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Superman und Wonder-Woman.

Oberschmidt, Jürgen
In: Musik und Bildung, 2023, Heft 1, S. 14-22
Online serialPeriodical

THEMA: SUPERHELDEN Superman und Wonder-Woman  Über Helden, Heldenmaschinen und deren Widersprüchlichkeiten

Beschäftigen wir uns im Musikunterricht mit Helden und Superhelden, bedarf das zunächst einmal der Rechtfertigung. Sind Helden eher ein Stoff für romantische Erzählungen, die längst in Verruf gekommen sind? Heldengeschichten waren lange Zeit Bestandteil einer militärischen Mobilmachungsprosa, von der wir einst geglaubt hatten, sie würde der Vergangenheit angehören:,,Der Krieg ist traditionell eine Heldenmaschine" (Bröckling 2020, S. 165). Seit 1840 marschieren Die beiden Grenadiere (Op. 49.1) zu den Klängen der Marseillaise im Kunstlied Robert Schumanns, der wie Heinrich Heine als junger Mann Napoleon als den,,größten Mann aller Jahrhunderte" (Sousa 2006, S. 12) verehrte. Erst in Schumanns Nachspiel werden hier die Helden zum Antihelden, wenn sich die heroischen Klänge der Hymne ironisierend ins Gegenteil verklären. Wie viele Herrscher nach Napoleon noch zur dämonischen Größe aufstiegen und mit Kanonengebrüll zur nächsten Bataille riefen, lehren uns nicht nur Geschichtsbücher, das müssen wir leider auch aus der Tagespresse entnehmen. Nicht überall in der Welt hat man sich von solch einem Heldentum und den begleitenden Mystifizierungen verabschiedet. Nicht in allen Ländern wurde der Heldengedenktag mit seiner posthumen Erhebung getöteter Soldaten in den Heldenstand wieder zu einem Volkstrauertag.

Auch in unserer deutschen Nachkriegsgeschichte blieben die Widersprüchlichkeiten der Heldenverehrung immer greifbar, etwa als nach dem Wunder von Bern die erste Strophe der Nationalhymne angestimmt wurde oder in den Heldenfiguren von Georg Baselitz aus den 1960er Jahren, die in provokanter Weise mit alten Heldenbildern und ihren Konnotationen spielen. Solchen Widersprüchen suchte man in Deutschland lange zu entgehen: 1974 folgten unsere Nationalspieler vor ihrem Triumpf gegen Holland schweigend und Kaugummi kauend der Nationalhymne, 1990 gab es dann einen ersten stillen Anflug einer Heldenreise, den legendären Gang unserer Lichtgestalt Franz Beckenbauer unter dem Mailänder Abendhimmel. Erst seit 2014 darf wieder von Helden, und zwar nun von einem Heldenkollektiv, gesprochen werden. Nun heißt es: Der Held ist Die Mannschaft. Und wenn ein Nationalspieler mit Migrationshintergrund sich nichtsingend gegen eine nun wieder singende Nation stellt, wird dies plötzlich zur nationalen Frage (Schulze-Marmeling 2018).

Der Sport produziert Heldendramen, ohne dass wir hier Tote zu betrauern haben oder rechtfertigen müssen, man kann mit den Helden zittern, ohne um das eigene Leben zu fürchten, man kann auf etablierte Devotionalien und Rituale zurückgreifen und benötigt dazu nicht viel mehr als eine Dauerkarte oder ein Sky-Abo. Bei solch einer Omnipräsenz des Heldentums darf wohl von einem postheroischen Zeitalter nicht gesprochen werden. Und mit CR7, Lewi und Messi gelingen auch fließende Übergänge vom Helden zum Superhelden. Bis zum Jahre 2018 ist nach Torerfolgen auch Batmans Fledermausmaske im Dortmunder Signal-Iduna-Park gesichtet worden. Nachdem der Batman-Darsteller Pierre-Emerick Emiliano François Aubameyang dann aber seinen Dienstort nach London und später nach Barcelona verlegte, blieb dem einstigen Superhelden nur noch ein gewöhnliches Heldendasein als Ergänzungsspieler ohne Batman-Attribut.

Außerhalb dieser Identifikation stiftenden Gladiatorenkämpfe ist uns das Heldentum jedoch zutiefst unheimlich geworden, weil sich ein Held nicht als einer unter, sondern als einer über vielen präsentiert und unser aufklärerisch-demokratisches Ideal der Egalité missachtet. Helden sind also vom Aussterben bedroht und werden heutzutage noch im Nachruf diskreditiert, indem ihnen posthum ihr Heldentum aberkannt oder dieses zumindest problematisiert wird. Als Helden des Alltags scheinen sie nur noch im Kollektiv aufzutreten. Oft werden dann ganze Berufsgruppen mit diesem Attribut versehen, man huldigt ihren Heldentaten mit Gesangseinlagen auf Balkonen, ohne dass sich ihr stilles Heldentum in irgendeiner Form auf einem Gehaltszettel widerspiegeln würde:,,Anders als in den vertrauten Arenen heldenhaften Handelns sind hier Frauen keine Minorität" (Bröckling 2020, S. 196).

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Superman

,,Ein symbolisches Bild von besonderem Interesse ist das von Superman. Der mit übernatürlichen Kräften ausgestattete Held ist in der populären Vorstellungswelt eine Konstante - von Herkules zu Siegfried, von Roland über Pantagruel bis zu Peter Pan" (Eco 1984, S. 193). Superman ist der erste Superheld der Comicgeschichte. Geschaffen in den 1930er Jahren von zwei Science-Fiction-Fans, war es zunächst ein glatzköpfiger Bösewicht, der mit seinen übermenschlichen Fähigkeiten versuchte, die Weltherrschaft zu erlangen. Erst in den folgenden Jahren änderten die Schöpfer Jerry Siegel und Joe Shuster ihr Konzept. Von nun an wurde Superman ein Kämpfer für das Gute. In einer Industriegesellschaft, die den Einzelnen um seine Besonderheiten enteignet und in der Organisationsgewalten dem Einzelnen jede Entscheidung abnehmen möchten, in Arbeitswelten, in denen uns Maschinen das Handeln vorschreiben, sind Superhelden besonders gefragt:,,In einer solchen Gesellschaft muß der positive Held die Selbstständigkeitswünsche und Machtträume, die der einfache Bürger hegt, aber nicht befriedigen kann, geradezu exzessiv auf sich versammeln. Superman ist der geeichte Mythos für diese Bürger" (ebd.). Damit ist Superman gerade nicht Jenseits von Gut und Böse und somit wenig geeignet, dem Übermenschen Friedrich Nietzsches ein Comic-Gesicht zu geben.

