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Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. München, Beck 2019.

Pietrow-Ennker, Bianka
In: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-06-01), Heft 3, S. 795-798
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Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. München, Beck 2019 

Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. 2019 C. H. Beck München, 978-3-406-73531-8, € 26,95

Der Krieg um Interessensphären ist trotz der bitteren Lehren der Geschichte wieder nach Europa zurückgekehrt. Die unter dem Regime von Vladimir Putin initiierten Aggressionen gegen souveräne Anrainerstaaten der Russländischen Föderation, insbesondere gegen die Ukraine, fordern auf zurückzublicken und sich dem Thema der Aufteilung Osteuropas zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion 1939 zuzuwenden. Der 80. Jahrestag des sogenannten „Hitler-Stalin-Paktes" vom 23. August 1939 mag einen zusätzlichen Impuls für die vorliegende Studie gegeben haben. Zu diesem Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag gehörte das geheime Zusatzprotokoll, in dem beide Diktaturen ihre Interessensphären „von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer" festlegten. Dieses Abkommen verschaffte dem NS-Regime, das seit Frühjahr 1939 die Eroberung Polens vorbereitete, einen freien Rücken und ermöglichte den deutschen Angriff auf Polen am 1. September sowie später auch den siegreichen Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Westfeldzug. Aufgrund der deutsch-sowjetischen Verständigung marschierte die Rote Armee am 17. September 1939 in das östliche Polen ein. Eine tiefgreifende, gezielt gegen die Westmächte gerichtete Zusammenarbeit begann, zu der die Teilung Polens und der am 28. September abgeschlossene Grenz- und Freundschaftsvertrag ebenso zählten wie bedeutende Wirtschaftsabkommen, die die Kriegführung Deutschlands gegen die Alliierten wesentlich unterstützten.

Claudia Weber erzählt ausführlich die Vorgeschichte des „Paktes", skizziert dann die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und legt besonderes Gewicht auf die im Vertraulichen Zusatzprotokoll des Grenz- und Freundschaftsvertrags aufgenommene Umsiedlung Reichsdeutscher und Deutschstämmiger. Diese Schwerpunktsetzung auf die Tätigkeit der deutsch-sowjetischen Umsiedlungskommandos erfolgt detailliert und ergänzt den Forschungsstand anhand deutscher Archivbestände. Aufschlussreich sind u. a. zeitgenössische Aufzeichnungen, die Auskunft darüber geben, wie peinlich es der sowjetischen Seite war, dass sich nicht nur riesige Menschenmengen von „Volksdeutschen" vor den Umsiedlungsbüros versammelten, sondern auch Massen ukrainischer und weißrussischer Umsiedlungswilliger. Dies widersprach der sowjetischen Propaganda, dass die Rote Armee als „Befreier" ihrer ukrainischen und weißrussischen „Brüder" nach Ostpolen einmarschiert sei. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer hatten für sich in dem damaligen kurzzeitigen proukrainischen Kurs des NS-Regimes eine Chance gesehen, was sich jedoch als Trugschluss erwies. Sie wurden zu Opfern des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes, wenn sie an ihrer Kollaboration oder Flucht scheiterten. Aus den Unterlagen der Umsiedlungskommissionen geht auch hervor, dass Abertausende von Juden betroffen waren: diejenigen, die ihre Rettung vom stalinistischen Regime erhofften, und andere, die aus der Sowjetunion in die deutsche Interessensphäre abgeschoben wurden. Für alle Umsiedlergruppen waren die Bedingungen katastrophal. Es fehlte im sowjetisch besetzten Teil Polens im strengen Winter 1939/40 an allem, was das Überleben sichern konnte, von Unterkünften über Nahrung bis hin zu Transportmitteln; zahllose Todesfälle durch Verhungern und Erfrieren waren die Folge. Diese wichtigen Ausführungen Claudia Webers zu den Umsiedlungsaktionen und zur Tätigkeit der deutsch-sowjetischen Flüchtlingskommission 1940 folgen der Erkenntnis, dass beide Seiten damals ideologische Feindschaften in den Hintergrund treten ließen, aber „eine Bereitschaft zur Gewalt und zum Terror" teilten (S. 122).

Diese Feststellung ist nicht neu und durchzieht viele wissenschaftliche Arbeiten zum Thema der deutsch-sowjetischen Kooperation. Insgesamt kann man von einem vorzüglichen internationalen Forschungsstand ausgehen, der zum einen die deutsch-sowjetischen Beziehungen tiefgehend darstellt und analysiert und zum anderen in den Kontext der internationalen Politik, darunter auch der der kommunistischen Weltbewegung, einbettet. Dieser Forschungsstand spiegelt sich aber weder in der Literaturliste noch in den Ausführungen des vorliegenden Buches. Zu erklären, dass die Thematik des Hitler-Stalin-Paktes als „osteuropäische Angelegenheit" marginalisiert worden sei, ist schlichtweg nicht zutreffend. Noch viel weniger liegen dem Buch die voluminösen Quellensammlungen zugrunde: angefangen von den ADAP über die DVP bis hin zu den umfangreichen Dokumentenbänden, deren Publikation seit der Umbruchszeit in Russland und auch Deutschland möglich geworden sind (Akten zur deutschen auswärtigen Politik, aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, Serie C, Göttingen 1971 ff.; Serie D. Baden-Baden u. a. 1950 ff. Ferner: Dokumenty vnešnej politiki SSSR, hrsg. v. Ministerstvo Inostrannych Del Rossijskoj Federacii, Bde. 1939–1940/22 ijunja 1941. Moskau 1992 ff.; dann S. Kudrjašov (Ed.), SSSR-Germanija 1933–1941. Vestnik archiva presidenta Rossijskoj Federacii. Moskau 2009). Stattdessen dient ein schmales Werk als maßgeblicher Fundort für Quellen, die anderswo längst im Original zitiert wurden (K. Pätzold/G. Rosenberg (Hrsg.), Sowjetstern und Hakenkreuz 1938–1941. Dokumente zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Berlin 1990). Angesichts der Entwicklung der Quelleneditionen scheint das Buch von Claudia Weber eher für den Markt als für die Wissenschaft verfasst worden zu sein, sieht man einmal von dem Thema der Umsiedlung ab. Denn wie ist es anders zu erklären, dass die Edition, die Tausende von neuen, meist ungedruckten Quellen aus deutschen und russischen Archiven zur deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit von 1933 bis 1941 mit ausführlichsten Annotationen umfasst und zurzeit in zwei Bänden vorliegt – die anderen beiden sind bald zu erwarten –, übersehen wurde? (S. Slutsch/C. Tischler (Hrsg.), Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. 2 Bde. München 2014 ff.)

