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Sibylla Schwarz (1621–1638), Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Bd. 1: Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung. Bd. 2: Heroische Stücke, Erzählende Dichtung, Drama, Paratexte und Dokumente, Anhang mit Nachwort und Registern. Hg. von Michael Gratz. Reinecke & Voß, Leipzig 2021–2022. 189, 274 S., € 21,–, 24,–

Jaumann, Herbert
In: Arbitrium, Jg. 41 (2023-04-01), Heft 1, S. 37-43
Online review

Sibylla Schwarz (1621–1638), Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Bd. 1: Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung. Bd. 2: Heroische Stücke, Erzählende Dichtung, Drama, Paratexte und Dokumente, Anhang mit Nachwort und Registern. Hg. von Michael Gratz. Reinecke & Voß, Leipzig 2021–2022. 189, 274 S., € 21,–, 24,– 

Sibylla Schwarz (1621–1638), Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Bd. 1: Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung. Bd. 2: Heroische Stücke, Erzählende Dichtung, Drama, Paratexte und Dokumente, Anhang mit Nachwort und Registern. Hg. von Michael Gratz. Reinecke & Voß, Leipzig 2021–2022. 189, 274 S., € 21,–; 24,–.

Das Erscheinen der ersten Gesamtausgabe der Werke eines deutschen Autors oder gar einer Autorin aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges ist kein geringes Ereignis, zumal wenn es sich um eine ‚Kritische Ausgabe' mit wissenschaftlichem Anspruch handelt. Anzuzeigen ist die Edition aller überlieferten Texte der Dichterin Sibylla Schwarz, die am 24. Februar 1621 in Greifswald geboren wurde und dort am 10. August 1638 im Alter von 17 Jahren gestorben ist. Anlass zu der Ausgabe des Greifswalder Germanisten Michael Gratz war der 400. Geburtstag der Dichterin im Februar 2021, und aus diesem Anlass sind auch zwei weitere neue Ausgaben erschienen: von Gudrun Weiland herausgegebene Ausgewählte Werke im Zürcher Secession Verlag sowie ein diplomatischer Nachdruck, das heißt eine vollständige Wiedergabe der ersten Ausgabe von 1650 im Neusatz: Deutsche poetische Gedichte, herausgegeben mit einem vorzüglichen, gegenüber den ins Kraut schießenden anachronistischen Interpretationen höchst notwendigen Nachwort (jedoch ohne Kommentar zu den Texten) von dem ebenfalls in Greifswald lehrenden Literaturwissenschaftler Klaus Birnstiel im Wehrhahn Verlag, Hannover. Beide Ausgaben sind jedoch nicht Gegenstand dieser Rezension.

Sibylla Schwarz wurde als jüngstes von sechs Kindern in eine Patrizierfamilie der Hansestadt geboren, der Vater ist Pommerscher Landrat und einige Jahre Bürgermeister der Stadt, die Beziehungen zur Kirche wie zur Universität sind eng. 1627 wird Greifswald von der kaiserlichen Armee Wallensteins besetzt, etwa ein Jahrzehnt später von den schwedischen Truppen Gustav Adolfs; 1630 stirbt die Mutter im Alter von 48 Jahren, und wenig später dürfte Sibylla mit dem Schreiben von Gedichten begonnen haben. Auch was den Zugang zu Bildungseinrichtungen und die Vermittlung kulturellen Wissens angeht, gibt es, wie auch über andere Bereiche ihrer Biographie, nur mehr oder weniger begründete Vermutungen: Privatunterweisungen aus verschiedenen Quellen, über Familie, Verwandte und Geschwister Kontakte zu Studenten und Professoren und Ähnliches. Zumal über Anregungen aus dem Umfeld und über die Personen, die ihr die staunenswerte Fülle ihrer literarischen Kenntnisse vermittelt und sie mit der Praxis des Schreibens vertraut gemacht haben könnten, bis hin zur Aneignung der opitzianischen Dichtungsreform und Übersetzungen aus dem Niederländischen (Gedichte von Jacob Cats und Daniel Heinsius), fehlt es an gesichertem Wissen – „wenige Fakten und viel Fiktion. Die Fakten stammen überwiegend aus der Leichenpredigt von Hagen" (Bd. 2, S. 182). Zu dem Wenigen, das wir wissen, zählt hier der Unterricht durch einen auch namentlich bekannten Hauslehrer: Samuel Gerlach (1609–1683), ein lutherischer Prediger, ehemaliger Feldgeistlicher im schwedischen Heer und selbst gelehrter Schriftsteller aus dem schwäbischen Göppingen, der, auf der Suche nach einer Pfarrstelle im Norden, im April oder Mai und vielleicht den folgenden Sommermonaten des Jahres 1636 im Haus des Bürgermeisters tätig ist, also gerade zwei Jahre vor dem plötzlichen Tod der „Pommerschen Sappho" durch eine Ruhr-Infektion (Dysenterie).