GROSSMEISTER UND LICHT-GESTALTEN

Auch die Musikwissenschaft tut sich inzwischen schwer mit Heroisierungen der,,Großen Meister", die einst für so manche deutschtümelnden Überlegenheitsfantasien herhalten mussten. Eine Musik im Abendland (Eggebrecht) stellt sich unter Idiologieverdacht, weil sie sich vornehmlich mit einer Musik aus dem deutschsprachigen Herrschaftsgebiet der motivisch thematischen Arbeit auseinandersetzt. Inzwischen stellt sich die musikwissenschaftliche Forschung den postheroischen Brechungen und kümmert sich mittlerweile genauso sehr um die Musik der kleinen Leute (früher: Kleinmeister[1]) wie um Singularitäten der großen Männer (und jener wenigen Frauen, die ihre Kompositionen lediglich unter dem Namen großer Männer veröffentlichen durften):,,Die wirkliche Höhe einer Kultur lässt sich nicht an den Meisterwerken, den Museumsexponaten messen, sondern an ihren Alltagsprodukten für die Gelegenheit. Deshalb sind wir gefordert, die ‚Müllkippe' der Geschichte wieder zu öffnen und die Musik jener Zeit wieder lebendig werden zu lassen" (Brunner 2022, S. 92). Selbst bei der Problematisierung einer solchen Mystifizierung komponierender Lichtgestalten besteht die Gefahr, dass eine Entzauberung solch ein vertikales Weltbild der von Kleinmeistern umgebenen Helden fortschreibt. Und wenn in der Popmusik der Übergang von der Alltagsperson in den Bühnenstar und zurück inszeniert wird, dann geht es darum, diese Transformation immer wieder als bedeutsam zu konstituieren und gerade den Wechsel dieser Ebenen hervorzuheben. Wer sich jedoch komponierend und schöpfend der Neuen Musik verschrieben hat, leidet zunehmend unter einem Heldenimage, dem solche Verwandlungen zwischen dem profanen Alltag und den Existenzformen eines Kunstverursachers verwehrt scheinen, weil ein Komponist im Alltag sein Supermannkostüm nicht einfach so ablegen kann:,,Angesichts der Vielfalt von Erscheinungsweisen, die Individuen zugebilligt wird, verblüfft ein ausgesprochen stereotypes Bild, das vom Künstler existiert. In kräftigen Farben spiegelt es ein Bewußtsein der Distanz des Künstlers zum alltäglichen Leben wider. Er wird gezeigt als ein Sich-berufen-Fühlender, ein ständig ringender, der nicht selten dem Wahnsinn verfällt, der ob seiner dämonischen Besessenheit Probleme mit sozialen Beziehungen hat und am Ende seines Lebens verkannt, vereinsamt und elend in einer Dachkammer zugrunde geht. Die Vorstellung, daß der Künstler nicht von dieser Welt sei, fixierte der Künstlerroman des 19. Jahrhunderts als eine vorbildliche Existenzform. [. . .] Für Maler oder Musiker, die Werke von absoluter Bedeutung schufen, schien in der irdischen Welt kein angemessener Platz zu sein" (De la Motte-Haber 1996, S. 340). Heutzutage sind komponierende Supermänner nicht nur wieder auf der Erde gelandet, nach eigenen Aussagen haben sie diese nie verlassen.

Vor diesem hier nur kurz skizzierten Hintergrund gilt es, die Bemerkung von Jürgen Habermas aufzugreifen,,,dass sich, wo immer ‚Helden' verehrt werden, die Frage stellt, wer das braucht und warum. Auch in diesem harmlosen Sinne kann man Brechts Warnung verstehen: ‚Wehe dem Land, das Helden nötig hat'" (Habermas 2004, S. 69).

Diese Frage nach Helden und Superhelden darf auch mit Blick auf Musikunterricht immer wieder neu gestellt werden: Brauchen wir im Musikunterricht normative Rangordnungen und autoritäre Führungsmodelle? Muss Musikunterricht sich heute noch mit der imprägnierten Werkorientierung begnügen, wo Bach, Beethoven und Brahms ihre weltaufschließende Kraft zu beweisen haben? Hero shot heißt die Kameraeinstellung beim Film, wenn der Protagonist von unten in der Totalen gezeigt wird und die betrachtenden Augen an ihm emporblicken. Solch ein Hero shot entsteht zwangsläufig, wenn wir einen Komponisten auf den Sockel stellen. Gehören solche Überhöhungen wirklich der Vergangenheit an - oder begegnen wir den Veredlungsimpulsen der Denkmalkultur heute noch im Lehrerzimmer und bedauern hier bereits, dass nur Kunstbanausen unempfänglich sind für die heroisch zu nennenden Aufführungen unseres Schulorchesters? Solche traditionellen Bewährungsfelder der Heroen verblassen, was nicht heißt, dass damit der Musikunterricht oder die Schule insgesamt zur heldenfreien Zone würde. Über dieses Problem wird hier noch zu reden sein.

Wenn wir ein verbindliches Vorbild nicht mehr als ein solches wahrnehmen möchten, liegt das auch daran, dass rationalistische Steuerungselemente den Gestaltungsoptimismus einer mit Visionen behafteten Musiklehrkraft abgelöst haben und ein partizipativer und auf Stärkung von Selbststeuerungspotenzialen ausgerichteter Musikunterrichts an die Stelle unserer Gewohnheiten im Anleitemodus tritt. Unsere Heroenkultur leben wir weiter in der Imagination, nicht zuletzt wenn wir uns mit Monsieur Mathieu und seinen Kindern verbrüdern. Im Kino und auf dem Fußballplatz können wir uns weiter mit Heroengestalten identifizieren. We can be heroes just for one day, dürfen wir mit David Bowie in Heroes (1977) singen. Doch nicht nur der Sport und das Kino aktivieren immer wieder heroisierbares Personal, auch Klimaaktivistinnen werden zu Helden. In manchen Regionen erinnert man sich auch heute noch an den Helden der Arbeit, dem suggeriert wurde, selbst Teil von etwas Größerem zu sein. Auch für den Aufbau des Sozialismus waren heldenhafte Kräfte notwendig. Zur selben Zeit durften im Westen die Helden des alten Typs weiter regieren und ihre Hinterhofwerkstätten zu weltumspannenden Konzernen ausbauen.

