In unserer Gegenwart gilt Kompromissfähigkeit als zentrale demokratische Tugend und Politiker, Journalisten und die Wissenschaften sprechen gerne und viel über Demokratie und Kompromiss. Ausgehend von dieser Beobachtung widmet sich der Aufsatz einer historisch-semantischen Rekonstruktion des Kompromissbegriffs und fragt danach, wann und unter welchen Umständen sein Aufstieg in der politisch-sozialen Sprache Deutschlands begann. Die Untersuchung macht deutlich, dass der Kompromiss – verstanden als Schiedsgerichtsverfahren – eine lange Tradition alteuropäischer Begrifflichkeit aufweist und in Deutschland erst im Kontext der Sattelzeit eine neue Bedeutung annahm, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Studie verfolgt die Konjunkturen und argumentativen Muster, die mit diesem Begriff von der 1848er Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs verknüpft wurden. Dabei zeigt sich, dass der Begriff vom monarchischen Konstitutionalismus auf die Demokratie übertragen worden ist.
In our present, the ability to compromise is considered an important democratic virtue, as politicians, journalists and scientists like to talk a lot about democracy and compromise. Based on this observation, the essay follows a historical-semantic approach in reconstructing the concept of compromise and asks when and under what circumstances its rise in the political language of Germany began. The study argues that compromise – understood as arbitration proceedings – has a long tradition in the European language of law and politics and took on its new, contemporary meaning in Germany only in the context of the "Sattelzeit". This paper traces the trends and argumentative patterns associated with this term from the 1848 revolution to the end of the First World War. It turns out that the term was transferred from monarchical constitutionalism to parliamentary democracy.
Keywords: Demokratie; monarchischer Konstitutionalismus; Begriffsgeschichte/historische Semantik; Kompromiss;
Die Demokratie – so sind sich zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter einig – befindet sich seit einigen Jahren (einmal mehr) in der Krise. Die Ursachen dieser gegenwärtigen Krise sowie ihre Ausdrucksformen sind zweifellos vielfältig, seien es sinkende Wahlbeteiligung oder der Aufstieg (rechts-)populistischer Parteien. Angesichts dieser Diagnosen interessieren sich die jüngere historischen und politikwissenschaftlichen Forschungen wieder verstärkt für das Scheitern von Demokratien. Als einen wesentlichen Faktor des demokratischen Niedergangs identifizieren sie dabei „den Unwillen [...], die Kunst des Kompromisses zu praktizieren". Demnach war eine „fehlende oder wegbrechende Kompromissbereitschaft immer wieder von entscheidender Bedeutung für das Scheitern von Demokratien". Das wichtigste Element, um die Krise demokratischer Staaten zu überwinden, sei demnach „die Einsicht in die Notwendigkeit von Kompromissen". Denn Kompromisse seien „ein schöpferischer Akt" und ein Zeichen der Stärke eines politischen Systems, zudem aber unbedingt notwendig, um den politischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft wirksam zu begegnen.
Gerade das in letzter Zeit vor allem für die jüngere politische Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika häufig verwendete Deutungsmuster der „Polarisierung" läuft darauf hinaus, dass zwei politische Lager sich unversöhnlich gegenüberstehen und keine Kompromisse mehr möglich sind – mit lähmenden Konsequenzen für das gesamte politische System. Aus solchen Beobachtungen lässt sich folgern, dass Kompromissen eine überaus gewichtige Rolle für den gesellschaftlichen Interessenausgleich und die Stabilität demokratischer Systeme zukommt. „Kompromisse", so schreibt der Historiker Magnus Brechtken, „sind keine Schwäche, sondern garantieren überhaupt das Überleben der Demokratie." Der Philosoph Jürgen Habermas sieht den „Gegenstand politischer Diskussionen [...] überhaupt" in unterschiedlichen Interessen, die allein durch „faire Kompromisse" ausgeglichen werden könnten.
Demokratische Politikerinnen und Politiker werden denn auch nicht müde, die Kunst des Kompromisses zu loben. Altbundeskanzler Helmut Schmidt war der Ansicht: „Demokratische Politik ist ohne Fähigkeit zum Kompromiß nicht möglich." Dementsprechend sei derjenige, der „den Kompromiß prinzipiell nicht kann, prinzipiell nicht will [...] zur demokratischen Gesetzgebung nicht zu gebrauchen". Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck schloss mit seinem Plädoyer, auch „die politisch unterlegene Seite miteinzubeziehen", da ohne Kompromisse die Demokratie zerstört werde, nahtlos an diese Tradition an. Zuletzt hat Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich ihrer Verabschiedung davon gesprochen, dass die Demokratie „vom steten Ausgleich der Interessen und von dem Respekt voreinander" lebe.
Angesichts solcher Einsichten und Aufforderungen politischer Praktiker und Philosophen verwundert es nicht, dass die Politikwissenschaft Kompromissbereitschaft und -fähigkeit zu den „moralischen Tugenden" zählt, die „der Politiker in einer liberalen Demokratie" unbedingt benötige, und Staatsrechtler hierin ein „Lebenselement des Parteien- und Verbändestaates" erkennen. Man brauche – so der Islamwissenschaftler Thomas Bauer – „ein relativ hohes Maß an Ambiguitätstoleranz" für die Demokratie, denn ohne eine solche Fähigkeit, Vieldeutigkeit auszuhalten und die eigene Position im Lichte von anderen zu relativieren, könne es keine Kompromisse geben. Der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat die Kompromissfähigkeit schließlich den „im vor-verfassungsrechtlichen Bereich angesiedelten Bauelemente[n] der Demokratie" zugerechnet. Denn, wer am demokratischen Staat partizipiere, müsse eine „Offenheit für Argumentation und Kompromiß in der politischen Auseinandersetzung der Entscheidungsfindung" aufweisen. Es sei „ein Ethos der Partnerschaft" zu pflegen, in dem Kompromisse Teil der anerkannten politischen Spielregeln sind. Tatsächlich sei „gerade im deutschen politischen Leben sowie in der verfassungsrechtlichen Praxis eine besonders ausgeprägte Neigung zur Kompromisssuche" festzustellen. Doch trotz dieser Betonung der Relevanz von Kompromissen wissen wir bisher relativ wenig darüber, welchen Konjunkturen der Kompromissbegriff unterlag und welchen Stellenwert er in der Genese moderner Demokratien einnahm. Gehört „Kompromiss" zu den Grundbegriffen des 20. Jahrhunderts als einem „demokratischen Zeitalter"? An diesem Punkt setzt der vorliegende Beitrag an.
Ziel ist es, sich historisch darüber Klarheit zu verschaffen, wie sich der Kompromiss zum Konzept des politischen Interessenausgleichs und schließlich zum normativen Selbstdeutungsbegriff politischer Systeme entwickelt hat. Einen Ausgangspunkt hierfür bietet die Geschichte der politischen Kultur, die nach Sinnkonfigurationen, politischen Sprachen und Kommunikationsprozessen fragt, Politik also nicht nur als ein institutionelles Arrangement wahrnimmt, das von Akteuren jeweils ausgestaltet wird, sondern Bedeutungszuschreibungen und Sinnwelten berücksichtigt. Für die politische Kultur von Demokratien lässt sich demnach von einer spezifischen „Demokratiekultur" sprechen, die sich daraus speist, „dass demokratieaffine Vorstellungen über das Politische lebensweltlich verankert sind und von demokratischen Institutionen symbolisch zum Ausdruck gebracht werden". Zu diesen demokratieaffinen Vorstellungen gehört – glaubt man den oben angeführten Zitaten – auch der politische Kompromiss. Diese Perspektive rückt im Sinne einer „postheroischen Demokratiegeschichte", die weniger auf die großen Vorkämpfer demokratischer Politik als auf die Entwicklung spezifisch demokratiekompatibler Vorstellungen und Handlungsmuster achtet, das 19. Jahrhundert in den Fokus. Denn politische Kultur ist nicht einfach „da", sondern als dynamisch und „gemacht" zu verstehen. Mittels eines historisch-semantischen Ansatzes wird versucht, die Verständnisweisen von „Kompromiss" zu rekonstruieren und dadurch seine Funktion innerhalb der politischen Sprache zu bestimmen.
