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Julika Griem, Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung. (Wie wir lesen. Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik 3) transcript, Bielefeld 2021. 126 S., € 12,99.

Kuhn, Axel
In: Arbitrium, Jg. 41 (2023-04-01), Heft 1, S. 116-119
Online review

Julika Griem, Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung. (Wie wir lesen. Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik 3) transcript, Bielefeld 2021. 126 S., € 12,99 

Julika Griem, Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung. (Wie wir lesen. Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik 3) transcript, Bielefeld 2021. 126 S., € 12,99.

Bildungsinitiativen begreifen Lesen in der Regel als kognitive Problemlösung zur Aneignung von in Alltag, Ausbildung oder Beruf notwendigen Informationen. Das Lesen wird als kognitiver Prozess über wenige Variablen, hochgradig standardisierte Datenerhebungen zur Alphabetisierung und länderübergreifende Vergleichsstudien der Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen (PISA, IGLU, PIRLS) vermessen. Diese Vereinfachungen auf eine universelle Kompetenz hat im digitalen Zeitalter jedoch immer wieder Kritik hervorgerufen: So stellte Heinz Bonfadelli fest, dass ganzheitliche Betrachtungen des Lesens und differenzierende Beschreibungen unterschiedlichen Leseverhaltens nur wenig fundiert vollzogen wurden. Anne Mangen und Adriaan van der Weel kritisierten die fehlende Einbindung des Lesens in konkrete Situationen des Alltags und Axel Kuhn und Svenja Hagenhoff forderten dringend notwendige Differenzierungen des Lesens und der Lesekultur.

In diese Kritik reiht sich die Reihe Wie wir lesen. Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik ein, in der „anhand unterschiedlicher Positionen aus den Sozial-, Geistes- und Kunstwissenschaften nach[ge]spür[t]" werden soll, wie die Kulturtechnik Lesen Menschen in ihrem Verhältnis zu sich selbst und ihrer Umgebung verändert (Klappentext). Gleichzeitig soll die Reihe Widerstand gegen die kulturpessimistischen Stimmen leisten, welche das Ende der Lesekultur prognostizieren. Mit Szenen des Lesens von Julika Griem, Professorin für anglistische Literaturwissenschaft, ist Ende 2021 der dritte Band der Reihe als ästhetisch ansprechend gestaltete Klappenbroschur erschienen.

In ihrem Essay knüpft Julika Griem in subtil kritischer Weise an die in der Literaturgeschichte etablierten Konzepte der Lese- und Schreibszene an, wendet sich aber gegen deren implizite und idealisierte Interpretationen. Stattdessen nähert sie sich der sozialen Praxis des Lesens aus einem soziologischen Blickwinkel über Leseszenen des gegenwärtigen Alltags, die sich von den Wunschvorstellungen und Normen unterscheiden, mit denen sie oft thematisiert und problematisiert werden (S. 7). Damit schlägt sie den Bogen zu einer praxeologischen Leseforschung, die in der Gegenwart immer stärker an Bedeutung gewinnt. Wenig überraschend bedient sie sich dabei bei dem Vokabular von Andreas Reckwitz, der, wie viele andere praxistheoretisch arbeitenden Autor*innen, Lesen als typisches Beispiel sozialer Praktiken nennt, ohne dies jedoch in der Tiefe zu diskutieren oder empirisch zu untersuchen.

Bereits zu Beginn leitet Griem anhand des Aufeinanderprallens des traditionellen Literaturmarkts und des Silicon Valley anschaulich ab, dass es mikrosoziologische Beschreibungen scheinbar marginaler Situationen ermöglichen, Motive, Hoffnungen, Entscheidungen und Folgen des Wandels des Lesens zu erörtern. Im Folgenden hinterfragt sie daher explorativ routinierte Lesepraktiken und berücksichtigt, ganz im Tenor der Praxistheorie, Orte, Dinge und Bedingungen des Lesens. Als relevante Szenen des Lesens bestimmt sie, in der Verquickung von Praxistheorie und Framing theoretisch durchaus gewagt, situierte Praktiken und deren Darstellungen, verstanden als bestimmte materielle und symbolische Arrangements des Lesens im Alltag.

Anhand eigener Beobachtungen und prominenter Beispiele aus dem literarischen Feld, dem Buchmarkt und der Kulturbranche fächert Griem als erste Szene des Lesens auf, wie Lesen in Ratgebern und ikonographischen Traditionen affektiv wirkmächtig inszeniert wird, welche historisch begründeten normativen Überschüsse sich dort finden und welche Rolle populärwissenschaftliche Argumente hierbei spielen („III. Lesen zeigen"). Sie folgert, dass Lesen besonders in visuellen Inszenierungen des Digitalen zum affektiven Verarbeitungsmechanismus der Veränderungen von Lebenswelten und Identitäten sowie zum Gegenstand zunehmender Ökonomisierung und der Emanzipierung von bürgerlichen Lebensvorstellungen wird. Dabei wird es in einer angepassten Form „durch eine klassische Werkästhetik in kanonischen Resonanzräumen beworben" (S. 52).

Eine zweite Szene des Lesens findet Griem in Kollektivierungen des Lesens, einerseits im gemeinsamen Leseerleben bei Lesungen und literarischen Events, andererseits in Form eines zunehmend ‚delegierten' Lesens („IV. Lesen lassen"). Dies deutet sie im Falle des gemeinsamen Lesegenusses als Aufwertung von Ästhetik und Affekt des Lesens, im Fall der Aufteilung des Lesens als zunehmendes Streben nach Effizienz von Wissenseliten. Dabei verweisen die verschiedenen Angebote zur Textkomprimierung und Lesebeschleunigung zwar vordergründig auf mehr Wissen pro Zeit, sind jedoch nach Griem nichts anderes als imaginäre Konstruktionen einer nicht mehr vorhandenen Komplexität des vermittelten Wissens (S. 67).