Heutzutage ersetzen die marginalisierenden Automatisierungen und die betriebswirtschaftlichen Rationalisierungen im asketischen Kosten-Nutzen- Modus das Heldenwesen, was nicht nur für die schulischen Betriebssysteme gilt:,,Industrie und Handel" zeigen,,keinen Bedarf an ritterlichen Tugenden" (Bröckling 2020, S. 146). Erst ein Handel im digitalen Wandel und die hier erzeugten Nerds der Start-up-Kulturen schrieben wieder Heldengeschichten, die in den Biografien von Steve Jobs, Jeff Bezos oder Elon Musk in epischer Breite ausgefaltet werden.[2] In Kooperation mit der Universität der Künste Berlin wird ein Lehrgang,,Heldenprinzip. Kompass für Organisation und Wandel" angeboten. Hier werden,,Unternehmer:innen, Führungskräfte, interne und externe Berater:innen" mit den Zauberkräften der Theaterwissenschaft zum,,zertifizierten Veränderungsbegleiter" (www.heldenprinzip.de) ausgebildet. Nun behaupte noch mal jemand, die Kunsthochschulen sonnen sich im Musenhimmel, um hier ausschließlich die Heldentaten unserer Vergangenheit zu reanimieren. Nicht zuletzt mit solchen Projekten wird das Heldentum zur Verpflichtung für jedermann:,,Aus Heldenmut wird Zivilcourage. Parallel dazu wird das Heroische demokratisiert und veralltäglicht!" (Bröckling 2020, S. 13). Dies wiederum führt uns zu dem Schluss:,,Jeder kann ein Held sein. Auch ein Mann, der etwas so Einfaches tut, wie einem kleinen Jungen einen schützenden Mantel um die Schultern zu legen" (Batman).

Das Heroische wird demokratisiert und tritt in unseren Alltag ein. So kann jeder von uns zum Helden beziehungsweise zur Heldin werden, sei es,,just for a day" (David Bowie) oder für,,fifty minutes a Fame", auf die nach Andy Warhol im Zeitalter der Massenmedien niemand verzichten muss.

WIR SIND HELDEN - ODER DOCH KEINE HELDEN MEHR

,,Im Staat kann es keine Heroen mehr geben: diese kommen nur im ungebildeten Zustande vor" (Hegel 1986, S. 180), stellte Georg Wilhelm Friedrich Hegel bereits 1820 fest. Leider irrte Hegel hier. Instrumentelle Problemlösungsstrategien hätten sich in unserer Gesellschaft herausgebildet, die nun das erledigen, was ehemals Aufgabe eines Heroen war. Das bringt Hegel dazu, das Heroische als ein ästhetisches Phänomen zu sehen und ihm im Staat der Moderne einen Platz in der Kunst zuzuweisen (Bröckling 2020, S. 82f.). Nach Helden wird heute nur noch in Krisensituationen gerufen, man könnte sagen: Wir brauchen noch Helden, wenn der Rettungsdienst nicht mehr funktioniert. So sind wir enttäuscht, wenn eine Bundeskanzlerin sich nicht an den von John-Wayne-Filmen abgeschauten Leitbildern orientiert, wir wünschen uns, dass in einer unter Beschuss geratenen Gesellschaft die Befehle erteilt werden oder die Regierungschefin wie ein Westernheld die Probleme eigenständig beseitigt. Ein postheroischer Führungsstil ist keine Negation des Heroischen, sondern,,ein Heroismus höherer Ordnung: die souveräne Größe, um der Sache willen auf heldenhafte Alleingänge zu verzichten" (ebd., S. 153). Solch ein Handeln ist in unserer mediatisierten Politik schwer vermittelbar, wenn sachliche Kontroversen als Führungskonflikte inszeniert werden und nach einer Wahl die siegreiche Parteispitze zum Helden gekoren wird: Jeder Wahlkampf wird zur Heldenreise.

HELDEN UND ANTIHELDEN

Er war der meistportraitierte Musiker seiner Zeit, er war der erste Musiker, der einer eigenen Biografie für Wert befunden wurde, er war der erste Komponist, den man zu Lebzeiten mit einer Werkausgabe ehrte - und er war der erste, dem man bereits zu Lebezeiten ein Marmor-Denkmal errichtete: Das war 1738 im Vauxhall Gardens, dem erfolgreichsten Vergnügungspark Londons. Dieser Held der europäischen Musikszene begab sich auf eine Heldenreise, die Gottfried Georg Gervenius (1868) wie folgt beschrieb: Das englische Volk fand hier einen,,Führer und Lenker", der sich,,ins Gewühl der Menschen warf", um,,die Werke seiner Kunst wieder in die weite Welt zu tragen" (zit. n. Gerlach et al. 2014, nach S. 63f.). Wer sich hier im konfliktträchtigen London auf dem freien Markt zu behaupten wusste, war Georg Friedrich Händel, der im Übrigen auch von angelsächsischer Seite als ihr Held angesehen wurde: Schließlich sollte er als Nachfolger Henry Purcells den Ehrentitel Orpheus Britanicus übernehmen.

Zur gleichen Zeit ging ein frommer und sündenbewusster Lutheraner eher als Antiheld in die Geschichte ein: Johann Sebastian Bach begann seine Heldenreise erst im 19. Jahrhundert. Dass es sich bei Händels meist besungenen Heldenattributen, dem Halleluja und dem Largo, wohl um Übernahmen von anderen Komponisten handelte, lässt sich aus dem Zeitgeist erklären und interes siert seine Verehrergemeinde bis heute nur wenig. Händels Deklarierung des Messias als Werk eines Helden findet seine doppelte Überhöhung in Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit, wenn dem Ganzen mit Händels Auferstehung noch ein pseudoreligiöser Titel hinzugefügt wird. Auch Stefan Zweig schickt Georg Friedrich Händel auf eine Heldenreise:,,Sie haben ihn zu Tode gequält, diese verfluchten Sänger und Kastraten, die Schmierer und Kritikaster, das ganze eklige Gewürm. [. . .] Nie hat ein Mann so herrliches geleistet, nie so ganz sich hingegeben, aber das muss auch einen Riesen zerbrechen. [. . .] Unter der starren Hülle, ähnlich der geheimnisvollen heißen Gewässer unterhalb der Erde, lebte eine unfaßliche Kraft: der Wille Händels, die Urkraft seines Wesens" (Zweig 1964, S. 68ff.)