Kompromisse lassen sich als eine Form von Entscheidungshandeln verstehen, das politisch auseinanderliegende Kräfte dazu bringt, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen und diese praktisch umzusetzen. Die jüngere Forschung hat deutlich gemacht, dass Entscheiden auf voraussetzungsvollen Prozessen beruht und historisch wandelbar ist. In diesem Sinne bilden Kompromisse eine Form des Entscheidens als wesentliches Merkmal des Politischen.
Die vorliegende Studie knüpft über diese Perspektivierungen an aktuelle Forschungstrends an. Indem sie die Geschichte des Kompromissbegriffs mit einer Kulturgeschichte der Politik verbindet, liefert sie Bausteine für eine Geschichte der Demokratie und leistet damit letztlich einen Beitrag zu den historischen Grundlagen sowie der Untersuchung von Transformationen und Konjunkturen dieses Konzepts.
Die deutsche Demokratiegeschichte stand jahrzehntelang im Schatten der Metaerzählung eines „deutschen Sonderwegs", in dessen Mittelpunkt insbesondere die demokratische Entwicklungsfähigkeit des Kaiserreichs stand. Doch auch seitdem diese Debatten in den Hintergrund getreten sind, ist der Ort des Kaiserreichs in der deutschen (Demokratie-)Geschichte nach wie vor umstritten. Während jüngere Studien die lange Jahrhundertwende als demokratische Reformperiode und Experimentierfeld verstehen, betonen andere Darstellungen die „Schatten" des ersten deutschen Nationalstaats. Ob und inwiefern das Kaiserreich nun auf dem Weg in eine (parlamentarische) Demokratie war oder nicht, ist seit Jahrzehnten Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. An dieser Stelle lässt sich mit Blick auf die Bedeutung des Kompromisses ein neuer Akzent setzen, indem nach dessen Funktion als Selbstdeutungskategorie für die politische Kultur des Kaiserreichs gefragt und ausgemessen wird, inwiefern hier Ansätze einer Demokratiekultur entstanden.
Bisher gibt es weder systematische historische Untersuchungen einer politischen Kompromisskultur in Deutschland, die deren Genese und Transformationen nachzeichnen, noch eine Begriffsgeschichte dieses Leitkonzepts der modernen Demokratie. So gilt etwa die Spaltung der liberalen Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts als der „ganz große Kompromiss" und wichtige Gelenkstelle für die politische Entwicklung Preußen-Deutschlands. Eine Analyse der zeitgenössischen politischen Sprache wird dabei aber in der Regel unterlassen.
Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Bedeutung des Kompromissbegriffs für das jeweilige politische System und den innergesellschaftlichen Interessenausgleich im 19. Jahrhundert. Von einer so angelegten Analyse des innenpolitischen Kompromissverständnisses wird wohl auch eine spätere Untersuchung der außenpolitischen Ebene ebenso profitieren können wie Studien zur Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts, die auszuloten haben, wie sich dieses Konzept im „Zeitalter der Extreme" (Eric Hobsbawm) über die politischen Systemtransformationen hinweg entwickelte. Eine solche Geschichte, der angesichts der gegenwärtigen Hochschätzung von Kompromissen für die Demokratie eine besondere Bedeutung zukommt, lässt sich am besten mit einer historisch-semantischen Analyse angehen. Dabei kann es sich bei den folgenden Ausführungen lediglich um eine erste Annäherung handeln, die durch Spezialstudien ergänzt werden muss, zumal „das Schreiben von Begriffsgeschichten eine ungewöhnlich diffizile und nicht selten mühsame Aufgabe ist".
Grundsätzlich bieten sich zwei Möglichkeiten der Annäherung an eine Geschichte politischer Kompromisse. Entweder man nimmt jeweils identifizierte Ereignisse und Prozesse näher in den Blick oder aber – und das ist der Weg, der hier beschritten wird – man folgt dem Sprachgebrauch der Zeitgenossen. Eine solche Analyse kann dabei helfen, die jeweilige Bedeutung von Begriffen als „Faktoren und Indikatoren geschichtlicher Bewegung" genauer zu bestimmen. Sicher kann es hilfreich sein, ein analytisches Verständnis von Kompromissen oder Kompromissfähigkeit zu etablieren, um anschließend politische Systeme danach zu mustern, wie sie „Dissensmanagement" betreiben. Aber für die hier verfolgten Zwecke einer Rekonstruktion historischer Verständnisse erscheint es sinnvoller, das Sprachhandeln der Akteure zu fokussieren.
Die Analyse politisch-sozialer Sprache hat sich seit den Pionierstudien Reinhart Kosellecks zu einem international rege betriebenen Forschungsfeld entwickelt. Dabei geht es längst nicht mehr allein um den Wandel der Bedeutungen eines Begriffs, sondern auch darum, in welche Praktiken und Sachverhalte der jeweilige Sprachgebrauch eingebettet war. Im Zentrum steht also ein größeres semantisches Feld, zu dem für den Kompromiss etwa „Vergleich", „Ausgleich", „Versöhnung", „Einigung" usw. gehören. Es ließe sich damit ein breites Kompromissvokabular in den Blick nehmen. Eine Begriffsgeschichte des Kompromisses kann hier als erste Sonde dienen, um die politischen Sprachen zu rekonstruieren, in die das (politische) Kompromissverständnis jeweils eingebunden war. Jeder Kompromiss muss in eine Sprache eingekleidet werden, die selbst in der Lage ist, Kompromisse einerseits wahrscheinlich und andererseits den jeweils eigenen Anhängern plausibel zu machen. Bestimmte wiederkehrende Metaphern, Fahnenwörter usf., die sich jeweils zu einer identifizierbaren politischen Sprache verdichten, sind also wesentliche Voraussetzungen für die (sprachliche) Praxis des Kompromisses. Ebenso setzten Kompromisse ein gemeinsames Problem- und Realitätsverständnis voraus. Wenn zwei oder mehrere Gruppen sich beispielsweise nicht einmal darüber verständigen können, welches Problem vorliegt und inwiefern hier kompromissförmig entschieden werden könnte, dann kann es keinen Kompromiss geben.
Insbesondere im Kontext der Revolution von 1848 entstanden verschiedene politische Sprachen, die durch „typische Verknüpfungen von Begriffen und längeren Argumentationsketten zu identifizieren" sind und „die von den verschiedenen Sprechergruppen mit mehr oder weniger Erfolg angewendet" wurden. Die Zunahme abstrakter Begriffe in der Frankfurter Paulskirche, als die verschiedenen politischen Sprachen aufeinandertrafen und sich zugleich durch den Außenkontakt weiterentwickelten, war ein wichtiger Schritt, um langfristig Kompromisse zu ermöglichen. Abstrakte und relativ bedeutungsoffene Ausdrücke konnten so bis zu einem gewissen Grad Unterschiede im Detail überwinden. Vor allem auf Seiten der Liberalen entwickelte sich seit 1848/49 eine politische Sprache, die auf die ‚harten Tatsachen' der Realität und die Anforderungen der politischen Wirklichkeit verwies. Diese ‚Sprache der Tatsachen' ermöglichte Zusammenarbeit durch ein geteiltes Problemverständnis und bereitete die Realpolitik des Reichsgründungsjahrzehnts vor. Eine existentiell-pathetische Sprache dagegen, die Konflikte in einem Modus beschrieb, der darauf hinauslief, dass es „bei den politischen Parteikämpfen [...] das Wichtigste ist, mit Ehren zu sterben", wie Ferdinand Lassalle 1863 in seinen Reden ausführte, war für eine Kultur des Kompromisses nicht zu gebrauchen. Für die politische Sprache der Weimarer Republik liegen ähnliche Hinweise vor. Nur bestimmte Metaphern und Argumentationsketten waren geeignet, einen gemeinsamen Grund zu definieren, auf dem reziproke Ausgleichsprozesse möglich wurden. Eine umfassende Geschichte des Kompromisses kommt also nicht umhin, Kompromissvorstellungen in die jeweiligen politischen Sprachen und das zugrundeliegende Politikverständnis einzuordnen. Dabei lässt sich im Längsschnitt beobachten, inwiefern Kompromissverständnisse einzelner Parteien sich gewandelt haben und welche Bedeutung dies für das jeweilige politische System hatte. Eine Untersuchung politischer Sprache des Kompromisses sollte also nicht bei dem Wort stehenbleiben, sondern Sätze und Redesequenzen in den Blick nehmen, die gegenseitige Rücksichtnahme zum Ausdruck bringen (wie etwa Verweise auf gemeinsame Interessen oder Sachzwänge, Erläuterungen nach dem Modell „Politik ist ein Geben und Nehmen" oder die Anwendung des Kommunikationsmodells „runder Tisch"). Die vorliegende Studie liefert so erste Bausteine für eine umfassendere Geschichte des politischen Kompromissvokabulars.
