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Shelly Kupferberg, Isidor. Ein jüdisches Leben. Zürich, Diogenes 2022.

Königseder, Angelika
In: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-06-01), Heft 3, S. 775-777
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Shelly Kupferberg, Isidor. Ein jüdisches Leben. Zürich, Diogenes 2022 

Shelly Kupferberg, Isidor. Ein jüdisches Leben. 2022 Diogenes Verlag Zürich, 978-3-257-07206-8, € 24,–

Ein mit rotem Samt ausgelegter Besteckkasten mit einer Silbergarnitur für 24 Personen im Tel Aviver Haushalt ihrer Großeltern – das ist die einzige materielle Hinterlassenschaft, auf die die Journalistin Shelly Kupferberg bei der Suche nach den Spuren ihres Urgroßonkels Isidor stößt. Seine Schwester hatte das Besteck bei ihrer Emigration nach Palästina aus Wien mitgebracht, um ein Erinnerungsstück an ihren Bruder zu bewahren.

Isidor, damals noch Israel, Geller wuchs mit vier Geschwistern als Sohn eines orthodoxen Talmudgelehrten in einem galizischen Schtetl auf. Nach dem Besuch des Cheder wechselte der wissbegierige Junge an die deutsch-jüdische Schule in Tłumacz und legte sein Abitur in der Kleinstadt Kolomea ab. Ein Zurück ins Schtetl war für Isidor undenkbar; es zog ihn 1908 nach Wien. Die Weltläufigkeit und insbesondere das kulturelle Leben der Stadt hatten es ihm angetan. Isidor entschied sich für ein Studium der Jurisprudenz, das er 1913 mit einer Promotion abschloss. Er machte rasch im Ledergroßhandel Karriere. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er Direktor der dem k.u.k. Kriegsministerium unterstehenden „Häute- und Lederzentrale AG", was ihm einen Fronteinsatz ersparte. Außerdem verschaffte ihm seine Position die Möglichkeit, auf dem Schwarzmarkt offenbar lukrative Geschäfte zu tätigen. Bei Kriegsende sei ihr Urgroßonkel „steinreich" und ein „gemachter Mann" gewesen (S. 73), so Kupferberg.

Als er 1922 den Titel eines Kommerzialrats erhielt, fühlte er sich in der Wiener High Society angekommen. Ihr Urgroßonkel sei ein „Dandy" gewesen, „voller Stolz" auf seinen gelungenen Aufstieg (S. 9). Er führte eine erfolgreiche Kanzlei, war Mitglied von Herrenklubs, ständiger Gast in den Wiener Opernhäusern und fuhr in die Sommerfrische – nicht nur um sich zu erholen, sondern um zu sehen und gesehen zu werden. Im Stadtpalais des Freiherrn Eugène de Rothschild mietete er 1928 zehn Zimmer in der Beletage, die er mit edlem Mobiliar ausstattete. Regelmäßig richtete er dort große Bankette aus.

Vom orthodox geprägten Schtetl hatte sich Isidor weit entfernt. Er sah sich „als emanzipierten, assimilierten Juden" (S. 99), für den Religion eine Privatsache war. Mit dem in Wien omnipräsenten Antisemitismus meinte er, sich arrangieren zu können, wohl auch in der Annahme, dass ein Mann mit seinem Stand und Vermögen davon wenig betroffen sei. Für die zionistische Idee hatte er gar nichts übrig, schon weil ihm ein Leben außerhalb der von ihm so geliebten Kulturmetropole Wien unvorstellbar schien.

Folglich verschloss er auch die Augen vor der drohenden Gefahr, die ihm nach dem „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich drohte. Bereits einen Tag nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 12. März 1938 nahm die Gestapo Isidor Geller in „Schutzhaft". Drei Monate lang ertrug er alle Misshandlungen, bevor er nahezu sein gesamtes Vermögen den neuen Machthabern überschrieb. Gebrochen und an einer Blutvergiftung leidend, durfte er in seine Wohnung zurückkehren. Für eine Auswanderung – treffender wohl für eine Flucht – reichte seine Kraft nicht mehr. Am 17. November 1938 starb Isidor Geller im Alter von 52 Jahren in Wien.

Aus den ellenlangen Aufstellungen seines großen Vermögens, die Kupferberg im Österreichischen Staatsarchiv einsehen konnte, ist nur der Besteckkasten geblieben. „Alles verschwunden. Beschlagnahmt. Gestohlen. Geraubt. Ein Mensch wurde ausgelöscht – zunächst materiell, dann physisch. So war es der Plan der Nazis, und so wurde es millionenfach praktiziert", fasst Kupferberg das Verbrechen zusammen (S. 223 f.).

Die Autorin beschränkt sich jedoch nicht auf die Spurensuche ihres Urgroßonkels, sondern schildert auch ausführlich die Geschichte von Isidors Eltern und Geschwistern, insbesondere seines Neffen, des späteren Historikers Walter Grab, sowie seiner Liebhaberin Ilona Hajmássy, die in Hollywood Karriere machte. Vermutlich ist dies der schwierigen Quellenlage geschuldet (der sie an anderen Stellen durch fiktive Passagen gerecht zu werden versucht), aber auf diese Weise gelingt es ihr, viele Aspekte des Lebens einer jüdischen Familie in Wien einzufangen. Die entwürdigende Entrechtung nach dem „Anschluss", das quälende Bemühen um eine Möglichkeit zur Flucht, schließlich die Deportation von Angehörigen, aber auch der am Nachkriegsantisemitismus in Wien gescheiterte Versuch von Isidors Neffen Walter Grab, 1956 aus Israel nach Wien zurückzukehren, zeigen eindrücklich das Schicksal einer jüdischen Familie im 20. Jahrhundert.

By Angelika Königseder

Reported by Author

Titel:
Shelly Kupferberg, Isidor. Ein jüdisches Leben. Zürich, Diogenes 2022.
Autor/in / Beteiligte Person: Königseder, Angelika
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-06-01), Heft 3, S. 775-777
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2023-1182
Schlagwort:
  • ISIDOR: Ein judisches Leben (Book)
  • KUPFERBERG, Shelly
  • JEWISH way of life
  • MINHAGIM
  • NONFICTION
  • Subjects: ISIDOR: Ein judisches Leben (Book) KUPFERBERG, Shelly JEWISH way of life MINHAGIM NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = TU Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin,, 10553, Germany.
  • Full Text Word Count: 684

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