Hans Joachim Moser denkt deutsch-national und sieht Händel als,,siegreiche[n] Eroberer in Britannien". Seine,,dreißigjährige Kettung an die italienische Oper in London, sein tragischer Umweg und eine letztlich zwecklose Vergeudung wertvollster Schöpferkräfte" (zit. n. Gerlach 2014, Superhelden in S. 165) sei sein Schicksal gewesen. Händel habe,,auf der Sonnenseite des Hochbarock seinen gewaltigen germanischen Oratorienbau errichtet" (ebd., S. 14), und Moser behauptet immer wieder kategorisch, dass,,Händel trotz fast siebenundvierzig Jahren in London kein Engländer geworden ist" (ebd., S. 135). Solche Reiseberichte lesen sich wie jene des Odysseus: So wie sich dieser an den Mast seines Schiffes binden ließ, um den Gesängen der singenden Sirenen zu lauschen, ohne vom Kurs abzuweichen, konnte Händel sich auch im Feindesland sein nordisches Kunstschaffen bewahren. ‚Nordisch' impliziert nach völkisch-nationalsozialistischen Begriffen den Drang in die Ferne, ein Kämpfer- und Heldentum, Eroberungsgeist und natürlich: Männlichkeit. Auf Händel ließ sich solch ein Bild projizieren:,,ein Bombenkerl, bei dem die Klugheit der Musikerstirn mit der Kraft von Kinn und Kiefern wetteifert, in dem der Humor der Nasenflügel dem Ernst der strahlenden Augen die Waage hält" (ebd., S. 134). (Dass in Händels Opern die Heldengestalten von kastrierten Männern verkörpert wurden, ist wiederum eine andere Geschichte.)

Johann Sebastian Bach,,,ein armes Stadtpfeiferwaislein" und Händel,,,ein gut gestellter Hofchirurgensohn", mussten,,ihre heimlichen Schlachten schlagen, um in Musiklanden dermaleinst riesengroß werden zu können" (ebd.). Auch Negativbeispiele werden von Hans Joachim Moser angeführt:,,Wie man es nicht machen sollte, hat etwa der jüngste Sohn Sebastian Bachs, der übrigens als Musiker höchst liebenswerte Johann Christian Bach, auf fast den gleichen Lebensstationen gezeigt: in Leipzig und Berlin der größten Musikertradition aller Zeiten entstammend, wird er in Mailand katholischer Domorganist und veritalienert fast restlos, um dann in London sich als Gatte einer welschen Primadonna fast ebenso völlig zu anglisieren"( ebd., S. 14). Die Heroennarrative sind eben binär angelegt und lassen kaum Raum für Zwischenlagen. Die Universalität, das weltumspannende der Musik Händels erfüllt sich auch in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte, als alttestamentarische Stoffe nicht angesagt waren. Damit Judas Makkabäus seine Vorbildfunktion auch zu Zeiten der NS-Diktatur erfüllen konnte, wurde das Oratorium kurzerhand umtextiert und hieß nun Der Feldherr. Auf der anderen Seite des Ozeans entstanden zur gleichen Zeit, in den Jahren 1942 bis 1945, zahlreiche Geschichten, in denen der historische Superman auf Seiten der Alliierten gegen deutsche und japanische Truppen kämpfte:,,Gegen die deutschen ‚Übermenschen' wurde also der US-Superman kryptonischer Abstammung ins Feld geschickt" (Hirn 2020, S. 16).

WIE MACHE ICH MICH ZUM SUPERHELDEN?

Es gibt viele Helden und Superhelden, aber nur wenige von ihnen agieren in der ersten Person. Die Aussage,,Ich bin ein Held" ist eigentlich,,ein sich selbst dementierender Sprechakt" (Bröckling 2020, S. 121) und im Plural funktioniert er eigentlich nur mit augenzwinkerndem Unterton, wie etwa bei der Popgruppe,,Wir sind Helden". Nur wenige Helden gibt es, die ihre Heroengeschichte selbst geschrieben haben. Lässt man hier die namhaft bekannten Polit-Despoten des 20. und 21. Jahrhunderts (also jene starken Männer, die uns eigentlich nur zeigen können, wie es nicht gehen sollte) außen vor und kümmert man sich nicht um Franz Beckenbauers Autobiografie Einer wie ich (1975), dann bleibt eigentlich nur Richard Wagner übrig, der in solchen Fragen der Geschichtsschreibung äußerst gründlich und sys - tematisch vorging und für die Erstellung seines eigenen Heldenepos' zunächst einmal seine eigene Ahnengeschichte schuf:,,Die letzte Symphonie Beethovens ist die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft: das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat" (Wagner 1850, S. 94). Mit diesem Ermächtigungsgesetz, mit dem sich der Meister selbst zum einzig legitimen Beethoven-Nachfolger auswies, orientierte Wagner sein Kunstwerk der Zukunft an jenem Titanen, der bereits mit dem Mythos des Prometheus verknüpft war, auch wenn er nicht aus Ton Menschen formte und das Feuer für sie vom Himmel stahl. Dass Beethoven im 19. Jahrhundert verkultet wurde, sein Heldentum zum Mythos und der Ertaubte nun als Märtyrer ähnlich zu leiden hatte wie Prometheus, der zwar nicht von seinen ignoranten Mitmenschen, dafür aber von einem antivegan eingestellten Adler gefoltert wurde, ist eine oft erzählte und hier nicht zu wiederholende Geschichte. Zu Wagners Narrativ gehört, dass nun seine Hände es waren, die die Neunte Sinfonie, das menschliche,,Evangelium der Zukunft", bei der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses dirigieren durften, um nun zu verkünden, dass an diesem Ort alle Menschen zu Brüdern und Schwestern werden sollten. Das Schöpfungswerk sollte seine Fortsetzung finden, Wagners Erstgeborener musste daher Siegfried heißen, das Siegfried-Idyll wurde nach der Geburt seiner Frau Cosima überreicht. Es bedarf hier eigentlich keiner Erwähnung, dass große Schwestern nicht mitgezählt, geschweige denn mit einer Komposition bedacht wurden. Des Vaters Vorstellungen von einem männlichen Superhelden sollte sich Siegfried nicht anschließen, wie Hausfreund Joseph Goebbels es am 8. Mai 1926 seinem Tagebuch zu berichten wusste:,,Frau Wagner [Siegfrieds Frau Winifred] holt mich zum Essen herein. Ein rassiges Weib. So sollten sie alle sein. Und fanatisch auf unserer Seite. Sie klagt mir ihr Leid. Siegried ist so schlapp. Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen. Auch Siegfried ist da. Feminin. Gutmütig. Etwas dekadent" (Reuth 1992, S. 247). Schamlos wurde hier das Heldentum in Regie genommen: Wie leicht Heldentum und Erhabenheit der Kunst zu missbrauchen sind, hat das 20. Jahrhundert zur Genüge gezeigt. Im Doktor Faustus wollte Thomas Mann seinen Tonsetzer Adrian Leverkühn Beethovens Neunte,,zurücknehmen" lassen, ihr Humanitätsgedanke hielte den Perversitäten des vergangenen Jahrhunderts nicht stand.