Die Bedeutung jenes Samuel Gerlach ist nicht zuletzt dadurch außerordentlich, weil er es war, dem die Rettung des Werkes seiner ehemaligen Schülerin eigentlich zu verdanken ist. Die Texte der Sibylla Schwarz sind ausschließlich durch die 12 Jahre nach ihrem Tod gedruckte Ausgabe überliefert, die Gerlach, inzwischen Pastor der Gemeinde Osterwyk bei Danzig, organisiert und herausgegeben hat, nachdem er in den Jahren nach 1636 noch weiter in brieflichem Kontakt mit Sibylla geblieben war. Die Deutschen Poëtischen Gedichte sind, in zwei Bände aufgeteilt, im Abstand von wenigen Monaten des Jahres 1650 in Danzig erschienen. Es existiert nur dieser Druck von 1650, von dem Exemplare in mehreren Bibliotheken zugänglich sind (darunter UB Greifswald, HAB Wolfenbüttel, SB München, SB Berlin, und davon Digitalisate). Nur zwei Gedichte, Ein Geistliches BußLied und Ein Christliches Sterblied, waren schon zuvor im Druck erschienen: 1638, innerhalb der Greifswalder Leichenpredigt von Christoph Hagen (vgl. Anm. 5); hinzu kommt Ein Lied gegen Jhren Seel. Abschied, das 1701/1718 in der Altdorffischen Liedertafel abgedruckt wurde, einem evangelischen Gesangbuch aus der damaligen Universitätsstadt Altdorf nahe Nürnberg. Es sind demnach keine Originalhandschriften überliefert, und über den Umgang mit den typografischen Eigenschaften des Druckes von Gerlach hinaus stellt sich so bei einer Kritischen Ausgabe dieser Texte keine der für die Editionsphilologie so zentralen Fragen wie die nach Varianten, Lesarten, deren Datierung und so weiter. Von der Handschrift der Dichterin ist überhaupt nur ein einziges Autograph erhalten: der undatierte Eintrag von eigener Hand in das in der UB Tübingen verwahrte Stammbuch von Samuel Gerlach, bestehend aus einem zweizeiligen Zitat in niederländischer Sprache aus einem Gedicht von Jacob Cats sowie der Unterschrift „Zu Ehrenfl.[eißigem] angedencken / schrieb dieses / S.S."

Michael Gratz musste sich für seine kritische Ausgabe ebenfalls auf den von Gerlach gesicherten Textbestand beschränken. Er tut dies auf eine bemerkenswert eigenständige Weise und meist aufgrund wohlbegründeter Entscheidungen, bei denen auch einige ‚kreative' Züge nicht zu übersehen sind, und die tatkräftige Unterstützung des Leipziger Verlegers Bertram Reinecke ist dabei auch im Detail erkennbar (vgl. Bd. 2, S. 267). Zu den leitenden Absichten gehört von Beginn an, eine Ausgabe vorzulegen, die wissenschaftlichen Anforderungen genügt und die Texte zugleich lesbar macht, besser, als dies die übrigen modernen Ausgaben leisten, die entweder den Druck von 1650 reproduzieren, als Faksimile oder im Neusatz, oder eine Textauswahl in modernisierter Schreibung bieten. Im ersten Fall wird der Leser mit den beträchtlichen Verständnisproblemen gegenüber den historischen Texten allein gelassen, im anderen Fall besteht die Gefahr, dass die historischen Differenzen einfach übersprungen werden, was dann zu den bekannten „identifikatorischen", also anachronistischen Lesarten über die Jahrhunderte hinweg führen kann. Freilich wird diese Steigerung der historisch belehrten Lesbarkeit gewiss nicht durch joviale Ratschläge von der Art gefördert, wie sie der Herausgeber gleich im Eingang seines Vorworts dem Leser erteilt: „Lies was und wie du willst. Ignoriere die vielen Fußnoten, die nötig sind, weil dieses Buch gleichzeitig Leseausgabe und für wissenschaftliche Zwecke geeignete kritische Ausgabe ist" (Bd. 1, S. 11). Am wichtigsten ist hier vielmehr, dass Gratz sich aus guten Gründen dafür entschieden hat, die Anordnung der Texte gegenüber der weitgehend ungeordneten Ausgabe Gerlachs zu ändern. Die beiden Bände der neuen Ausgabe enthalten „das gesamte überlieferte Werk" (Bd. 1, S. 12), in den Fußnoten kommentiert und im Anhang zum zweiten Band mit allen zusätzlichen Paratexten (Titeleien, Vorreden, Widmungs- und Ehrengedichten) und weiteren Dokumenten zur Frührezeption im 17. Jahrhundert (Morhof). Allen lateinischen Texten sind neue Übersetzungen beigegeben, als Übersetzer werden die Greifswalder Klassischen Philologen Immanuel Musäus und Dirk Uwe Hansen genannt. Das poetische Œuvre jedoch ist nach Gattungen geordnet, das heißt gemäß den eingehend beschriebenen poesiologischen Prinzipien (nicht „poetologischen"; Bd. 1, S. 12 u. ö.) des seit Martin Opitz in der Umgestaltung begriffenen Gattungsgefüges im frühen 17. Jahrhundert. Die Begründung im Sinne einer „pragmatischen Lösung" der Ordnungsfrage findet sich ausführlich im Nachwort (Bd. 2, S. 192ff.).