Denn historische Forschung hierzu ist bisher im Grunde kaum vorhanden. In gängigen Lexika wie den „Geschichtlichen Grundbegriffen" wird die Entwicklung des Kompromissbegriffs nicht behandelt. Ebenso haben auch die Philosophie oder die Linguistik wenig dazu beigetragen, dessen Geschichte zu erhellen. Politikwissenschaftliche Analysen bieten zwar einige Einsichten, etwa in die Bedingungen einer demokratischen „Kompromisskultur", blenden aber die historische Dimension weitgehend aus oder widmen sich verstärkt ethischen, normativen oder theorieimmanenten Fragen, etwa danach, was einen gelungenen Kompromiss auszeichne. Bislang existiert also keine wissenschaftliche Studie, die auf breiter Quellenbasis dem Bedeutungswandel und der Relevanz des Kompromisses in der politischen Kultur Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert nachspürt, obwohl immer wieder in einem in der Regel allgemeinsprachlichen Sinne in historischen Darstellungen von „Kompromissen" die Rede ist. Mitunter mag es nützlich sein, ein sehr allgemeines Verständnis vom Kompromiss als bloßem Interessenausgleich zu verwenden, aber ein solcher Ansatz findet dann überall Kompromisse und universalisiert diese Variante des (politischen) Entscheidungshandelns so weit, dass keine hinreichend relevanten Merkmale einzelner Gesellschaften und politischer Systeme mehr zu entdecken sind. Möchte man aber die jeweilige Bedeutung des Kompromissbegriffs als Selbstdeutungsformel politischer Kultur bestimmen, so bildet eine historisch-semantische Analyse eine geeignete Methode, um entsprechende Erkenntnisse zu erarbeiten.
Als Ausgangspunkt bieten sich zunächst zwei für historisch-semantische Studien hilfreiche Werkzeuge der digital humanities an, nämlich Googles „NGram-Viewer" und das „Deutsche Textarchiv" (DTA). Ersteres durchsucht unsystematisch angelegte, digitalisierte Textkorpora deutscher Sprache nach dem jeweiligen Ausdruck, während Letzteres systematische Analysen erlaubt, da Erstauflagen und alternative Schreibweisen (z. B. Compromiß) berücksichtigt werden. Auf diese Weise lassen sich Konjunkturen des Begriffs einigermaßen erkennen. Diese quantitative Auswertung muss allerdings durch weitere Recherchen und qualitative Tiefenbohrungen ergänzt werden.
Verschafft man sich mit dem Ngram-Viewer einen ersten Überblick über die quantitative Verteilung des Ausdrucks im Deutschen, so zeigt sich, dass dieser sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts langsam verbreitete – also ungefähr mit der zunehmenden Durchsetzung von Verfassungen und Parlamenten. Er erlebte um 1900 einen ersten Anstieg, aber die Häufigkeit der Verwendung geht dann – wohl nicht zufällig – mit Beginn der 1930er Jahre langsam zurück. Um 1945 herum gibt es einen erneuten Anstieg, bevor dann seit Mitte der 1980er Jahre die Verbreitung rapide zunimmt. Das lateinische „compromissum" erlebte einen ersten Anstieg zwischen 1700 und 1750 mit Höhepunkten um 1800, 1850 und 1950, bevor die Frequenz bis zur Jahrtausendwende immer weiter absank.
Die Verlaufskurve des DTA bestätigt diese Ergebnisse mehr oder weniger: Um 1800 nimmt die Frequenz langsam zu, um dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts steil anzusteigen. Die politischen Systemwechsel bilden sich auch hier mit einem Tiefpunkt um 1940 deutlich ab, bevor die Verwendung des Ausdrucks dann wieder zunimmt und seit ungefähr den 1970er Jahren auf hohem Niveau verharrt. Beide Möglichkeiten quantitativer Annäherung verweisen also auf einen Relevanzgewinn um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Hier scheint der Zeitraum zu liegen, in dem die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Ausdrucks zunahm.
Nähert man sich dem Phänomen wortgeschichtlich an, so geht der Kompromissbegriff auf die römische Rechtssprache zurück. Hier bezeichnete das „compromissum" (Schiedsvertrag, Schiedsgerichtsurteil) den Spruch eines „arbiter" (Schiedsrichters), dem sich zwei streitende Parteien freiwillig unterwarfen. In diesem Schiedsgerichtsverfahren erwählten also die Konfliktpartner eine dritte Person, um ihren Konflikt zu lösen. Damit ging das Versprechen einher, sich dem von diesem Schiedsrichter verkündeten Urteil zu unterwerfen. Der Begriff bezeichnete sowohl dieses Urteil als auch die gemeinsame Übereinkunft der beiden Streitpartner, der Entscheidung des selbstgewählten „arbiter" zu folgen. Damit ist der semantische Kern benannt. Er zeigt, dass es bei Kompromissen darauf ankommt sich für die Zukunft zu einigen, ohne dass beide Parteien ihre Ziele voll durchsetzen können. Sie sind damit Teil derjenigen gesellschaftlichen Verhaltensnormierungen, die soziale Erwartungssicherheit herstellen. Daneben enthält auch das römische Verfahren der Konfliktlösung Elemente des modernen Kompromisses, denn um ein solches Verfahren überhaupt zu eröffnen, war schon eine gewisse Einigungs- oder – modern gesprochen – Kompromissbereitschaft vonnöten, etwa bei der gemeinsamen Auswahl eines Schiedsrichters oder der genauen Festlegung des Streitgegenstandes. Zudem sollten sowohl beim römischen „compromissum" als auch im modernen Kompromiss die Folgen der Entscheidung (zumindest über einen längeren Zeitraum) getragen werden – denn das ist ja der Kern des Versprechens. Wer sich nachträglich aus einem gefundenen Kompromiss zurückzieht, bricht dieses Versprechen und unterliegt der Gefahr des Legitimationsverlusts. Unter Umständen tritt dieser nicht bei den eigenen Anhängern ein, aber er blockiert die Möglichkeit, kommunikativ anschlussfähig für die übrigen politischen Spieler zu bleiben. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum in der modernen Demokratie so viel von Vertrauen die Rede ist. Partner in Koalitionen müssen vertrauenswürdig und verlässlich, mindestens aber erwartungssicher bleiben. In Politik und Gesellschaft der römischen Republik spielten das „compromissum" und überhaupt Ausgleichs- und Versöhnungsverfahren über Dritte eine große Rolle, da persönliche Ehrkonflikte schnell zu Störungen des politischen Systems führen konnten. Vermittlungsverfahren mit Hilfe von Schiedsrichtern waren deshalb wichtig, um die Kooperationsbereitschaft wiederherzustellen. Gab es also keine Kompromisse – im modernen Sinne – in Rom? Es existierte durchaus eine große Bereitschaft zum Nachgeben und eine Versöhnungsnorm. Dabei gab es auch Fälle mit Einigungsbedingungen derart, dass beide Parteien etwas aufgeben sollten. Als Selbstdeutungskategorie des politischen Systems aber scheint kein Begriff, der dem Kompromiss gleichkommt, existent gewesen zu sein, angestrebt wurden vielmehr Versöhnungs- und Schiedsverfahren.