Die musikwissenschaftliche Heroengeschichtsschreibung lehrt uns: Auch Menschen können zu Göttern, ihre Musik unsterblich werden. Als Sternbilder werden - wie im Falle des Orpheus - ihre Attribute an den Himmel geheftet oder es wird ihrer Musik zumindest ein irdisch-steinerner Festspieltempel an der nördlichen Bebauungsgrenze Bayreuths hinterlegt, um damit eine dauerhafte Pilgerstätte zu hinterlassen. Wagners eigener Weltentwurf sollte dann genau hier dunklere Töne anschlagen. Im finalen Weltenbrand der Götterdämmerung finden wir hinterlegt, wie Beethovens optimistische Perspektive verkehrt wurde: Durch Licht zur Nacht sollte es schließlich im Ring heißen, die moderne Gesellschaft sei eben auch von einem Superhelden wie Siegfried nicht mehr zu retten. Gelernt haben wir Menschen daraus nur wenig: Wir fühlen uns immer noch als Superhelden, die sich die Natur untertan gemacht haben. Dabei sind die Areale, die uns verletzlich machen, weitaus tragender als die sprichwörtlich gewordene Achillesferse oder die Schwachstelle zwischen den Schulterblättern eines Drachentöters: Die Rede sei hier nicht nur von unserer Abhängigkeit von Gas und Öl, sondern von der grundlegend fehlenden Einsicht, dass die mit Blick auf den Klimawandel notwendige radikale Umkehr auch mit persönlichem Verzicht verbunden sein wird. Bis heute arbeiten wir Menschen zu wenig daran, uns von alten Göttern eines gescheiterten Systems zu verabschieden, bis heute haben wir nicht lernen wollen, dass Reichtum und Macht nicht mit Liebe und Menschlichkeit vereinbar sind. Der Ruf nach Superhelden scheint auch einem Lebensstil geschuldet, der nur mit übermenschlichen Kräften aufrecht gehalten werden kann. Es bliebe also auf dem Grünen Hügel noch genügend Raum für allerlei aktualisierende Neuinszenierungen.

Dass sich längst auch der Film eines Heroen wie Richard Wagner angenommen hat, ist vor dem hier geschilderten Hintergrund sicher mehr als verständlich. Und dass Richard Wagner nach König Ludwig nun Titelgestalt in einem Musical wird, wäre eigentlich längst überfällig und bleibt wohl nur eine Frage der Zeit.

,,Leonidas fiel in diesem Getümmel, nachdem er heldenmütig gekämpft", so konstatierte Heraklit sein Exemplum eines griechischen Heroen. Nach mittelalterlichem Relevanzverlust besitzt der im 19. Jahrhundert wiederentdeckte Held Leonidas Vorbildfunktion für die modernen Superhelden in Film, Comic und Computerspiel. Dass Leonidas gleichzeitig Inbegriff eines Antihelden ist, weil er das eigene Wesen dekonstruiert und den Weg in den Tod sucht, lässt sich an der heroisierenden Darstellung des ikonographischen Chefideologen Napoleons nicht erahnen. Heldeninszenierungen mit bloßem Oberkörper, ob nun mit oder ohne Angel in der Hand, begegnen uns bis heute. Barack Obama, der als Kind Spiderman-Comics sammelte, posierte gerne schlaksig und muskulös am Strand, tauchte auch im Superman-Outfit auf oder erschien ohne Heldenkostüm auf dem Titel eines Spiderman-Comics (Törne 2009). Dass ein Superman-Image in die amerikanische Politik hineinweht, blieb kein Einzelfall.,,Als ich diese Mütze [die Baseballmütze von Trump] aufgesetzt habe, habe ich mich wie Superman gefühlt. Das ist mein Superheld" (Chambers 2018), äußerte der Rapper und Trump-Fan Kayne West bei einer Audienz im Weißen Haus.

VON HAUPTROLLEN UND NEBENDARSTELLERN

Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters werden von Heldenverehrern nicht gestellt:,,Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? […] Der junge Alexander eroberte Italien. Er allein?" (Brecht 1981, S. 656f.) - Die Handlungen anderer Akteure und weitere externe Einflussfaktoren werden unsichtbar gemacht, die Komplexität um die Urheberschaften wird vereinfacht, um alles Wirken beim Helden zu bündeln: Röntgenstrahlen und Neutronenautoradiografien mussten dem Mann mit dem Goldhelm zu Leibe rücken, um festzustellen: Um die Jahrhundertwende galten noch 1.600 Gemälde als eigenständige Arbeiten, jetzt sind es noch 280 Gemälde. Auch dieses Bild ist kein Rembrandt mehr, sondern in seinem Umfeld entstanden. Gemalt wurde im Kollektiv, nur wenige können heute zwischen den Bildern des Meisters und seiner Schule unterscheiden.