So enthält Band 1 nach der Vorrede Gerlachs und drei an ihn gerichteten Briefen – die einzigen erhaltenen Briefe von Sibylla Schwarz – Texte in Versen, deren verschiedene Formen man heute unter ‚Lyrik' im weiteren Sinn zu fassen pflegt: Sonette; lyrische Stücke; Kirchenlieder; (eine) Ode; Epigramme, Spruchhaftes, Kurzgedichte; Fretowdichtung. Gratz zufolge habe man im frühen 17. Jahrhundert jedoch zu unterscheiden zwischen „lyrischen" Texten oder Einzelgattungen, die strophisch, sangbar und in kurzem Versmaß gehalten sind, und „heroischen", meist in Alexandrinerversen und dem Lied und Gesang fernstehend.

Band 2 umfasst, nach Gerlachs Vorrede, „heroische Stücke" in Versen, die Prosaerzählung Faunus und das Versdrama Susanna. Der umfangreiche Anhang enthält neben allen Paratexten und den Kupferstichen von Jacob Sandrart mit zwei Schwarz-Porträts die ausführlichen Erläuterungen des Herausgebers zu Grundbegriffen und Details des Gattungssystems, das für die literarische Produktion der Dichterin maßgebend war, und überdies findet man zu jedem der Gedichte in einer Fußnote die Basisinformationen über Gattung, Versart und Reimschema zusammengestellt. Überhaupt ist die historische Verslehre eines der Themen, man könnte auch sagen ‚Steckenpferde', über das der Lyrikkenner Gratz sich in den Kommentaren und besonders im Nachwort am breitesten auslässt. Nachteilig scheint mir nur die Beschränkung auf meist allzu formale, bloß quantifizierende Beschreibungen.

Ich beziehe mich in dieser Besprechung stets auf die beiden Bände der 2021/2022 erschienenen Paperback-Ausgabe. Die kritische Edition erscheint jedoch in zwei verschiedenen Ausgaben, neben dem Taschenbuch auch in einer ebenfalls zweibändigen Hardcover-Ausgabe in größerem Oktav, mit festem Einband also in grellroter Farbe und etwas größerem Druck, insgesamt ein beträchtlicher Aufwand vor allem für den Verlag, der natürlich ebenfalls mit der beabsichtigten Leserfreundlichkeit dieser kritischen Ausgabe zu tun hat. Band 1 der Hardcover-Ausgabe ist 2022 erschienen, das Erscheinen von Band 2 steht zur Stunde noch aus. Neben Unterschieden unter anderem in der Platzierung der Seitenzahlen ist im Hardcover die jeweils linke Seite mit der geraden Seitenzahl für die Sacherläuterungen und Kommentare freigehalten, die im Taschenbuch in den Fußnoten unter der Seite stehen – was zum Beispiel bedeutet: Wenn rechts keine Anmerkung vorkommt, bleibt die ganze linke Seite leer. Aus diesem Grund und weil beide Ausgaben textidentisch sind, differieren die Umfänge und damit die Seitenzahlen beim Zitieren ein und derselben Textstelle beträchtlich (in Band 1 beträgt die Differenz 80 Seiten), ein Umstand, der wiederum der Leserfreundlichkeit deutlich im Wege steht.

