den stärksten Passagen der Studie zu so überzeugenden wie leichtfüßig anmutenden Verknüpfungen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse mit künstlerischen Darstellungsformen. Ein Beispiel dafür ist „Teichkunde. Idyllische Vermittlung in der populären Naturwissenschaft und bei Annette von Droste-Hülshoff". Dieses Kapitel leitet Schmitt mit der Beobachtung ein, dass in populären naturwissenschaftlichen Texten des 19. Jahrhunderts oftmals idyllische Momente zu finden sind, sei es in Form kleiner Gedichte, Illustrationen oder einer ‚Verkleinerung' der dargestellten Natur. Derlei Darstellungen gründen in der Idee einer „Einheit der Natur" (S. 152), eines „Kreislaufs des Lebens" (S. 170), in dessen ausgestellter Harmonie Schmitt eine Reaktion auf die mit Darwins Evolutionstheorie einhergehenden „irritierenden Erfahrungen einer dynamischen, kontingenten und konfliktbeladenen Natur" (S. 152) sieht. Dem Wissenszuwachs im 19. Jahrhundert, der die Natur unübersichtlicher und damit bedrohlicher erscheinen lässt, halten idyllisierende Darstellungsverfahren eine Ordnung entgegen, die Irritationsmomente wie den Kampf ums Überleben in einen spannungsvollen, letztlich aber ausgeglichenen Kreislauf integriert. Eine derartige durch Fragilität bestimmte Naturordnung findet Schmitt auch in Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht Der Weiher (1844). Das Motiv eines stehenden Kleingewässers bildet dabei einen Schnittpunkt von literarischer Idyllik und Naturwissenschaft, denn das „Konzept des begrenzten und ausgeglichenen Ökosystems ist in der begrenzten, auf Ausgleich bedachten Idylle vorweggenommen" (S. 187). Es ist eine Stärke dieses Kapitels, dass Schmitt die populären Darstellungen naturwissenschaftlicher Fortschritte in Bezug zur literarischen Idyllik setzt und damit Wechselwirkungen heterogener Wissensfelder veranschaulicht.

An anderen Stellen sorgt Schmitts sehr weit gefasster Idyllenbegriff allerdings seinerseits für Irritationen. Die Frage, was eine Idylle überhaupt ist, drängt sich unterschwellig immer wieder auf. Dass es sich hierbei im 19. Jahrhundert nicht mehr um eine feststehende literarische ‚Gattung' oder ‚Form' handelt, dass Idyllen sich „durch eine flexible formale Gestaltung aus[zeichnen]" und „Elemente der Gattung in andere Gattungen ein[wandern]" (S. 28) – in der Forschung haben sich daher auch die Kategorien ‚Idee' oder ‚Denkbild' (Renate Böschenstein) etabliert (vgl. ebd.) –, bemerkt Schmitt schon in der Einleitung und kündigt an, nicht nur „Idyllen im engeren Sinne" zu untersuchen, sondern „einen weiten Begriff von Idylle" zu gebrauchen (S. 35). Was genau aber eine Idylle im engeren oder weiteren Sinne ist, bleibt unklar, und Schmitt behandelt Idyllen auch im Verlauf der Studie immer wieder unter Rückgriff auf die unspezifizierten und eigentlich als überholt vorgestellten ‚Gattungs'- und ‚Form'-Begriffe.