Claudia Weber beklagt wiederholt einen mangelnden Forschungsstand, der nur so kläglich erscheint, weil sie ihn äußerst selektiv wahrnimmt. Zur Darstellung und Interpretation der deutsch-sowjetischen Beziehungen scheut sie sich nicht, kursorisch Fachliteratur aus den 1950er Jahren heranzuziehen, die umfassenden Werke aber, die danach im Laufe der Jahrzehnte auf immer breiterer Quellenbasis publiziert wurden, fehlen oder sind in der Regel nur punktuell und ohne Kontexte ausgewertet. Dadurch findet auch keine Diskussion der Forschungsaspekte statt, die bisher die andauernde Debatte in der Geschichtswissenschaft bestimmen. Sie betrifft vor allem die Fragen, ob es für die Sowjetunion im Sommer 1939 eine Alternative zur Partnerschaft mit Deutschland gab, welchen Charakter diese für das Stalinregime hatte und welche strategischen Kriegsziele Stalin verfolgte. Dort, wo die Leserschaft Aufklärung erwartet, scheut sich Claudia Weber nicht, Memoirenliteratur ohne jede Quellenkritik heranzuziehen und sie als Analyse auszugeben. Dies ist besonders im Fall der aufgezeichneten Interviews mit einem von Stalins engsten Vertrauten, Vjačeslav M. Molotov, damals Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, zu beklagen, der als Greis das Bedürfnis hatte, Stalins wie auch seine eigene Politik zu rechtfertigen und dabei den Stalinmythos fortzuschreiben. Auch der Umgang mit gedruckten Quellen führt die Leserschaft wiederholt auf Irrwege, z. B. wenn die Autorin die Litvinov-Memoiren zitiert, die, wie Fachkreise seit Jahrzehnten wissen, eine Fälschung sind. Für die Menge an Fehlern beim Zitieren und von Fehlschlüssen ist hier kein Raum zur Klärung, ebenso wenig für eine Beschäftigung mit den methodischen Ansätzen, die in der Einleitung hoch angesetzt werden (siehe zu den Fehlern exemplarisch die Rezension von S. Slutsch in: sehepunkte, 21(2021), Nr. 5. https://www.sehepunkte.de/2021/05/34659.html, Zugriff: 12.12.2022). Davon wird nichts eingelöst, vielmehr greift Claudia Weber auf eine personenorientierte, äußerst eng geführte Geschichtsbetrachtung zurück, und sie unterstellt Stalin eine überlegene Position in der internationalen Politik, die in keiner Weise für den Untersuchungszeitraum zutrifft. Verfehlt ist zudem die Behandlung der Politik der Westmächte, wobei die Autorin die verzweifelten Versuche der britischen Regierung, im Rahmen eines general settlement die europäische Friedensordnung 1939 doch noch zu retten, nicht nur missachtet, sondern sogar lächerlich macht. Zu bedauern sind auch pauschale Formulierungen dort, wo eine präzise Sachlichkeit notwendig gewesen wäre. So schreibt die Autorin: „In jenen Monaten des Hitler-Stalin-Pakts besetzten die Sowjetunion und das ‚Dritte Reich' den europäischen Kontinent und teilten ihn untereinander auf" (S. 163).

Aus wissenschaftlicher Sicht hat sich Claudia Weber mit diesem Buch keinen Dienst erwiesen, es sei denn, sie hätte sich auf das Thema der deutsch-sowjetischen Umsiedlungspolitik konzentriert.

By Bianka Pietrow-Ennker

Reported by Author

Titel:
Claudia Weber, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz 1939–1941. München, Beck 2019.
Autor/in / Beteiligte Person: Pietrow-Ennker, Bianka
Link:
Zeitschrift: Historische Zeitschrift, Jg. 316 (2023-06-01), Heft 3, S. 795-798
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: review
ISSN: 0018-2613 (print)
DOI: 10.1515/hzhz-2023-1192
Schlagwort:
  • DER Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer morderischen Allianz 1939-1941 (Book)
  • WEBER, Claudia
  • HITLER, Adolf, 1889-1945
  • STALIN, Joseph, 1879-1953
  • NONFICTION
  • Subjects: DER Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer morderischen Allianz 1939-1941 (Book) WEBER, Claudia HITLER, Adolf, 1889-1945 STALIN, Joseph, 1879-1953 NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Author Affiliations: 1 = Universität Konstanz, Geisteswissenschaftliche Sektion, Fachgruppe Geschichte - Fach D 11, Konstanz,, 78457, Germany.
  • Full Text Word Count: 1208

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