Begrüßenswert und eine der vielen vernünftigen Entscheidungen des Herausgebers ist es, dass die zahlreichen, oft sinnentstellenden Satz- und Druckfehler in Gerlachs Ausgabe korrigiert wurden, in erster Linie die nicht weniger als 215 Fehler, die Gerlach selbst nicht mehr verbessern konnte, jedoch in einem Verzeichnis dem zweiten Band beifügte, sowie auch weitere, von Gerlach nicht erfasste Fehler, deren Korrekturen dann jeweils in den Fußnoten nachgewiesen werden. Gerlachs Druckfehlerverzeichnis wird im Anhang der neuen Ausgabe wiedergegeben, und dass Gratz die bei Gerlach im Fließtext gedruckten Berichtigungen, in denen man sich nur schwer zurechtfindet, untereinander auflistet, ist ein kleines Beispiel für die zahlreichen, überaus leserfreundlichen Vorkehrungen in dieser Edition. Diese, so Gratz, „ist eine kritische Werkausgabe, nicht ein (diplomatischer) Nachdruck der Originalausgabe. Der Text der Originalausgabe von 1650 wird in allen Teilen buchstaben- und satzzeichengetreu wiedergegeben, aber nicht (leer)zeichengetreu und nicht unkritisch. Es geht uns darum, das WERK der Sibylla Schwarz der Forschung und interessierten Leserschaft zur Verfügung zu stellen" (Bd. 2, S. 186).

Erläuterungen und Kommentare sind ein wesentlicher Bestandteil einer Ausgabe mit wissenschaftlichem Anspruch, und dies umso mehr, wenn die Lesbarkeit der Werke für ein breiteres Publikum beabsichtigt ist. Direkt auf einzelne poetische Texte bezogene Erläuterungen findet man in den betreffenden Fußnoten, von denen häufig auf das „Verzeichnis der Wort- und Sacherläuterungen (mit Namens- und Ortsregister)" im Anhang zu Band 1 (Bd. 1, S. 173–185) verwiesen wird, das sich zwar auf beide Bände bezieht, jedoch nur auf die numerierten poetischen Texte. Die im Anhang zu Band 2 enthaltenen Texte sind ebenfalls kommentiert, jedoch nicht in Fußnoten, sondern direkt im Anschluss an die jeweiligen Texte, also an verschiedenen Stellen auf den betreffenden Seiten. Die Erläuterungen und Kommentare sind stets knapp und von unterschiedlicher Qualität, gelegentlich vermisst man eine Erläuterung, manches ist dürftig oder auch unnötig, dazwischen aber findet sich durchaus Gelungenes (etwa zum „Lorbe(e)r": Bd. 1, S. 181). Unter den vielen äußerst akkurat gearbeiteten Verzeichnissen im Anhang, darunter auch eine ausgezeichnete „Chronik zu Leben und Werk", befindet sich zwar ein gutes Personenregister für beide Bände, vermisst wird aber ein Gesamtregister der Sachen und Begriffe.