Als dritte Szene des Lesens diskutiert Griem die narrative Funktionalisierung des Lesens („V. Lesen erzählen"). Narrative des Lesens beschreibt sie beispielsweise als „erzählte[] Entdeckungsreise[n]" (S. 80) im kosmopolitischen Kontext, wenn literarische Schauplätze touristisch vermarktet werden. Charakteristisch für die Gegenwart sind laut Griem auch die zunehmende Mehrfachadressierung von (All Age-)Literatur an verschiedene Alters- und Zielgruppen durch unterschiedliche Ansprachen in Materialität, Format oder Gestaltung sowie die Positionierung des Lesens in Bildungserzählungen, welche zur Konstruktion von Leseidentitäten herangezogen werden.

In „VI. Lesen (ver-)lernen" schlägt Griem schließlich ein prototypisches, nach „Fach- und Studiengangskontext zu variieren[des]" (S. 107) Seminar an Universitäten vor, in dem reflektierte Lesepraktiken Studierenden einen anderen Zugriff auf das akademische Lesen ermöglichen sollen – eine Forderung, die in den letzten Jahren wiederholt in der Hochschulpädagogik gestellt, aber nie systematisch ausgearbeitet wurde. Mit dem Verlust der Perspektive auf eine mögliche Szene des akademischen Lesens im Wandel bleibt dieser Teil nur an der Oberfläche, denn auch Griem adressiert die Komplexität des akademischen Lesens nicht, weder in den realen (und begrenzenden) Bedingungen der Hochschullehre und der dortigen Ausrichtung des Lesens auf Effizienz noch in den höchst unterschiedlichen domänenspezifischen Anforderungen verschiedener Disziplinen.

Insgesamt gelingt Julika Griem mit Szenen des Lesens dennoch eine unterhaltsame, werturteilsfreie und angenehm unaufgeregt zu lesende Beobachtung einiger aktueller Situierungen des Lesens im Alltag. Die essayistische Darstellung erlaubt ihr viele Freiheiten in der Auswahl von Phänomenen und deren explorativer Interpretation. Fundiert und eloquent kritisiert Julika Griem dabei intellektuelle, literarisch-kulturelle und wissenschaftlich-disziplinäre Verengungen der Leseforschung und zeigt, dass die übergreifende Betrachtung von Situierungen des Lesens andere Erkenntnisse ermöglicht. Dass die Autorin ihrem eigenen Anspruch des Zeigens alltäglicher Situierungen nicht immer gerecht wird, beispielsweise wenn sie ihr eigenes Lesen als Professorin der Literaturwissenschaft als alltäglich heranzieht, Ratgeber-Cover zur Rekonstruktion geschlechterbezogener Aspekte des Lesens stilisiert oder literarisch idealisierte Leseinszenierungen in Autofiktionen als Belege heranzieht, schmälert den Wert des Bandes dabei kaum: Für interessierte Leser*innen bietet er einen Einstieg in aktuelle Fragen rund um das Lesen, unterhaltsame Anekdoten und Wunderlichkeiten der aktuellen Lesekultur und anregende Denkanstöße zum Wandel des Lesens.

Footnotes 1 Heinz Bonfadelli, „Entstehung und Entwicklung der modernen Lese- und Leserforschung im 20. Jahrhundert". In: Ursula Rautenberg / Ute Schneider (Hgg.), Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin – Boston 2015, S. 531–546. 2 Anne Mangen / Adriaan van der Weel, „The evolution of reading in the age of digitization: an integrative framework for reading research". In: Literacy 50,3 (2016), S. 116–124. 3 Axel Kuhn / Svenja Hagenhoff, „Kommunikative statt objektzentrierte Gestaltung. Zur Notwendigkeit veränderter Lesekonzepte und Leseforschung für digitale Lesemedien". In: Sebastian Böck u. a., Lesen X.0 – Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen 2017, S. 27–45. 4 Siehe Axel Kuhn, „Das Ende des Lesens? Zur Einordnung medialer Diskurse über die schwindende Bedeutung des Lesens in einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft". In: Sandra Rühr / ders. (Hgg.), Sinn und Unsinn des Lesens. Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart. Göttingen 2013, S. 219–240. 5 Beispielsweise bei Björn Krey, Textarbeit. Die Praxis des wissenschaftlichen Lesens. Berlin – Boston 2020; Franziska Wilke, Digital Lesen. Wandel und Kontinuität einer literarischen Praxis. Bielefeld 2022; Ursula Rautenberg / Ute Schneider, Das Buch als Handlungsangebot. Soziale, kulturelle und symbolische Praktiken [im Druck]. 6 Siehe beispielsweise Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der bürgerlichen Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2010, S. 155–175. 7 Siehe Stefan Alker-Windbichler u. a. (Hgg.), Akademisches Lesen. Medien, Praktiken, Bibliotheken. (Bibliothek im Kontext 5) Göttingen 2022.

By Axel Kuhn

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Titel:
Julika Griem, Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung. (Wie wir lesen. Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik 3) transcript, Bielefeld 2021. 126 S., € 12,99.
Autor/in / Beteiligte Person: Kuhn, Axel
Link:
Zeitschrift: Arbitrium, Jg. 41 (2023-04-01), Heft 1, S. 116-119
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0723-2977 (print)
DOI: 10.1515/arb-2023-0015
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Buchwissenschaft, Katholischer Kirchenplatz 9, D-91054 Erlangen, Germany
  • Full Text Word Count: 1233

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