Warum nur haben wir in der Musikwissenschaft so lange in Epochen gedacht, waren der Meinung, dass es den Früh-, Hoch- und Spätbarock gibt, der dann womöglich noch zeitgleich mit Johann Sebastian Bach gestorben ist. Solche Konstrukte suchen nach einem Vollender, nach einem Superhelden. Und wenn letzterem noch so viele Steine in den Weg gelegt wurden, dass seine AG-Arbeit in der Thomasschule scheiterte, weil sein neuer Schulleiter sich mehr für den MINT-Bereich (damals allerdings noch MNT, also ohne Informatik) einsetzte, dann hat solch ein Superheld ein hohes Identifikationspotenzial. Heroische Handlungsmacht braucht eben solche Widerstände. Mit Blick auf Bachs Vivaldi-Transkriptionen kam Albert Schweitzer zu dem Schluss, dass die Werke des Vordenkers aus Venedig unwürdig seinen, von der Feder des Meisters bearbeitet zu werden:,,Eigentlich ist es ganz unbegreiflich, daß Bach, nun schon in der Zeit der ers ten Meisterschaft, wo ihm die Themen und Motive in Hülle und Fülle zuströmten, sich damit abgab, in Anlehnung an eine oft banale Erfindung anderer zu arbeiten. Daß sein Weimarer Freund Johann Gottfried Walther am Transkribieren Gefallen fand und es fleißig betrieb, ist weiter nicht verwunderlich; er war eben kein schöpferischer Geist. Wenn aber Bach, dessen Erfindungskraft schlechthin alle Begriffe übersteigt, hier unter den nachschaffenden Künstlern betroffen wird, so hängt dies mit der psychologisch weiter nicht zu greifenden Tatsache zusammen, daß er in seinem Produzieren äußere Anregung und Anlehnung suchte, wo er konnte" (Schweitzer 1979, S. 170). Die Auseinandersetzung mit Vivaldi fand also zunächst im Schatten der Bachforschung statt. Auch wenn es sich hier nur um eine Fernbeziehung handelte, wollte man Bachs Vorarbeiter kennenlernen, Vivaldi selbst spielte hier also nur eine Nebenrolle.

SUPERHELDEN WERDEN VON MÄNNERN GEMACHT

Seit Homers Zeiten sind es vornehmlich Männer, die sich mit Kriegsführung beschäftigen, Krieg ist der Vater aller Dinge, das Heroische erscheint als eine primär männliche Domäne.,,Die Nachteile des männlichen Ideals sind für die Mehrzahl der Männer umso größer, je mehr sie von der mythischen Norm von Erfolg, Macht, Beherrschung und Stärke abweichen. […] Bestimmte Männer glauben, das Heilmittel, mit dem sie gegen das permanente Gefühl der Unsicherheit ankämpfen könnten, sei eine Supermännlichkeit anzustreben" (Badinter 1993, S. 164f.). Seitdem transportieren Heldengeschichten in ihren Stereotypen jene sexuelle Differenz, die den Kern patriarchaler Herrschaftsformen ausmacht: Männer haben Muskeln - Männer sind furchtbar stark - Männer können alles - Männer kriegen 'nen Herzinfarkt - Männer sind einsame Streiter - Männer führen Kriege - Männer sind furchtbar schlau - Werd'n als Kind schon auf Mann geeicht. Dabei dürfen Männer auch gelegentlich über die Stränge schlagen: Männer sind schon als Baby blau, baggern wie blöde, lügen am Telefon. Auch diese Kernkompetenzen sind durchaus heldenkompatible Eigenschaften. Es ist genau diese Originalität und Fehlbarkeit, die imponiert. Herbert Grönemeyer stellt in Männer klar: Als Mann kann man sich nicht falsch entwickeln. Beethoven hat seine Oper Leonore umbenannt in Fidelio, umbenennen müssen, um Erfolg zu haben. Der wahre Held ist ein unbeirrbarer Mann der Tat, unabhängig vom Stand, vom Bildungsgrad, vom Alter. Einem jungen Helden dieses Typus sind die abgehobenen Erwachsenen egal, er tut alles, was er für richtig hält, er richtet sich nach seinen eigenen Regeln, er handelt mit Leidenschaft und trägt die Konsequenzen seines Handelns immer selbst und - schnitzt daher Holzmännchen: Michel aus Lönneberga.

Den Frauen kommt hier eher die Rolle der bewundernden Verehrerin zu, sie sind Objekte der heroischen Anstrengungen. Nur selten wird von kämpfenden Heldinnen, wie etwa vom Schlage der Amazonen bei Homer, der Brunhilde aus dem Nibelungenlied oder Pippi Langstrumpf, erzählt. Zu erzählen sind eher die Geschichten der Heldenmütter oder Kriegsbräute, die voller Angst und Stolz den Mann ins Feld ziehen lassen, um dann seinen Heldentod zu betrauern.

Eine Ausnahme ist die magisch dämonische Femme fatale, die das Wirken des Helden untergräbt, manipuliert und ihn auf,,fatale" Weise von neuen Großtaten abhält:,,Im Mythos und in der Literatur hat es den Typus der Femme fatale immer gegeben, denn Mythos und Literatur sind nur die dichterische Widerspiegelung des wirklichen Lebens; im wirklichen Leben aber hat es an mehr oder minder vollkommenen Exemplaren herrsch süchtiger und grausamer Frauen nie gefehlt" (Praz 1994, S. 167). Der Wirkungsort der Loreley gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und ihr Tun ist reichhaltig mit Mythologenen, etwa mit dem verderblichen Gesang der Sirenen, verknüpft. Auch real existierende Frauen wurden oft mit dem Gütesiegel der Femme fatale belegt, besonders häufig traten sie in der Zeit des Fin de Siècle auf. Hier genügte es bereits, wechselnde Liebschaften zu pflegen. Alma Mahler-Werfel, die Witwe von vier Künsten, bewahrte in ihrer New Yorker Wohnung die heldenhaften Taten ihrer Ehemänner in einer Trophäensammlung auf und entsprach damit dem von Männern gezeichneten Bild solch einer Femme fatale: Gustav Mahler, Walter Gropius, Franz Werfel, Alexander von Zemlinsky, Otto Kokoschka.

Geschichte wird von Männern und als eine Geschichte der Männer geschrieben, die Frauen stehen eher im passiven Abseits. Wer nun als Held die Welt verändern möchte, muss sich erst einmal in den Narrativen der Geschichtsschreibung verankert wissen, um sich dort dann von der Masse abzuheben. Die Ehre der Frau gilt es zu schützen, die des Mannes muss sich im aktiven Kampf bewähren: Eine Beleidigung der Mannesehre endet im Duell, nur wer als satisfaktionsfähig gilt, ist auch heroisierbar, bis heute haben Frauen ausschließlich Wortgefechte zu führen. Und doch gibt es Heldinnengeschichten, die aber den maskulinen Heldencodex nur bestärken, weil sich ihr Wirken in den üblichen Rollenmustern abspielt: Jean d'Arc ist eine Kriegsheldin des Mittelalters, Lara Croft ein digitalisierter Indianer Jones - oder es werden Tätigkeiten, die als typisch weiblich gelten, heroisiert:,,Ach, wie soll ich das nun wieder sauber kriegen", skandierte Klementine als Ariel Werbefigur in ihrem heroischen Kampf gegen das Böse.

