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Christine G. Krüger, „Die Scylla und Charybdis der socialen Frage". Urbane Sicherheitsentwürfe in Hamburg und London (1880–1900). Bonn, Dietz Nachf. 2022.

Renglet, Antoine
In: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-06-01), Heft 3, S. 773-775
Online review

Christine G. Krüger, „Die Scylla und Charybdis der socialen Frage". Urbane Sicherheitsentwürfe in Hamburg und London (1880–1900). Bonn, Dietz Nachf. 2022 

Christine G. Krüger, „Die Scylla und Charybdis der socialen Frage". Urbane Sicherheitsentwürfe in Hamburg und London (1880–1900). 2022 J. H. W. Dietz Nachf. Bonn, 978-3-8012-0634-5, € 22,–

Das Buch von Christine G. Krüger stellt einen wichtigen Beitrag zu den „Security Studies" dar, die sich in den letzten zehn Jahren sehr dynamisch entwickelt haben. Eines der größten Verdienste der vorliegenden Monografie ist sicher darin zu finden, dass sie eine vergleichende und zugleich verbundene Analyse von Sicherheitsreaktionen vorschlägt, die in zwei bedeutenden europäischen Hafenstädten des späten 19. Jahrhunderts, London und Hamburg, auf Arbeiterproteste sowie Demonstrationen erfolgten. Zwischen 1880 und 1900 kennzeichnete beide Metropolen ein ähnliches wirtschaftliches Wachstum, jedoch in von unterschiedlichen sozialen Krisen geprägten Zusammenhängen, die zur Herausbildung wiederum unterschiedlicher Sicherheitskulturen beitrugen. Indem sich Krüger nun diesen beiden Untersuchungsaspekten zuwendet und sich in ihrer Analyse vorwiegend auf Quellen aus Polizeiarchiven sowie der Presse stützt, schlägt die Verfasserin eine Brücke zwischen zwei Sicherheitskulturen, die lange Zeit von den nationalen Historiografien dominiert und gegeneinander abgegrenzt worden sind. Während viele Studien die Rolle der Territorialität und der städtischen Gemeinschaften oft zugunsten der nationalen und staatlichen Logik übersehen, zeichnet sich Krügers Buch besonders dadurch aus, dass es gerade diese Transformationen von Sicherheitsinstitutionen sowie -praktiken in einen städtischen Kontext setzt.

Um nun zu verstehen, wie die städtische Sicherheitspolitik im späten 19. Jahrhundert durch Proteste und Streiks beeinflusst wurde, schlägt Krüger einen zweifachen Ansatz vor. Im ersten Teil untersucht sie, wie sich soziale und politische Gruppierungen (Unternehmer, Arbeiter usw.) während der Streiks äußerten, wie sie die Bedrohung durch die Proteste wahrnahmen und wie sie daran mitwirkten, Sicherheitsmaßnahmen zu entwickeln. Selbst die prekären sozialen Gruppen – in beiden Fällen waren dies die Arbeiter – konnten sich für Sicherheitskonzepte starkmachen, da sie sich Situationen ausgesetzt sahen, die sie selbst unmittelbar als Bedrohung wahrnahmen. Dass Proteste soziale Hierarchien infrage stellen konnten, betrachtete man daher als eine Quelle der Unsicherheit, sei es durch das Eingreifen von Streikbrechern oder durch Frauenproteste, die von einigen Arbeitern nämlich als Bedrohung der öffentlichen wie auch der Familienordnung angesehen wurden. Umgekehrt fühlten sich die bürgerlichen Schichten wiederum von der Männlichkeit bedroht und angegriffen, da diese einer Gefügigmachung der Arbeiter im Wege stand und zugleich die latente Gefahr barg, die bestehende soziale Ordnung zum Einsutrz zu bringen. Dieses Kapitel weist auch darauf hin, dass die Vertiefung städtischer Segregation als Sicherheitsreaktion auf die sozialen Proteste zu lesen sei. In Hamburg schien dies zwar stärker ausgeprägt gewesen zu sein als in London, doch trug dieses Phänomen in beiden Städten gleichermaßen dazu bei, dass im städtischen Raum die sicheren Orte von den gefährlichen unterschieden werden konnten.

Im zweiten Teil untersucht Krüger dann, wie die herrschenden Klassen als Reaktion auf die sozialen Proteste das Sicherheitswissen sowie die Sicherheitspraktiken beeinflussten. Die Polizei erntete nach ihren Versuchen, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen, nicht nur von Seiten der Arbeiter Kritik, sondern auch von jenen Teilen des Bürgertums, die auf Dialog und nicht auf gewaltsame Unterdrückung der Demonstrationen setzten. Die Maßlosigkeit der Repressionen führte zu einer Formalisierung des Sicherheitsverständnisses, das sich nun in Konkurrenz zu den von den Sozialreformern vertretenen Konzepten wiederfand. Krüger zeigt, dass die Repressionen im politischen Diskurs in Hamburg allerdings viel präsenter waren als in London; hier schien man dem Dialog einen größeren Platz einzuräumen. Analog nahm das Bürgertum im Kaiserreich die Gewerkschaften auch als eine viel größere Bedrohung wahr, als sich dies in England beobachten ließ.

Dieser zweifache Ansatz verweist nun nachdrücklich darauf, dass Sicherheit ein Phänomen von Aushandlungen und damit das Ergebnis einer Ko-Konstruktion war. Obwohl Bürgertum und Proletariat ein gemeinsames Bedürfnis nach Sicherheit formulierten, hatten sie sowohl in London als auch in Hamburg ein jeweils unterschiedliches Interesse an ihr. Für die herrschenden Klassen fand sie vor allem in der öffentlichen Sicherheit ihren Niederschlag wie auch in der wirtschaftlichen Stabilität, die freilich durch Streiks bedroht wurde. Für die Arbeiter hingegen bedeutete Sicherheit den Zugang zu einem höheren sozialen Status und die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Christine G. Krügers Buch verweist zurecht darauf, dass diese beiden Konzepte durchaus miteinander vereinbar waren und vor dem Hintergrund der großen Streiks Ende des 19. Jahrhunderts sich sogar derart ineinanderschoben, dass sie tiefgreifende Veränderungen in der Polizeipraxis herbeiführten und soziale Barrieren einrissen, indem sie den nationalen Zusammenhalt stärkten.

(Aus dem Englischen von Roland Cvetkovski)

By Antoine Renglet

Reported by Author

Titel:
Christine G. Krüger, „Die Scylla und Charybdis der socialen Frage". Urbane Sicherheitsentwürfe in Hamburg und London (1880–1900). Bonn, Dietz Nachf. 2022.
Autor/in / Beteiligte Person: Renglet, Antoine
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-06-01), Heft 3, S. 773-775
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2023-1181
Schlagwort:
  • "DIE Scylla und Charybdis der socialen Frage": Urbane Sicherheitsentwurfe in Hamburg und London (1880-1900) (Book)
  • KRUGER, Christine G.
  • SCYLLA & Charybdis (Greek mythology)
  • GREEK mythology
  • NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Université catholique de Louvain / UC Louvain, Centre d'histoire du droit et de la justice, Louvain-la-Neuve,, 1348, Belgium.
  • Full Text Word Count: 726

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