Die Rezeption des römischen Privatrechts durch die abendländischen Juristen des Mittelalters hat schließlich dazu geführt, dass das „römische Recht des privaten Schiedsgerichts [...] zum vorbildlichen Bestandteil des europäischen ius commune geworden" ist. Der spezifisch rechtliche Sinn des Begriffs als Schiedsgericht hat sich über das Mittelalter bis in die Gegenwart erhalten, ist aber inzwischen von der Bedeutung eines Interessenausgleichs weitgehend überlagert worden. In Johann Heinrich Zedlers großem Lexikon aus der Aufklärungsperiode ist noch ganz selbstverständlich von einem Schiedsverfahren nach römischem Modell die Rede. Rund 250 Jahre später taucht in einem Konversationslexikon der Begriff in diesem Sinne aber nur noch im Kontext des Völkerrechts auf. Hier gilt ein Kompromiss in erster Linie als eine allgemeine Übereinkunft oder ein Ausgleich. Irgendwann in dem Zeitraum zwischen diesen beiden Einträgen hat sich der Begriff also gewandelt und seinen ursprünglichen Verwendungskontext allein auf die Fachsprache von Völkerrechtsjuristen abgegeben, während in der politischen und sozialen Sprache die Vorstellung eines Interessenausgleichs führend wurde. Bis ins 18. Jahrhundert dominierte noch das klassische Verständnis des Schiedsgerichts. Denn aus Johann Georg Estors rechtswissenschaftlichen Studien erfährt man: „Von dem gerichtlichen Streite, war der Teutsche ein Feind; hingegen ein libhaber der compromisse." Ein Kompromiss bezeichnet hier jedoch allein einen Vergleich, der einer dritten Partei bedarf, denn „[d]iejenigen, welche vermöge des compromisses die sache schlichten, heissen schidsrichter." Diese Bedeutung dominierte auch in der Wirtschaft, wo Kaufleute ihre „Streitigkeiten" durch „ein[en] Compromiß" klärten, indem sie sich einem „Schiedsrichter" unterwarfen. Dieses schiedsgerichtliche Verständnis blieb in den juristischen Diskursen, Rechtstexten und auch im allgemeinen Sprachgebrauch noch bis weit ins 19. Jahrhundert vorherrschend. Als Synonym herrschte im selben Zeitraum der Ausdruck „Vergleich" in der Rechtssprache vor. Hier zeigt sich also eine lange Tradition alteuropäischer Begrifflichkeit von der Antike bis zur Epochenschwelle um 1800.
In der politischen Sprache scheint sich der Kompromissausdruck in der heutigen Bedeutung erst Mitte des 19. Jahrhunderts – also im Kontext der von Reinhart Koselleck einst als heuristischer Vorgriff eingeführten „Sattelzeit" – verbreitet zu haben. Die Befunde weisen darauf hin, dass dieser Übergang von der juristischen in die politische Sprache um 1848 parallel zur Etablierung politischer Assoziationen bzw. Parteien und deren jeweiligen politischen Sprachen stattgefunden hat. In diesem Sinne hat Hans-Ulrich Wehler insbesondere der vormärzlichen liberalen Bewegung ein „staatsfreundliche[s] Kompromißdenken" attestiert. Der Aufstieg des modernen Kompromissverständnisses in diesem Zeitraum verwundert nicht, denn die Vorstellung eines Kompromisses als legitimer politischer Interessenausgleich kann erst dann an Relevanz gewinnen, wenn eine politische Entscheidungskultur entsteht, der es nicht mehr – wie in Mittelalter und Früher Neuzeit – primär darum geht, herrschaftliche Entscheidungen als harmonisch, einträchtig und konsensgetragen zu inszenieren.
Nach dem Wiener Kongress setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Verfassungstypus eines dualistisch ausgerichteten, monarchischen Konstitutionalismus sowohl in der deutschen Staatenwelt als auch in weiten Teilen Europas durch. In diesem Kontext formierte sich ein neues Kompromissverständnis, das einen Interessenausgleich bezeichnete, der ohne einen Schiedsrichter auskam. Zugleich verbreitete sich diese neue Bedeutungsschicht nicht nur im politischen Kommunikationsraum, sondern auch in anderen sozialen Sphären.
In den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 überschnitten sich noch Verwendungen im älteren und neueren Sinne. So war etwa davon die Rede, dass die „öffentliche Meinung" zwei streitende Parteien dazu zwingen könne, „das Compromiß zu machen und durch den Richter entscheiden zu lassen". Andererseits tauchte der Begriff auch in der Bedeutung eines „Compromiß zwischen verschiedenen particularistischen Tendenzen" auf und legte damit eher einen Interessenausgleich nahe. Die Presse nahm die neue Bedeutungsschicht auf und sprach davon, die politische Linke in Preußen wolle „die Verfassung [...] ‚vereinbaren', das heißt, einen Compromiß mit dem Königthume" abschließen. Ebenso existierte die Rede von „gegenseitigen Kompromisse[n]" politischer Parteien.
Auch Karl Marx und Friedrich Engels nahmen in ihren Schriften „verstreute Bezugnahmen auf Kompromisse" vor und dachten über dieselben und ihre Funktion für das politökonomische System nach. Dabei beobachteten sie insbesondere das Verhalten der Abgeordneten in den Parlamenten, die nach ihrer Interpretation unter dem Druck der Arbeiterklasse zu Kompromissen getrieben wurden, um das politische System zu stabilisieren, ohne das Proletariat an der Herrschaft beteiligen zu müssen. Aber auch Ausgleichsprozesse „zwischen Fabrikanten und Arbeitern" beschrieb Marx im „Kapital" als „Kompromiss". Von Kompromissen war nun sowohl in Bezug auf Parteien und politische Bewegungen als auch hinsichtlich des Verhältnisses von Staatsregierungen und anderen Organen, die kollektive Interessen vertraten, die Rede. Auch Parteien selbst konnten als Interessenverbände angesprochen werden, die – wie die Deutsche Fortschrittspartei 1862 – „nichts als ein Compromiß" waren, solange sie sich weder auf ein „gemeinschaftliches Programm noch gemeinschaftliche Führer, noch gemeinschaftliche Ziele" verpflichtet hatten. Allerdings existierten auch Gegenpositionen. So sah der in England lebende ehemalige 48er-Revolutionär Lothar Bucher die Parteien Festlandseuropas aus „philosophischen Gegensätzen" hervorgehen, sodass „zwischen feindlichen Prinzipien kein Kompromiß" möglich sei, während „sich der Gegensatz zwischen Liberal und Konservativ in England nicht" in derartiger Schärfe darstelle. Auf der Insel seien sich die beiden Parteien nämlich darüber einig, dass die englische Verfassung „eine Reihe von Kompromissen sei", die von allen geachtet werde. Denn dort sei „nichts System, ist alles Kompromiß".
Die Verwendung des Kompromissbegriffs als Synonym für einen „Ausgleich", der einen Konflikt „gütlich beigelegt" habe, ging schließlich auch in Wörterbücher ein, in denen die Bedeutung der Anrufung eines Schiedsgerichts in den Hintergrund trat. Der Konflikt zwischen Prinzipien und Interessen war dem Begriff dabei schon früh eingeschrieben, denn eine Sprichwörtersammlung führte 1867 den Satz „Compromiss – Schande gewiss" auf und erläuterte, dass er sich auf „Parteien" beziehe, „die eine Uebereinkunft treffen, wobei Principien [...] aus Nachgiebigkeit verletzt werden, die, ohne Verletzung der Ehre und des Rechts, aufrecht erhalten werden mussten".
Seitdem drang der Begriff in seiner modernen Variante aber zunehmend in zahlreiche andere gesellschaftliche Felder und Kommunikationsräume vor, allen voran in die Sphäre der Politik. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck erläuterte während des Verfassungskonflikts 1863 im Parlament seine Vorstellung der Funktionsweise der Konstitution und verwies dabei prominent auf den Kompromiss. Er ließ die liberale Opposition wissen, dass die Verfassung sämtliche beteiligten Gewalten „auf den Weg der Compromisse zur Verständigung" verweise:
„Ein constitutionell erfahrener Staatsmann hat gesagt, daß das ganze Verfassungsleben jederzeit eine Reihe von Compromissen ist. Wird der Compromiß dadurch vereitelt, daß eine der betheiligten Gewalten ihre eigne Ansicht mit doctrinärem Absolutismus durchführen will, so wird die Reihe der Compromisse unterbrochen, und an ihre Stelle treten Conflicte, und Conflicte, da das Staatsleben nicht stillzustehen vermag, werden zu Machtfragen; wer die Macht in Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor."
Bismarck entwarf in seiner Rede gewissermaßen den Normalfall des politischen Zusammenwirkens im monarchischen Konstitutionalismus und unterschied dabei zwischen Konflikten und Kompromissen. Üblicherweise werde ein Kompromiss zwischen Krone und Parlament gefunden; jetzt, wo dies nicht der Fall sei, müsse die Macht entscheiden. Unabhängig von der Frage, inwiefern Bismarcks Ausführungen auch taktischen Überlegungen gehorchten, ist doch auffällig, dass hier der Kompromiss als der eigentliche Modus von Politik im Konstitutionalismus angesprochen und damit zugleich die Regel einer politischen Kultur formuliert wurde, von der sich die derzeitige Konfliktsituation als Ausnahme abhob. Erst mit der Indemnitätsvorlage von 1866 schlossen Regierung und Opposition wieder „eine Art Kompromiß". Das Kompromissverfahren war also zunächst keineswegs mit der Demokratie, sondern vielmehr mit dem monarchischen Konstitutionalismus verknüpft. Wer allerdings bei diesem Kompromiss die größeren Gewinne oder Verluste gemacht hatte, war nicht nur unter den Zeitgenossen umstritten, sondern bewegt seitdem die historiographische Debatte.