Mehr über Superhelden:

  • Baselitz, Georg (2016): Die Helden. Hg. von Eva Mongi-Vollmer. München: Hirmer- Verlag.
  • Cadenbach, Rainer (1986): Mythos Beethoven. Laaber: Laaber.
  • Trost, Ralph (2012): Vom Umgang mit Helden. Das Museum Nibelungen(h)ort Xanten. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Weil Jean d'Arc nicht als Soldatin anerkannt wurde, galten alle getöteten Soldaten als Mord - opfer, zudem angeklagt wegen Feenzauber und des Gebrauchs der Alraunenwurzel endete ihr kurzes Leben auf dem Scheiterhaufen. Rehabilitiert und heiliggesprochen wurde sie zum Mythos. Natürlich gibt es inzwischen auch eine Super-, Wonder- und Spider-Woman, aber diese Heldinnen sind den Männerfantasien entsprungen: Dargestellt mit den Körpermaßen einer Barbiepuppe mit überdimensionierter Oberweite treten sie den muskelbepackten Supermännern entgegen.

KINDER BRAUCHEN HELDEN

Die zu einem Heroen emporblickende Haltung ist allen Kindern vertraut. Den ganzen Tag müssen sie zu Erwachsenen aufschauen, erleben diese in der Hero shot-Perspektive, erfahren so hierarchische Strukturen des Sozialen. Kinder möchten auch mal oben stehen, sie lieben Heldengeschichten, suchen nach Vorbildern, die ihre Ohnmachtserfahrungen kompensieren, die Wege aus ihren Konflikten der Erwachsenenwelt zeigen, die ihr Streben nach Autonomie stärken. Es bleibt aber eine kritische Frage, welchen Entwicklungshelfern sie hier vertrauen sollten, denn Held ist nicht gleich Held. Heroische Verhaltensdispositionen hinterlassen Spuren, gerade bei jenen, die sich in unserer Gesellschaft nicht als Held fühlen dürfen. Solch eine pädagogische Indienstnahme des Helden bleibt also problematisch: Müssen wir die Welt in Gut und Böse aufteilen, Konflikte gewaltsam lösen? In den USA ist Donald Trump zum Superheld einer Wählerschicht geworden, die sich zu den Verlierern der Globalisierung zählt und die im Verteilungskampf die größten Einbußen hinnehmen musste. Sollen wir Kindern eine Welt vorleben, in der die Stärke das Maß aller Dinge ist?

Dietmar Dath kennzeichnet das als trivial verrufene Superheldengenre als,,mythopoetisches Vergrößerungsglas des Individualismus" und,,großes Gleichnis auf das Subjekt-Empfinden moderner Menschen allgemein" auf,,dem Weg vom Guten zum Besseren" (Dath 2016, S. 84, 3, 69). In der Schule sollten wir uns immer auf solch einen Weg begeben, doch Lehrpläne, die Standardanforderungen festlegen, lassen dabei keinen Raum für individuelles Heldentum, für jene, die abseits der eingetrampelten Wege ihren Sieg erreichen möchten. Nicht zuletzt ist Pippi Langstrumpf eine notorische Schulverweigerin. Und doch brauchen Kinder eben nicht nur Märchen, sondern auch Heldengeschichten - und die Kinder- und Jugendbuchliteratur ist voll davon, Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums ein Klassiker. Mit der Mehrdeutigkeit, Komplexität und Ambivalenz der Figuren ist man zumindest besser gerüstet für die Gegenwart als mit den Hollywood Banalisierungen moderner Superhelden. Jugendliche verstehen das ironische Spiel mit der Gebrochenheit ihrer Helden. Das gilt für die großen,,Operninszenierungen" von Rammstein, für die Powermythologie im Heavy Metal.

Der Medienpädagoge Thomas Walden geht so weit, dass er die Superhelden Hollywoods als Lernende und ihre Heldenreise im Film als Metadidaktik für Lehr-Lernprozesse begreift (Walden 2015). Wird hier den Zumutungen und Selbstoptimierungsstrategien, denen auch unsere Kinder in den Schulen ausgesetzt sind, gar ein karikierender Spiegel vorgehalten?

Es bleibt auch festzuhalten, dass in den Heldengeschichten der Jugendliteratur gerade nicht immer das Recht des Stärkeren regiert. Während Superman alle Probleme mit seinem Körper löst, ist Wickie, Sohn des Dorfhäuptlings Halvar in Flake, ängstlich und schwächlich, anders als ein richtiger Wikinger. Seine Superkraft hat nichts mit dem äußeren Erscheinungsbild zu tun. Er ist von starken Männern umgeben und wird zum Helden, weil er alle Probleme mit seiner Intelligenz löst. Dem Mythos des Supermanns als Ausdruck vollkommener Männlichkeit wird in den Fiktionen des Kinderbuchs von Runer Jonsson, der dafür 1965 den Deutschen Jugendbuchpreis erhält, nicht entsprochen. Wie Ronja Räubertochter in einer Männerwelt agiert, die sozial geächtet ist, wie die Rote Zora ihre Bande zusammenhält, ist dem männlichen Autor dieses Beitrags, dem in einem Elternhaus mit konservativem Rollenverständnis kein weibliches Heldentum zugemutet wurde, bis heute nicht bekannt.

Es gibt auch junge Wagnerianer, wie Giacomo Paravicini, damals 23 Jahre jung und Spitzenfechter. Mit Wagners Heldenpathos im Ohr bereitete er sich auf die Olympischen Spiele 2016 vor. Seine Mutter, selbst Wagnerianerin, hat ihn mit dem Computerspiel Ring der Nibelungen zur Musik des Meisters verführt:,,Siegfried sein, das wärs. Weil er der Unerschrockene ist, weil er strotzt vor Selbstvertrauen. Das kann man im Leben und im Fechtsport gut gebrauchen" (zit. nach Steffan 2013). Die rechtsgläubige Beethoven-Interpretin Elly Ney publizierte 70 Jahre früher an sie gerichtete - und wohl fingierte - Feldpostbriefe, deren Verlautbarungen sich im Slogan zusammenfassen lassen:,,Mit Beethoven werde ich tapferer." Fechtsport mit Wagner im Ohr ist wohl ein sympathischeres Programm zur musikalischen Bildung.