Darüber hinaus greift der Autor – zusätzlich zu seiner eigenen Definition vom ‚Vermittlungsverfahren' – oftmals auch auf ein Verständnis von Idylle zurück, das sich aus einem klassischen Motivrepertoire zu generieren scheint. Das ist beispielsweise im Kapitel zur Reiseliteratur der Fall, in dem die Konfrontation von „idyllische[n] ‚Wunschbilder[n]' im touristischen Diskurs" (S. 114) mit der Realität von Reisenden thematisiert wird. In diesem Kapitel wird ‚Idylle' nicht als Vermittlungsverfahren verstanden, sondern ihrerseits als ein Extrem innerhalb des Spannungsverhältnisses von Wunschdenken und Realität. Auch im Kapitel zur „Ökonomische[n] Idyllik" verwendet Schmitt, wenn er eine „Idyllisierung des Handwerks" (S. 271, S. 274) in Erzähltexten des 19. Jahrhunderts konstatiert, den Idyllen- als Verklärungs- und Beschönigungsbegriff. Daran schließt Schmitt starke Lesarten von Texten Gottfried Kellers an, in denen aber die Entlarvungen falscher Idyllen eine ganz eigene Qualität jenseits von Vermittlungsprozessen erhalten. Keller nimmt das „Ausgleichs-Narrativ in den kritischen Blick" (S. 287), indem er idyllische Motive und Erzählverfahren einführt, um sie ihres schönen Scheins zu berauben. Das ist hochinteressant zu lesen, gerät aber mit der Kernthese des Buches in Konflikt. Wenn sich bei Keller die „Handwerkeridylle als ironische Scheinlösung" (S. 289) entpuppt, so wird kein labiles Gleichgewicht hergestellt, sondern ein beschönigendes Narrativ unterwandert. Der Ausgleich gelingt eben nicht immer, das Gleichgewicht kann kippen, und was Schmitt als „Vermittlung" vorstellt, ließe sich an einigen Stellen der Studie vielleicht besser als „Konfrontation" bezeichnen. Schmitts Untersuchungen gehen damit in ihren Ergebnissen über seine eigene These hinaus. Mitunter wäre es vermutlich gar nicht nötig gewesen, den Texten ein ‚labiles Gleichgewicht' zu attestieren, das als Befund nicht immer überzeugt. Auch die Abwesenheit dieses Gleichgewichts, das Scheitern der Ausgleichsbemühungen, hatte in der Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts offensichtlich ihren Platz.

Gerade dort, wo Schmitt zum Widerspruch reizt oder den Wunsch nach weiteren Spezifizierungen erweckt, zeigt sich allerdings der Wert seiner Untersuchungen. Dieser anregenden und angenehm zu lesenden Studie ist nicht nur die Erschließung eines breiten Forschungskorpus zu verdanken, sondern auch, dass mit der Idylle als ‚labilem Gleichgewicht' ein äußerst produktives Denkmuster vorgestellt wird, mit dem, egal ob das Gleichgewicht gelingt, erhalten bleibt oder (wie man Schmitt hinzufügen möchte) kippt, immer spezifische Aussagen über einen angestrebten Idealzustand und damit auch über gesellschaftliche Konfliktfelder verbunden sind. Die Idyllenforschung könnte sich von Schmitt nicht zuletzt dazu inspirieren lassen, auch die altbekannte Dichotomie von Idylle und Anti-Idylle – deren Präsenz an vielen Stellen der Studie durchschimmert – ihrerseits durch die Untersuchung ‚labiler Gleichgewichte' zu ersetzen.

Footnotes 1 Jan Gerstner / Jakob C. Heller / Christian Schmitt (Hgg.), Handbuch Idylle. Verfahren – Traditionen – Theorien. Heidelberg 2022; Adresse des DFG-Netzwerks: https://blogs.uni-bremen.de/idyllen/, aufgerufen am 23.02.2022. 2 An dieser Stelle sei auf die Publikationsliste des DFG-Netzwerks Politiken der Idylle verwiesen: https://blogs.uni-bremen.de/idyllen/publikationen/, aufgerufen am 23.02.2022.

By Clara Fischer

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Titel:
Christian Schmitt, Labiles Gleichgewicht. Vermittlungen der Idylle im 19. Jahrhundert. Wehrhahn, Hannover 2022. 376 S., € 34,–.
Autor/in / Beteiligte Person: Fischer, Clara
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 41 (2023-04-01), Heft 1, S. 67-70
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2023-0010
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Herderstraße 26, D-12163 Berlin, Germany
  • Full Text Word Count: 1532

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