Diese Verknüpfung wird auch an anderen Stellen deutlich. Denn neben dem künftigen Reichskanzler äußerten sich auch Akteure aus dem Liberalismus in den 1860er Jahren in programmatischer Weise zum Kompromiss. Der Publizist und Politiker Ludwig August von Rochau, der sich als Erfinder der „Realpolitik" einen Namen machte, verwendete den Kompromissbegriff 1869 als Kennzeichen einer Politik, die sich zwischen Ideal und Wirklichkeit bewege: „Eine richtige politische Praxis", so schrieb er, könne „sich niemals weigern auch die unwillkommenen Tatsachen gelten zu lassen". Die Anerkennung „der obersten Staatsgewalt", sei deshalb unumgänglich, wolle man die eigenen politischen Ziele vorantreiben. Diesen Vorgang beschrieb Rochau als „Kompromiß mit der Macht". Ansonsten bleibe nur „Auswanderung oder Krieg auf eigene Hand". Der von dem Publizisten konstruierte Kompromisszwang war aber keineswegs bedingungslos, denn es sei selbstverständlich, „daß es für den Kompromiß mit einer feindlichen Übermacht eine Grenze der öffentlichen Moral und der persönlichen Ehre gibt und daß weitgehende Vorbehalte dabei keineswegs ausgeschlossen sind".
Der politische Kompromiss erschien hier also als ein notwendiges Verfahren, um eigene Ziele verwirklichen zu können. Seine Grenzen waren allerdings abhängig von den Akteuren und den jeweiligen Erwartungen, die sich auf diese richteten.
Im allgemeinen Sinne eines Ausgleichs zwischen mindestens zwei Prinzipien verbreitete sich der Begriff ungefähr im selben Zeitraum. So verwendete ihn der Basler Historiker Jacob Burckhardt dann auch ohne besondere Erläuterung, wenn er 1855 davon sprach, eine Kathedrale in Bologna sei „die Frucht eines Compromisses zwischen nordischer und südlicher Gothik". Der moderne Kompromissbegriff stand deutschen Sprechern also seit der Jahrhundertmitte für auch heute noch präsente Sprachspiele zur Verfügung, sei es in der Kunstgeschichte, der Poetik oder in der allgemeinen Geschichte, in der Historiker und Philologen nun Kompromisse im modernen Sinne selbst in Antike und Mittelalter entdeckten. Der als Begründer der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur geltende Schriftsteller Kurd Laßwitz konnte sich bei aller literarischen Phantasie auch nur ein Regierungssystem vorstellen, das auf Kompromissen beruhte. Er imaginierte in einem seiner Romane eine politische Ordnung auf dem Mars, die einen „Kompromiß zwischen Opposition und Regierung" kannte. Solche Stellen belegen, dass es nun zur Allgemeinbildung gehörte zu wissen, dass jeder Politiker gezwungen war, „sich in mühevollen Compromissen den weiteren Weg für die Fortentwicklung seiner Parteigrundsätze zu suchen". Denn ein Kompromiß, so lautete nun die primäre Bestimmung in den Konversationslexika, sei
„ein gegenseitiges Versprechen [...], daß zwei oder mehrere polit. oder gesetzgebende Faktoren (Parteien untereinander oder mit der Regierung) sich unter wechselseitigem Nachgeben über eine Angelegenheit verständigen".
Deshalb eröffneten sich hier Möglichkeiten der Konnotation negativer oder positiver Art. Ob man politische Kompromisse überhaupt schließen dürfe bzw. wie weit diese gehen sollten, blieb jeweils umstritten. Die Kritik an konkreten Kompromissen richtete sich dabei aber eher auf den Prozess oder das Resultat und seltener auf das Verfahren selbst. Gerade in diesem Streit zeigt sich die Normalisierung des Kompromissverfahrens, das schon in die Verfassung eingeschrieben war, wie Reichskanzler Bismarck den Abgeordneten gelegentlich ins Gedächtnis rief: „Keine Verfassung kann ohne Kompromiss existiren." Gerade dieser Kompromisszwang befeuerte allerdings den Streit um diese Ausgleichstechnik. So herrschte 1874 anlässlich der Verhandlung einer Militärvorlage „Verwunderung und Bestürzung in allen Kreisen[,] weil Bismarck [...] einen Compromiss mit den Gegnern einging". Schon 1877 sprach der liberale Schriftsteller Karl Gutzkow in seiner literarischen Abrechnung mit dem Bismarckstaat anklagend von den um sich greifenden „sogenannten Compromissen, am kürzesten als Streberthum zusammengefaßt, eine der gräulichsten Erscheinungen unserer Tage". Denn in jedem Lebensbereich schienen auf einmal Kompromisse auffindbar und unumgänglich zu sein: von der hohen Politik über die Wirtschaft bis hin zum Intimleben, denn – so konnte man im Kaiserreich erfahren – „[m]it einer Frau dauernd leben erforderte [...] ungezählte Kompromisse". Und besorgte Beobachter fragten, ob nicht auch der Staat selbst „ein meist jämmerliches Compromiss der verschiedenen öffentlichen Interessen" sei.
Kurzum, Kompromisse wurden allerorten eingeübt und politische Entscheidungsprozesse explizit als solche bezeichnet – sie waren also Teil der Selbstbeschreibung des politischen Systems. Dieses erzwang Kompromisse geradezu. Denn das komplexe Mehrebenensystem zwischen Gliedstaaten, dem Reich und den jeweiligen Verfassungsorganen führte dazu, dass die gegebenenfalls „streitenden Staaten" – wie der Staatsrechtler Paul Laband mit Blick auf den Bundesrat festhielt – „durch Compromiß oder durch irgend eine Form der Austräge ihren Zwist" entschieden. Sein Kollege Georg Jellinek pflichtete ihm bei, wenn er die „Idee" der „constitutionellen Monarchie" in einer „zusammenstimmenden Thätigkeit" von Parlament und Regierung erkannte, die sich in „der Wirklichkeit des politischen Lebens" in „Compromissen" ausdrücke. Der Historiker Friedrich Meinecke beobachtete diesen Wandel auch auf der Ebene der Gliedstaaten und beschrieb ihn mit Blick auf Bismarcks föderale Verfassungskonstruktion als einen Wechsel von einem Denken im „Entweder-Oder" hin zu einem „modern-realistischen Sowohl-Als-Auch".
Der Führer der katholischen Zentrumspartei, Ludwig Windthorst, war in diesem Sinne schon 1873 im Reichstag mit programmatischen Ausführungen zum politischen Kompromiss hervorgetreten, in denen er dieses Ausgleichsverfahren zugleich in Schutz nahm:
„Von gewisser Seite hat man dem Ausdruck ‚Kompromiß' eine übelschmeckende Bedeutung beilegen wollen. Das ist ganz verkehrt. Es handelt sich nicht von [sic] einem Vertrage, sondern es handelt sich von [sic] einem freiwilligen Entgegenkommen sich wechselseitig entgegenstehender Interessen, die hier im Hause ihre Vertreter haben; wenn man etwas erreichen will."
Die jeweiligen Parteivertreter müssten lernen, „Kompromiß zu machen, d. h. entgegenzukommen anderen auch berechtigten Anschauungen." Der politische Kompromiss im Sinne eines Ausgleichs zwischen den Interessen erschien ihm als ein wesentliches Kennzeichen des gesamten politischen Systems, das solche Kompromisse erfordere. Damit müsse aber auch die Anerkennung eines Interessenpluralismus einhergehen:
„Auf diesem Ausgleichen und Entgegenkommen beruhen überhaupt die Ordnungen parlamentarischer Verhältnisse, und ich glaube, wir haben in Deutschland Ursache, uns daran mehr zu gewöhnen uns wechselseitig mehr entgegen zu kommen und nicht vom doktrinären, absoluten Standpunkte aus, den politischen Gegner gleich umwerfen zu wollen. Ich halte also dafür, daß dieser Kompromiß so recht eigentlich eine durchaus zweckmäßige Bethätigung des ausgleichenden Sinnes ist, welcher im Parlamente liegen soll und welcher nach meinem Dafürhalten auf vielen andern Gebieten auch mit recht praktischem Erfolge hätte angewendet werden sollen."
