Sven Oliver Müller, Gewaltgemeinschaften? Studien zur Gewaltgeschichte im und nach dem Ersten Weltkrieg. Krieg und Konflikt, Bd. 12. 2021 Campus Verlag GmbH Frankfurt am Main, 978-3-593-51344-7, € 45,–
Der Sammelband ging aus einer Tagung der Universität Potsdam und der Gerda-Henkel-Stiftung hervor. Der Begriff „Gewaltgemeinschaften" bindet die Aufsätze thematisch, der Erste Weltkrieg zeitlich zusammen. Eingerahmt wird das Buch von einleitenden Überlegungen des Tübinger Historikers Sven Oliver Müller und der Potsdamer Historikerin Christin Pschichholz sowie abschließenden konzeptionellen Anmerkungen des Militärhistorikers Jörg Echternkamp.
Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist ein sehr guter, konzeptionell weitgehend überzeugender Sammelband, in dem die Autorinnen und Autoren in neun Fallstudien den heuristischen Nutzen des Begriffs testen. Pschichholz und Müller definieren Gewaltgemeinschaften als Gruppen, die sich zur Ausübung oder Androhung von Gewalt formieren oder die durch die gemeinsame Ausübung von Gewalt zusammengehalten werden. Einige Beiträge schließen staatliche Organisationen ein, die auf Dauer angelegt sind wie Armee und Polizei, andere schließen sie aus. Die Autorinnen und Autoren interessiert weniger, warum Gewalt stattfindet. Sie sind vielmehr daran interessiert zu untersuchen, wie Gewalt verläuft und wie sie zur Gruppenbildung beiträgt. Die Aufsätze untersuchen kollektive Gewalt, reflektieren über den Raum, in dem diese Gewalt ausgeübt wird, und gehen der Rolle von Emotionen bei und nach der Gewaltausübung nach.
Die ersten vier Beiträge beschäftigen sich mit dem Ersten Weltkrieg. Peter Lieb vergleicht die Aktivitäten des deutschen Militärs im besetzten Baltikum und in der besetzten Ukraine und kommt zum Schluss, dass sich keine klaren Kontinuitätslinien zur Besatzungspraxis im Zweiten Weltkrieg ziehen lassen. Während Lieb die deutschen Besatzungstruppen und die Freikorps als Gewaltgemeinschaften identifiziert, engagiert sich Christin Pschichholz nur indirekt mit dem Konzept. Sie zeigt, dass die deutschen Militärberater im Osmanischen Reich den Genozid an den Armeniern zwar wahrnahmen, die türkischen Maßnahmen aber ausschließlich in ihrer Bedeutung für die Kriegführung bewerteten. Noch weiter entfernt sich Matthew Stibbe vom Konzept der Gewaltgemeinschaft, der die (staatliche) Gewalt gegen zu Arbeit gezwungene Zivilisten im besetzten Nordfrankreich mit den Maßnahmen gegen als arbeitsscheu klassifizierte marginalisierte Gruppen in Bayern vergleicht. In beiden Kontexten rechtfertigte die Staatsmacht die Zwangsmaßnahmen mit Bezug auf das Konzept von „deutscher Arbeit". Weder die zivilen französischen Zwangsarbeiter noch die marginalisierten Gruppen in Bayern erfüllten die Erwartungen, gute „deutsche Arbeit" zu leisten.
Sven Oliver Müller untersucht die Rolle von Emotionen bei der Formierung von Gewaltgemeinschaften und bei der Ausübung von Gewalt. Er zeigt, wie Nachrichten über deutsche Kriegsverbrechen, die Versenkung der Lusitania und die Erfahrung der Zeppelinangriffe auf London zur Formierung von Gewaltgemeinschaften führten, die deutsche Einwanderer angriffen. Gefühle der Unsicherheit, Angst, Wut und der Wunsch nach Rache führten zum kollektiven Gewalthandeln.
Die folgenden fünf Aufsätze beschäftigen sich mit den Folgen der Kriegserfahrungen und der Formierung von Gewaltgemeinschaften bis etwa 1934. Jörg Nagler untersucht Gewaltexzesse in den Vereinigten Staaten und unterstreicht die Rolle von Kriegsveteranen sowohl auf Seite der weißen Täter als auch auf Seite der schwarzen Bevölkerung. Die Angst der Weißen vor einem Aufstand wurde zum Teil durch das gewachsene Selbstbewusstsein schwarzer Kriegsveteranen gespeist.
Wim Klinkert zeigt am Beispiel der Niederlande, dass Gewaltgemeinschaften nicht unbedingt auf direkte Kriegserfahrung zurückzuführen sind. Die Formierung von Gewaltgemeinschaften folgte hier verwandten Mustern und wurde von ähnlichen Ideologien informiert wie in den Nachbarländern.
Drei Beiträge beschäftigen sich mit Gewalt in der Weimarer Republik. Florian J. Schreiner führt die Gewaltbereitschaft deutscher Studenten auf die Weltkriegserfahrungen zurück und Sebastian Elsbach betont, dass es bei der Gewalt der Wehrverbände nicht um die Macht im Staat, sondern um die Dominanz innerhalb eines politischen Milieus und um die Macht auf der Straße ging. Den Wert von Prozessakten als Quelle zeigt der Beitrag von Ulrike Jureit, die Pogromgewalt in der fränkischen Kleinstadt Gunzenhausen untersucht. Wie Jörg Echternkamp in seinem Nachwort unterstreicht, leuchten die Beiträge die Handlungsspielräume aus und zeigen, dass das Gewalthandeln auf individuelle Entscheidungen zurückgeht. Die Existenz von Gewaltgemeinschaften reduziert nicht die Verantwortung der Akteure. Obwohl sich nicht alle Autoren und Autorinnen gleich intensiv mit dem Konzept von Gewaltgemeinschaften auseinandersetzen, ist der Band doch ein wichtiger Beitrag zur historischen Gewaltforschung. Alle Beiträge basieren auf originaler Forschung und sind auch für sich allein genommen lesenswert.
By Christoph Mick
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