Dass ein solches Register fehlt, erweist sich besonders gegenüber dem ausführlichen und sehr reichhaltigen Nachwort (Bd. 2, S. 178–229), das den zweiten Band und die Edition abschließt, als ein empfindlicher Mangel. Die fünf Kapitel (1 „Fakten und Vermutungen"; 2 „Werkausgabe oder Nachdruck"; 3 „Auswahl, Anordnung, Gattungspoetik"; 4 „Beobachtungen"; 5 „Coda. Netzwerke") sind zwar in Unterabschnitte mit Überschriften zu den behandelten Themen unterteilt. Doch zumal in Kapitel 4 und 5 hat man keine Chance, gezielt nach einzelnen Themen oder Antworten auf bestimmte Fragen zu suchen: Man muss in jedem Fall den ganzen Text lesen und darauf hoffen, auf die gesuchten Informationen zu stoßen. Diese mangelnde Erschließbarkeit (manche nennen das heute Probleme beim ‚Navigieren') ist ein Nachteil, der dem Nachwort gegenüber besonders deutlich ist, aber in unterschiedlichem Grade die ganze Ausgabe betrifft. Das ist bedauerlich, wenn man liest, welche Fülle an Informationen Gratz zusammengetragen hat, auch solche, die anderswo nicht zu haben sind, etwa zum Wortschatz der Schwarz (Bd. 2, S. 161ff.), zur Ausgabe von Gerlach (Bd. 2, S. 186ff., und das ganze vierte Kapitel handelt davon: Bd. 2, S. 203–217) sowie zu diesem selbst und seinen biographischen Kontexten (u. a. Bd. 2, S. 222ff.) oder zur kulturellen Blütezeit des Verlagsorts Danzig in den 1640er Jahren und um 1650 (Bd. 2, S. 221–225). Jedoch scheint mir in diesem Zusammenhang die kurze Einblendung Greflingers und die Parallelisierung seines Lobgedichts auf Danzig (Das blühende Danzig) mit einer Stelle in der Fretowdichtung von Schwarz allzu spekulativ, wenn damit die Begründung der Annahme irgendeiner Art von „Beziehung" zwischen beiden Texten oder gar ihren Autoren gemeint sein soll. Zu behaupten, dass damit „unversehens ein Blitz zu Schwarz zückt" (Bd. 2, S. 223), besagt nun wirklich nichts für eine Verbindung ausgerechnet dieser Beiden, und dies gar in einem „Netzwerk", mit einem in seiner technoiden Abstraktheit ganz unbrauchbaren modischen Begriff, der im übrigen auch kein tauglicher Ersatz ist für den schon immer unbrauchbaren, weil unkonkreten ‚Einfluss'.

Schließlich hat der Herausgeber im Nachwort seine deutliche Distanz zu allerlei biographisch angeleiteten Mythen und anachronistischen Spekulationen formuliert, die auch in der neueren Forschung grassieren: „Nein, wir haben ‚das Leben' der Dichterin nicht, wir haben nur ein Werk, das man lesen und über das man auch ohne Spekulationen ausreichend streiten kann" (Bd. 2, S. 183). Auf derselben Seite jedoch, unmittelbar vor dieser dezidierten Feststellung, hat man diesen Satz gelesen: „Auffallend, wie noch in Rezensionen im Jubiläumsjahr 2021 auf jegliche Andeutung feministischer oder gar homoerotischer Züge [in Schwarz' Werken] mit Abwehr reagiert wird." Davon abgesehen, dass von solcher Abwehr in Rezensionen (leider) kaum die Rede sein kann: Werden damit nicht im gleichen Atemzug Spekulationen unterstützt, von denen in den folgenden Zeilen entschieden abgeraten wird? Und hat man damit nicht in nuce etwas von der Widersprüchlichkeit vor Augen, auf die man bei der Benutzung dieser Ausgabe immer wieder stößt, die aber, das sollte deutlich geworden sein, gegen deren bedeutende Leistungen, zumal auf längere Sicht, in den Hintergrund treten werden? Fazit: „Es geht auch anders, doch so geht es auch" (Dreigroschenoper, II. Akt).