Der Streit um den Gegensatz zwischen absoluten Prinzipien und Kompromissen, zwischen Ideal und Wirklichkeit, wie er sich erstmals deutlich in den Polemiken der Liberalen während der Bismarckära artikuliert hatte, ging mit der Verbreitung der Rede von politischen Kompromissen notwendig einher. Während die einen (bestimmte) Kompromisse bekämpften, hoben die anderen ihren besonderen Wert hervor. Ludwig Bamberger machte im Reichstag auf diesen semantischen Kampf aufmerksam, der sich im Zuge von Kompromissen ergeben konnte:
„Ich weiß, daß man von der einen Seite ein Doktrinär gescholten wird, in demselben Augenblick, wo man von der anderen Seite angegriffen wird mit der Beschuldigung, die Principien zu verletzen. Mir persönlich ist niemals wohler, als wenn ich so von beiden Seiten her attaquiert werde; dann weiß ich, daß ich mich so ziemlich in der richtigen Mitte befinde (Heiterkeit)."
Da jeder Kompromiss notwendig mit Nachteilen verbunden war, bestand immer die Gelegenheit, diejenigen, welche die jeweils ausgleichende Position vertraten, als prinzipienlose Wendehälse oder Verräter und die, welche für Prinzipientreue stritten, als Doktrinäre oder Radikale zu beschreiben. Diese Konstellation fand sich bereits bei der Spaltung der liberalen Bewegung und der Gründung der Nationalliberalen, wiederholte sich – wie noch zu zeigen ist – beim Revisionismusstreit in der Sozialdemokratie und tritt auch in der Gegenwart immer wieder auf, man denke etwa an die Konflikte zwischen „Fundis" und „Realos" bei den Grünen. Es handelt sich um grundsätzlich mit dem Kompromiss verknüpfte semantische Kämpfe.
Derartige Konfliktkonstellationen prägten offenbar auch die Frauenbewegung. Denn die Frauenrechtlerin Minna Bahnson hielt 1912 ein Plädoyer für einen Weg des Kompromisses und konstatierte: „Prinzipien sind gut als Schlagworte – sind gut in der Theorie, in der praktischen Arbeit sind sie unmöglich. Praktische Arbeit baut sich auf auf Kompromissen." Allein „Zugeständnisse" aller Seiten könnten auch die „Frauenstimmrechtsbewegung" zum politischen Erfolg führen.
Doch nicht alle Zeitgenossen wollten sich mit dem neuen Königsweg des Kompromisses abfinden. Antisemitische Weltanschauungsliteraten wie Houston Stewart Chamberlain polemisierten dagegen, dass „die eigentliche Politik aus einem ewigen Anpassen, aus einem ewigen Ausklügeln von Kompromissen" bestehe. Der Streit um den Sinn oder Unsinn von Kompromissen zeigte sich auch auf Ebene der Wahlkämpfe. Denn nach dem Auslaufen des sogenannten Sozialistengesetzes im Jahre 1890 etablierte sich bei den Parteien eine Praxis, Wahlbündnisse zu schließen und sich bei der Kandidatenaufstellung auf sogenannte „Kompromisskandidaten" für die Parlamente zu einigen. Diese Form der Kooperation führte in den 1890er Jahren zu einer Debatte in der Partei, die sich eigentlich in Fundamentalopposition zum bestehenden System befand: der Sozialdemokratie. Diese Oppositionshaltung hatte Wilhelm Liebknecht auf dem Kölner Parteitag von 1893 noch einmal unterstrichen: „Zur Kompromißfrage bemerke ich nur: Kompromisse sind Verrath, die ein Prinzip opfern. Zu verwerfen ist jeder Pakt mit einer anderen Partei, der unsere Genossen förmlich demoralisiren würde."
Anhand der sich in den Folgejahren entspinnenden Debatte lässt sich zeigen, wie auch die SPD auf den Weg des Kompromisses einschwenkte und damit nicht nur langsam in das parlamentarische System, sondern auch in eine Haltung der Anerkennung der Verfassung hineinwuchs. Dabei spielten insbesondere zwei führende Köpfe des Revisionsmusstreits der Jahrhundertwende eine Rolle, die Parteiintellektuellen Karl Kautsky und Eduard Bernstein. Die beiden lösten die Kontroverse bewusst aus und nutzten dafür vornehmlich das von Kautsky herausgegebene und redigierte Theorieorgan „Die Neue Zeit".
Im Dezember 1896 schrieb Kautsky an Bernstein, dass er für diese Zeitschrift einen Artikel des italienischen Sozialisten Giovanni Lerda, „der sich gegen jede Kompromißpolitik wendet, nur zu dem Zweck aufgenommen [habe], ihn zu bekämpfen". Bernstein sollte nun in einem Artikel Gegenargumente entfalten, um dadurch mitzuhelfen, die Sozialdemokratie auf den Kompromisspfad zu bringen. Kautsky entwarf deshalb zugleich einen Argumentationsgang, dem Bernstein folgen könne. Demnach war die SPD
„zu groß geworden, um bloße Demonstrationspartei bleiben zu können. Unsere Taktik muß sich ändern. Wir müssen die anderen Parteien und Klassen studiren (sie sind keine reaktionäre Masse), um gelegentlich mit der einen oder andern zu kooperiren. Wir brauchen die Komprommißpolitik."
Problematisch sei allerdings, dass die innerparteilichen Gegner einer solchen Taktik den gewohnten und identitätssichernden Weg der Dauer- oder Fundamentalopposition anbieten könnten. Kompromisspolitik dagegen sei „schwer" und verlange eine genaue Untersuchung „der thatsächlichen Verhältnisse, während die Nichtkomprommißpolitik mit Redensarten auskommt". Mit Kompromissen waren in diesem Zusammenhang vor allem die Wahlabsprachen bei der Kandidatenaufstellung für die Parlamente auf Landes- und Reichsebene gemeint. Die Partei werde „erst dann Bedeutung erlangen, wenn wir die Politik der Wahlkompromisse erlernen". Diese Praxis werde schon länger geübt, jetzt müsse die Partei sich auch offen dazu bekennen und sie zu einem expliziten Element ihres politischen Handelns machen.
Bernstein erklärte sich sofort bereit, den Artikel zu verfassen, da ihn das hier angesprochene Problem schon länger beschäftigte. In seiner Entgegnung auf Lerdas Vorschlag einer intransigenten Taktik der Sozialdemokratie verwarf Bernstein jeden Versuch, zum Zwecke der „Reinheit der Bewegung, die Abschwörung aller Kompromisse" zu empfehlen, als Irrweg. Denn von der deutschen Sozialdemokratie ließe sich doch selbst sagen: „[A]n ihrer Wiege stand der Kompromiß." Sie sei schließlich aus einem marxistischen und einem bürgerlich-demokratischen Strang hervorgegangen. Dies spiegele sich auch in der tatsächlichen Praxis bei Wahlen, wo man sich doch gemeinsam mit anderen Parteien auf Kandidaten einige, ohne dass die eigenen Interessen darunter litten. Man könne also nicht – wie Lerda behaupte – den Kompromiss als Verfahren überhaupt verwerfen:
„Generell über ihn abzuurtheilen ist Unsinn, wenngleich es möglich ist, Maximen über die Voraussetzungen aufzustellen, unter denen der Kompromiß gerechtfertigt oder geboten ist. Den Maßstab wird das Verhältnis des von ihm zu erwartenden Vortheils zum erstrebten Ziel und den möglichen Rückwirkungen auf die eigene Partei bieten."
Bernstein schlug deshalb eine Differenzierung vor und unterschied zwischen einem „Kompromiß der Grundsätze" und einem „Kompromiß der Aktion". Nur bei dem Ersteren sei Vorsicht geboten, der Zweite dagegen sei taktisch sinnvoll, nicht zuletzt, um bei Wahlen auf Landesebene erfolgreicher zu sein. So bildeten doch die Landesparlamente „heute die Schutzwälle der Reaktionsparteien, von denen aus diejenigen Schläge gegen die Arbeiterbewegung geführt werden, für die der Reichstag nicht zu haben ist". Mit seinem Artikel hatte Bernstein zentrale Argumente für eine Kompromisspolitik in die Debatte eingebracht und dabei auch differenzierend argumentiert, um die bisher eher ablehnende Haltung der Partei gegenüber jeder Art von Kompromissen zu überwinden.