Auch Richard Wagner begeisterte sich fürs Fechten, hatte er doch sechs Duelle auf Leben und Tod am Hals, denen er nur mit viel Glück entkam, weil seine Gegner zufällig verhindert waren oder vorher starben. Bei Wagner geht es eben nicht nur in seinen Opern ums Ganze. Auch für einen passionierten Fechter ist Wagner hier kein taugliches Modell der Lebensführung. Wir sollten uns viel lieber auf die geheime Superkraft verlassen, die wir alle besitzen: auf unsere Vernunft. Leider trifft diese auf äußerst epidemiefähige soziale Medien, die bei ihren Usern infektiöse Energien verbreiten. Ihre Vereinfachungen wirken entlastend, wir glauben, die Welt wieder zu verstehen. Fantasie schlägt jegliche Vernunft, wenn sie durch Ängste befeuert wird, das Gehirn bleibt ein leicht zu infizierendes Organ. Wenn wir dem Gebaren der Superhelden vertrauen, ist unsere Gesellschaft also zuallererst durch uns selbst gefährdet. Ob wir also unsere Welt mit Vernunft in den Griff bekommen, bleibt uns selbst überlassen.

Anmerkung 1 Als Kleinmeister wurden ursprünglich Maler bezeichnet, die kleinformatige Werke produzierten.,,Bei all diesen Werken bezieht sich das Wort ‚klein' auf das Format und hat keine pejorative Semantik" (Brunner 2022, S. 92). In diesem anfänglich wertfreien Sinne wäre also Anton Webern mit seinen Sekundenstücken als Kleinmeister zu titulieren. 2 Schon die Titel wecken Assoziationen an einen Superheld -Comic: Walter Isaacson: Steve Jobs. Die autorisierte Biographie des Apple-Gründers (München 2011); JR MacGregor: Jeff Bezos. Die Macht hinter der Maske. Einblick und Analyse des Lebens und der Erfolge des reichsten Mannes dieses Planeten (Sheridan 2018); Ashley Vance: Elon Musk, PayPal, SpaceX. Wie Elon Musk die Welt verändert (München 2015).

PHOTO (COLOR): Max Klinger: Beethoven-Denkmal Leipzig, 1902

PHOTO (COLOR): Georg Friedrich Händel: Der Held im Hero shot

PHOTO (COLOR): Superhelden in Stein gemeißelt: Mount Rushmore National Memorial

PHOTO (COLOR): Der,,veritalienerte" Johann Christian Bach galt für die deutschtümelnde Musikwissenschaft als,,Antiheld"

PHOTO (COLOR): Leonidas an den Thermopylen, Gemälde von Jacques-Louis David, 1814

PHOTO (COLOR): Die Thomasschule Leipzig, Wirkungsstätte eines Superhelden

PHOTO (COLOR): Superman war ursprünglich Instrument einer weltanschaulichen Propagandaschine

Literatur • Badinter, Elisabeth: XY - Die Identität des Mannes. München, Zürich: Piper. • Brecht, Bertolt (1981): Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. • Bröckling, Ulrich (2020): Postheroische Helden. Ein Zeitbild. Berlin: Suhrkamp. • Brunner, Georg (2022): Kleinmeister im Blick der Wissenschaft und mögliche Potenziale für die Musikpädagogik. Darlegung am Beispiel des Klosters Scheyern. In: Gabriele Hofmann, Julia Lutz (Hg.): In Resonanz: Pädagogische, didaktische und wissenschaftliche Reflexionen über Musik. Festschrift für Hermann Ullrich. Münster, New-York: Waxmann, S. 87-129. • Chambers, Francesca (2018): Trump is 'on his hero's journey' and I'm a crazy motherf* * *er. Dailymail, 12.10.2018 [https://www.dailymail.co.uk/news/article-6265299/Trumpsays -campaigning-Kanye-rapper-visits-White -House.html]. • Dath, Dietmar (2016): Superhelden. Stuttgart: Reclam. • De la Motte-Haber, Helga (1996): Handbuch der Musik -psychologie, Laaber: Laaber. • Eco, Umberto (1984): Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt a. M.: Fischer. • Gerlach, Katrin; Klingberg, Lars; Riepe, Juliane; Spiegler, Susanne (Hg.) (2014): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext. Bd. 2. Beeskow: ortus musikverlag. • Habermas, Jürgen & Derrida, Jacques (2004): Philosophie in Zeiten des Terrors. Berlin, Wien: Philo & Philo Fine Arts GmbH. • Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. • Hirn, Lisz (2020): Wer braucht Superhelden. Was wirklich nötig ist, um unsere Welt zu retten. Wien, Graz: Molden-Verlag. • Praz, Mario (1994): Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München: dtv. • Reuth, Ralf Georg (Hg.) (1996): Joseph Goebbels Tagebücher 1924-1945, Bd. 1. München, Zürich: Piper. • Schulze-Marmeling, Dietrich (2018): Der Fall Özil. Über ein Foto, Rassismus und das deutsche WM-Aus. • Schweitzer, Albert (1979): Johann Sebastian Bach. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel. • Sousa, Karin (Hg.) (2006):,,Schlage nur eine Weltsaite an". Briefe 1828-1855. Frankfurt a. M.: Insel. • Stefan, Sandra (2013): Wer - oder was sind eigentlich Wagnerianer? In: SRF Online vom 25.05.2013 [https://www.srf.ch/kultur/musik/wagner-im-ring/weroder -was-sind-eigentlich-wagnerianer]. • Törne, Lars von (2009): Zeit für Helden. Der Tagesspiegel vom 19.01.2009 [https://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/ polit-comics-zeit-fuer-helden/1423288.html]. • Wagner, Richard (1850): Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Verlag von Otto Wigand. • Walden, Thomas (2015): Hollywood Pädagogik. Wie Blockbusterfilme das Lernen des Lernens organisieren. München: kopaed. • Zweig, Stefan (1965): Sternstunden der Menschheit. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

By Jürgen Oberschmidt

Titel:
Superman und Wonder-Woman.
Autor/in / Beteiligte Person: Oberschmidt, Jürgen
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2023, Heft 1, S. 14-22
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: serialPeriodical
ISSN: 0027-4747 (print)
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Full Text Word Count: 6095

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