Footnotes 1 Die Daten hier immer nach dem gregorianischen Kalender („Neuer Stil"), der vor 1700 in den meisten protestantischen Ländern, so auch in Pommern, noch nicht eingeführt war. Für die Daten nach dem alten, dem julianischen Kalender muss man jeweils 10 Tage zurückrechnen; das wären hier der 14. Februar 1621 als Tag der Geburt und der 31. Juli 1638 als Todestag. 2 Sibylla Schwarz, „Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden". Ausgewählte Werke. Hg. von Gudrun Weiland. (Femmes de lettres 5) Zürich 2021: Leseausgabe in modernisiertem Satz, mit Literaturhinweisen, Glossar, Sacherläuterungen und Nachwort (feministische Autorin, „weiblicher Petrarkismus"). – An älteren Auswahlausgaben vgl. Sibylla Schwarz, Das schnöde Tun der Welt. Gedichte aus der Barockzeit. Hg. von Horst Langer. Mesekenhagen 2009: mit Illustrationen, Nachwort und Glossar mythologischer Namen, und Gesang wider den Neid. Sibylla Schwarz – Barockdichtung aus Greifswald. Hg. von Horst Langer. Greifswald 2013, 2 2021. 3 Sibylla Schwarz, Deutsche poetische Gedichte. Hg. von Klaus Birnstiel unter Mitarbeit von Jelena Engler. Hannover 2021. 4 Ziefle spricht von „dürftigen Ergebnissen des zweijährigen Volksschulkurses, den Sibylle wie alle jungen pommerischen Mädchen täglich für vier Stunden besuchen mußte", gemeint ist der in den protestantischen Hauptkirchen der Stadt erteilte Elementarunterricht. Vgl. Sibylle Schwarz, Deutsche Poëtische Gedichte. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1650. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut W. Ziefle. (Mittlere deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 25) Bern – Frankfurt/M. – Las Vegas 1980, S. 11*. 5 Christoph Hagen, Himmlische HochzeitPredigt [...]. Greifswald 1638. Hagen, Pfarrer in einem Dorf bei Greifswald, hielt die Leichenpredigt am 13. August 1638. 6 Zu Gerlach neben Gratz und Birnstiel (Anm. 3) vor allem der ausgezeichnete Beitrag von Udo Roth, „‚Männiglichen zur Erlustigung und erlaubeter Ergetzlichkeit'. Samuel Gerlachs Eutrapeliae im Spannungsfeld von Unterhaltung und Belehrung". In: Flemming Schock (Hg.), Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Berlin – Boston 2012, S. 106–131, hier S. 109 f. und S. 127 ff. zu Gerlachs Schwarz-Edition; ferner, mit Dokumenten der Lebensstationen, Abschriften der autobiographischen Aufzeichnungen Gerlachs sowie der Einträge in sein Stammbuch Samuel Gerlach. Feldprediger, Hofprediger, Prälat (1609–1683). Ein schwäbischer Pfarrer zwischen Mecklenburg, Holstein, Danzig und Württemberg. Bearbeitet von Bernd Autenrieth. (Lebendige Vergangenheit. Zeugnisse und Dokumente. Schriftenreihe des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins 21) Stuttgart 2000. 7 Sibyllen Schwarzin/ Vohn Greiffswald aus Pommern/ Deutsche Poëtische Gedichte/ Nuhn zum ersten mahl/ auß ihren eignen Handschrifften/ herauß gegeben und verleget Durch M. Samuel Gerlach/ auß dem Hertzogthum Würtemberg. und in Dantzig Gedruckt/ bey seel. Georg Rheten Witwen/ im M.DC. L. Jahr. – Der zweite Band („Ander Teil") ist mit gleichem Titel im gleichen Jahr 1650 erschienen. Vgl. die Faksimile-Ausgabe beider Teile bei Ziefle (Anm. 4). 8 In der Abschrift des Stammbuches bei Autenrieth (Anm. 6), S. 77 (Nr. 67), dort vom Herausgeber auf „1636 April" datiert. Eine Abbildung des Stammbuchblattes in der Ausgabe von Gratz (Bd. 2, S. 158f.) und zuerst bei Monika Schneikart, „Grenzüberschreitungen in Pommern. Die ‚wilde' Dichtung der Sibylla Schwarz (1621–1638) im Verhältnis zur zeitgenössischen respublica litteraria". In: Monika Unzeitig (Hg.), Grenzen überschreiten – transitorische Identitäten. Beiträge zu Phänomenen räumlicher, kultureller und ästhetischer Grenzüberschreitung in Texten vom Mittelalter bis zur Moderne. Bremen 2011, S. 105–122. 9 Vgl. die aufklärende Intervention von Wilfried Barner, „Poetologie? Ein Zwischenruf". In: Scientia Poetica 9 (2005), S. 389–399. Sie hat seither gegen die Mauer der Gewohnheit wenig ausgerichtet. Zu Danzig in jenen Jahren und zum Aufenthalt Greflingers nach ca. 1640 vgl. die eingehende Studie von Astrid Dröse, Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert. (Frühe Neuzeit 191) Berlin – München – Boston 2015, bes. S. 50–90.

By Herbert Jaumann

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Titel:
Sibylla Schwarz (1621–1638), Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe. Bd. 1: Sonette, Lyrische Stücke, Kirchenlieder, Ode, Epigramme und Kurzgedichte, Fretowdichtung. Bd. 2: Heroische Stücke, Erzählende Dichtung, Drama, Paratexte und Dokumente, Anhang mit Nachwort und Registern. Hg. von Michael Gratz. Reinecke & Voß, Leipzig 2021–2022. 189, 274 S., € 21,–, 24,–
Autor/in / Beteiligte Person: Jaumann, Herbert
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 41 (2023-04-01), Heft 1, S. 37-43
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2023-0013
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Am Sonnenschein 1a, D-92431 Neunburg v.W., Germany
  • Full Text Word Count: 2975

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