Giovanni Lerda reagierte mit einem erneuten Artikel, den Kautsky und Bernstein aber für so substanzlos hielten, dass es sich nicht lohne, in einer Entgegnung „noch einmal für den Kompromiß eine Lanze zu brechen". Die Debatte war damit aber noch nicht beendet, denn im Vorfeld des preußischen Landtagswahlkampfs wurde das Thema der Kompromisse und deren Bedeutung erneut aktuell. Auf dem Hamburger Parteitag 1897 war auf Antrag eines Delegierten entschieden worden, dass für die anstehende Wahl zu gelten habe: „Kompromisse mit anderen Parteien dürfen nicht abgeschlossen werden." Diese Formulierung litt allerdings darunter, dass keineswegs klar war, was in diesem Fall unter einem Kompromiss zu verstehen sei. Kautsky nutzte diese Tatsache, um noch einmal ausdrücklich für seine Position zu werben und zu verdeutlichen, was mit dem Ausdruck gemeint sei.
Während der Parteitagsdebatte war nämlich unklar geblieben, ob das beschlossene Kompromissverbot nun bedeute, keinerlei Wahlabsprachen mit anderen Parteien zu treffen, oder ob dies erlaubt sei, wenn dadurch das größere Ziel erreicht werde, also „daß man gemeinsam mit Anderen die Junker niederstimmt". Durch das recht allgemein formulierte Verbot war also offengeblieben, welche Praxen der Kompromissbegriff genau abdeckte:
„Es klingt so hübsch: Keinen Kompromiß! Wer hätte nicht schon in sittlichem Eifer jeden Kompromiß mit Verachtung zurückgewiesen! Aber hier handelt es sich nicht um sittliche Entrüstung, sondern um genaue Abgrenzung, und da zeigt sich das so oft gebrauchte Wörtchen weniger verwendbar. Kompromisse dürfen nicht abgeschlossen werden. Was ist aber ein Kompromiß?"
Verantwortlich für die Begriffsverwirrung waren, so Kautsky, die „verfluchten Fremdwörter". Bisherige Beiträge zur Klärung des Begriffs hätten die Verwirrung leider nur noch gesteigert. Denn die Bedeutung wechsele zwischen „Vereinbarung" und „Verschacherung von Grundsätzen". Wie ließ sich bei solchen Unterschieden eine klare Linie finden? Kautsky blickte zurück in die Begriffsgeschichte und stellte einen semantischen Wandel vom Schiedsgericht zu einem modernen „Verfahren" fest, „bei dem man sich zu einem Nachtheil versteht, um einen Vortheil damit zu erkaufen". Dies sei aber genau das Verfahren, das die Sozialdemokratie auch bei ihren gelegentlichen Wahlbündnissen anwende. Deshalb „ist eigentlich jeder ein Kompromißler, der nicht dem Grundsatz huldigt: Alles oder nichts." Nach diesem Begriffsverständnis seien also zahlreiche Praxen, ja die gesamte Parteiarbeit ebenso wie „die ganze Betheiligung der revolutionären Sozialdemokratie am bürgerlichen Parlamentarismus ein Kompromiß". Bei einem solch weiten Verständnis werde der Begriff aber recht bald „ein uferloser". Deshalb sei die einzig sinnvolle Verwendung eine solche, die darunter eine Abmachung verstehe, die mit der Wahl des kleineren Übels einhergehe, um mittelfristig Vorteile zu erlangen. Kautsky warb also für begriffliche Klarheit und eine Kompromisspolitik, welche die Sozialdemokratie ja ohnehin schon vielerorts erfolgreich betreibe. Diese Debatte um den Kompromiss zeigt exemplarisch, wie sich die Sozialdemokratie langsam auf das politische System des Kaiserreichs einließ und wie vor allem die Revisionisten als Anwälte des Kompromisses auftraten.
In seiner für die Revisionismusdebatte zentralen Schrift über die „Voraussetzungen des Sozialismus" ging Eduard Bernstein schließlich noch einen Schritt weiter, indem er den Kompromiss nicht nur als unumgänglichen Weg beschrieb, um die Anliegen der Sozialdemokratie voranzutreiben, sondern indem er dieses Ausgleichsverfahren explizit mit der Demokratie verknüpfte. Im demokratischen Wettbewerb müssten alle Parteien zwar ihre Forderungen im Wahlkampf möglichst hoch spannen, um Anhänger zu gewinnen, aber sie lernten nach der Wahl bald die Grenzen ihrer Macht kennen. Deshalb sei die Demokratie „die Hochschule des Kompromisses". Die Kompromisse ließen sich schon in den Reichstagswahlkämpfen erlernen, denn das durch Bismarck eingeführte nationale Wahlrecht sei bereits „ein Stück Demokratie", das „wie ein Magnet" die noch fehlenden Elemente eines demokratisch-parlamentarischen Systems anziehen werde. Im revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie wurde damit – soweit erkennbar – erstmals das Kompromissverfahren nicht mehr allein mit dem monarchischen Konstitutionalismus verknüpft, sondern bereits als Vorgriff auf die parlamentarische Demokratie beschrieben. Tatsächlich erkannten Beobachter, dass in der Sozialdemokratie nun „Sozialreform und Kompromiß [...] auf der Tagesordnung" standen. Seitdem orientierte sich die Partei nicht nur in ihren Debatten, sondern auch in ihrer politischen Praxis zunehmend am „Handlungsmuster der Kooperation [...] mit den bürgerlichen Parteien und dem bürgerlichen-junkerlichen Staat", ohne allerdings ihren Charakter als Oppositionspartei ganz aufzugeben. Dieses Handlungsmuster war aber in den Debatten um den Kompromissbegriff während des Revisionsmusstreits semantisch vorbereitet worden.
Die innerhalb der Politik des Kaiserreichs zu beobachtende Verbreitung der Rede vom Kompromiss bildete schließlich den Hintergrund dafür, dass im Jahr 1908 gleich zwei soziologische Großdenker, nämlich Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, mit Überlegungen hierzu hervortraten und den Ausdruck damit in die Sphäre wissenschaftlicher Begriffsbildung hoben. Aus Simmels konfliktsoziologischer Perspektive war der Kompromiss „eine der größten Erfindungen der Menschheit", da er eine Beendigung von Streit ohne Gewalt und Kampf durch eine Art von Tauschgeschäft erlaube. Sozialharmonische Utopien einer konfliktlosen Gesellschaft, die demnach auch auf Kompromisse verzichten könne, hielt Simmel für unmöglich. Seine Deutung setzte also schon darauf, dass Streitparteien einsahen, nur relative Werte zu vertreten; wer seine Interessen absolut setze, verunmögliche Kompromisse und störe den sozialen Frieden.
Tönnies argumentierte in eine ähnliche Richtung, indem er feststellte, dass es für politische Parteien eine Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit bedeute, wenn sie sich „durch ihre ‚Prinzipien'" selbst behinderten und anderen Parteien „– vielleicht voreilig, und mehr im Eifer des Affektes, als aus politischem Verstande – jedes Recht zu leben überhaupt abgesprochen haben". Der Soziologe erkannte also, dass absolute Feindbegriffe, die den Gegner aus dem politischen System ausschlossen, einen Interessenausgleich zum Erhalt oder zur Herstellung innergesellschaftlichen Friedens unmöglich machten. Kompromisse aber waren für Tönnies „praktische Politik", die unumgänglich war, wolle man am politischen Leben wirksam partizipieren. Das politische System des Kaiserreichs erzog dem Soziologen zufolge die Parteien dazu, „ihre Kämpfe in milderen Formen zu führen", da sie „[i]nnerhalb der Parlamente [...] durch Geschäftsordnung und Gebräuche dazu gezwungen" wurden. Lediglich in Wahlkämpfen müsse man die Mitbewerber schlechter darstellen als sie tatsächlich seien, auf eine Zusammenarbeit nach der Wahl sei aber keineswegs zu verzichten. Ähnlich wie bei Bernstein war also auch bei Tönnies das politische System eine Schule kompromissförmigen Verhaltens. Sein Aufsatz lässt sich selbst als Versuch verstehen, der Öffentlichkeit die Notwendigkeit und den Nutzen politischer Kompromisse zu erläutern. Denn bereits die Parteien selbst seien Kompromissgebilde aus verschiedenen Zielen und müssten nun eben lernen, auch mit anderen Parteien zusammenzuarbeiten. Streit gebe es immer genug, weshalb alle Kompromisse nur „Waffenstillstände" seien, aber „Versöhnung und Ausgleich müssen wir erstreben – als Menschen nämlich gemäß unserer Vernunft. [...] Gönnen wir den Kompromissen ihre bescheidenen Erfolge."
Der Soziologe Max Weber knüpfte an die Postulate Simmels und Tönnies' an, als er 1918 davon sprach, dass die deutsche Gesellschaft den
„Kompromiß [benötigt], auf welchem in jedem Massenstaat mit starken, regionalen, sozialen, konfessionellen und anderen Gegensätzen der inneren Struktur unvermeidlich die Mehrzahl der Gesetze beruht".
Seine Fokussierung auf Kompromisse ging deshalb mit der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einher, die im Grunde die alte Debatte zwischen Ideal- und Realpolitik in ein neues semantisches Gewand kleidete.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass das politische Kompromisssystem des Kaiserreichs schließlich auch zu soziologischen Überlegungen führte. Denn der Kompromiss als Kennzeichen des Kaiserreichs konnte sogar zum Element eines gewissen Stolzes auf das eigene politische System avancieren. Verfassungshistoriker wie Otto Hintze und Fritz Hartung, die sich darum bemühten, das preußisch-deutsche Modell als konträr zu den parlamentarischen Systemen des Westens darzustellen, sahen gerade im Kompromiss ein positives Kennzeichen des Konstitutionalismus. Otto Hintze kam so in einem politischen Systemvergleich 1914 zu dem Ergebnis, ein Vorzug des deutschen Konstitutionalismus liege darin, dass die „monarchisch-konstitutionelle Regierung [...] sich in Kompromissen" fortbewege, während hingegen im englischen Parlamentarismus die „gegenseitige Ablösung der Parteistandpunkte" vorherrsche. Hintze stemmte sich mit seiner Analyse gegen „die Tendenz zur fortschreitenden Demokratisierung" und den „allein seligmachenden Parlamentarismus", gerade weil er das auf Ausgleich bedachte und eingestellte System des Konstitutionalismus für angemessener hielt, um gesellschaftliche Konflikte zu entschärfen und politische Kontinuität zu wahren. Fritz Hartung sah das ganz ähnlich, wenn er betonte, dass
„auch bei uns Regierung und Parlament zusammenarbeiten [mussten], wenn etwas Gedeihliches zustande kommen sollte; aber diese Arbeit vollzog sich nicht, indem sich der eine Teil dem andern unterordnete, sondern auf dem Wege der Kompromisse".
Der Kompromiss sei die „normale Form der politischen Entscheidung" im Kaiserreich gewesen, weshalb es sich um „ein dynamisches" System gehandelt habe, „dessen Einstellung je nach dem Gewicht wechselte, das die beiden Faktoren [Regierung und Parlament] in die Waagschale zu legen wissen".
Verschiedene Akteure betonten also immer wieder den Kompromisszwang des politischen Systems im Kaiserreich. Aber die Hoffnung auf eine Demokratisierung qua Wahlrecht und Kompromiss, wie sie Bernsteins Magnettheorie 1899 antizipierte, sollte sich erst unter dem Druck des Krieges in der Parteienkooperation ab 1917 und schließlich der Oktoberreform 1918 erfüllen, als das Reich sich in eine parlamentarische Monarchie verwandelte. Doch diese Maßnahmen konnten nicht mehr dazu beitragen, die Revolution zu verhindern. In der Weimarer Republik wurden schließlich Demokratie und Kompromiss explizit miteinander verbunden. Diese Verknüpfung bewegte sich auf einer gedanklichen Linie, die von Ferdinand Tönnies über Georg Simmel und Eduard Bernstein zu Max Weber und Hans Kelsen führte. Denn der Verfassungsrechtler Kelsen war es, der in der Weimarer Republik nicht müde wurde, Kompromisse zu einem Kennzeichen demokratischer Systeme zu erklären. Es obliegt weiteren Studien zu eruieren, welche Entwicklung die hiermit erreichte Koppelung des Kompromissbegriffs an die Demokratie im 20. Jahrhundert nahm.
In der Gegenwart erscheint der Kompromissbegriff unabdingbar mit der Demokratie verknüpft oder aber mindestens als Voraussetzung einer funktionierenden Demokratiekultur. Es handelt sich um eine Selbstdeutungsformel des politischen Systems. Die begriffsgeschichtliche Analyse zeigt jedoch, dass das „compromissum" in der alteuropäischen Semantik ein Schiedsgerichtsverfahren bezeichnete, während hingegen ein Kompromiss im modernen Sinne in der politischen Kultur als legitime Form des Interessenausgleichs keine Rolle spielte. Im deutschen Sprachraum gewann der Begriff erst mit dem Aufstieg des dualistisch geprägten, monarchischen Konstitutionalismus während der Sattelzeit eine politisch-soziale Bedeutung, die schließlich die rein rechtliche überlagerte. Dieser Verfassungstypus erweist sich mit Blick auf die demokratischen Aufbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einmal mehr als eine „Übergangsform". Im Kaiserreich war der Kompromissbegriff vollends etabliert und auch die aus dem politischen System ausgegrenzten Sozialdemokraten überdachten in ihren Verhandlungen um diese Ausgleichstechnik ihre fundamentaloppositionelle Haltung. Im Kontext dieser Debatten wurde der moderne Kompromissbegriff auch erstmals als Erwartungsbegriff explizit mit der Demokratie verknüpft. Seinen Aufstieg in der politischen Sprache aber nahm er unter den Bedingungen des monarchischen Konstitutionalismus. Wenn Politik und Gesellschaft des Kaiserreichs durch eine Gleichzeitigkeit von „demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung" gekennzeichnet waren, so lässt sich anhand der Bedeutungsgeschichte von „Kompromiss" zeigen, dass sie Teil der Lernprozesse gewesen ist, an die in der Weimarer Republik angeschlossen werden konnte. Wie erfolgreich diese Lernprozesse waren, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Weitere Studien müssten eruieren, welche Rolle der Begriff in der Weimarer Republik, dem „Dritten Reich" und schließlich in den beiden deutschen Staaten Bundesrepublik und DDR spielte.
In gewisser Hinsicht lässt sich dieser Ausdruck – so viel macht diese Studie deutlich – als ein „Grundbegriff" verstehen, der zunehmend unverzichtbar, aber zugleich – vor allem hinsichtlich konkreter Prozesse und Resultate – umstritten war. Der „Kompromiss" bildet damit eine derjenigen Sonden, mittels derer die Entwicklung politischer und demokratischer Kultur im Längsschnitt untersucht werden kann, um der Gegenwart historische Aufklärung über politische Sprachen zu geben. Im Anschluss an die hier vorgelegte Untersuchung können vor allem Detailstudien zur sprachlichen Herstellung von Kompromissen und des damit zusammenhängenden Kompromissvokabulars dabei helfen, die Ergebnisse zu differenzieren und ein genaueres Bild zu zeichnen. Insbesondere konkrete Wege der Suche nach Kompromissen vom 19. Jahrhundert bis in die gegenwartsnahe Zeitgeschichte können dazu beitragen, die hier vorgelegten Befunde auszuweiten und aus dieser Perspektive die Problemgeschichte der Demokratisierung Deutschlands neu zu betrachten.
In unserer Gegenwart gilt Kompromissfähigkeit als zentrale demokratische Tugend und Politiker, Journalisten und die Wissenschaften sprechen gerne und viel über Demokratie und Kompromiss. Ausgehend von dieser Beobachtung widmet sich der Aufsatz einer historisch-semantischen Rekonstruktion des Kompromissbegriffs und fragt danach, wann und unter welchen Umständen sein Aufstieg in der politisch-sozialen Sprache Deutschlands begann. Die Untersuchung macht deutlich, dass der Kompromiss – verstanden als Schiedsgerichtsverfahren – eine lange Tradition alteuropäischer Begrifflichkeit aufweist und in Deutschland erst im Kontext der Sattelzeit eine neue Bedeutung annahm, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Die Studie verfolgt die Konjunkturen und argumentativen Muster, die mit diesem Begriff von der 1848er Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs verknüpft wurden. Dabei zeigt sich, dass der Begriff vom monarchischen Konstitutionalismus auf die Demokratie übertragen worden ist.
By Sebastian Rojek
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