Nach dem Kolloquium „Das Mühlhäuser Rechtsbuch. Rechtsquelle, Rechtsverwandtschaften, Rechtslandschaften" vom 3. bis 5. Oktober 2018 in Mühlhausen luden Christa Bertelsmeier-Kierst (Marburg), Albrecht Cordes und Sonja Breustedt (beide Frankfurt a. M.) sowie Helge Wittmann (Mühlhausen) mit Förderung der Friedrich-Christian-Lesser-Stiftung zu einer weiteren digitalen Diskussion rund um das 2016 initiierte interdisziplinäre Editionsprojekt ein.
Einleitend hob Helge Wittmann die Bedeutung des Rechtsbuchs für die frühe Stadtgeschichte und das Bedürfnis nach einer neuen Textgrundlage seit der letztmalig 1936 erschienenen Edition Herbert Meyers
Auch Albrecht Cordes plädierte dafür, die deutschnationale Perspektive Meyers zu überwinden, in der man mit Hilfe von Interpolationen und Handschriftenkompilationen versuchte, zu einem „urdeutschen" mittelalterlichen Privatrecht zurückkehren zu können. Diese Geisteshaltung drücke sich u. a. durch künstlich veraltete, vermeintlich archaisch klingende Sprachformen aus.
1. Der erste Block widmete sich den nicht-rechtlichen Grundlagen. Helge Wittmann sprach über den Stadtraum und die Stadtverfassung zur Entstehungszeit des Mühlhäuser Rechtsbuches. Die Stadtentwicklung des von Wassermühlen geprägten Mulinhuson sei ab der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu beobachten. Beurkundungen ließen zunächst eine kooperative Ausübung der Stadtherrschaft durch die frühere Reichsministerialität mit den Bürgern ohne bezeugte Konflikte erkennen. Ein Wandel sei mit dem Interregnum zu verzeichnen, als Bürger die städtische Elite verdrängten und 1251 die Stadtverteidigung übernahmen. Nachdem 1256 die Reichsburg zerstört worden war, mündeten die Geschehnisse rechtlich schließlich in eine Ratsverfassung.
Zu paläographischen Besonderheiten in M sprach Christa Bertelsmeier-Kierst
Jörn Weinert (Halle a. d. Saale) wendete sich der Schreibsprache und den Textschichten zu. Er vermutete eine Stammhandschrift X und eine Zwischenstufe als gemeinsame Vorlage von M und N. Anhand der Verteilung des Pronomens man, das trotz der Sprache zur Zeit der Niederschrift nur einmal mit a, selten als men, oft aber in der vermuteten Ursprungsform in X als min begegnet, schloss er auf eine Zeit weit vor 1250. In einer Zwischenstufe seien Glossen und damit die e-Form in die Textgrundlage integriert worden. Auch der zweifach genannte Siedlungsname mulihusin, der erstmals in einer Urkunde des Mainzer Erzbischofs von 1208
Die Zwischendiskussion fokussierte sich auf die Herkunft und Ausbildung des Schreibers von X. Aufgrund der Mainzer Urkunde wurde gemutmaßt, ob er mit der Mainzer Bischofskanzlei verbunden war, da die Handschriften auch das Längungs-i (heit, gesprochen „heet") enthielten – eine Reliktform, die in Thüringen sonst nicht überliefert ist. Zukünftiger Untersuchung bedürfe die Frage, ob sich X aufgrund sprachlicher Eigenheiten in Textabschnitte aufteilen ließe. Ob die Zeilen aus dem Gedächtnis aufgeschrieben oder von Sprüchen abgeschrieben wurden, war Gegenstand reger Diskussion. Bei Anklängen wie Nu suldi hoiri
2. Im Fokus der zweiten Sektion standen das Familien- und Erbrecht. Stephan D u si l (Tübingen) referierte über die Ehe, die (Ehe-)Frau und die Vormundschaft. Da die Ehe dem Kirchenrecht vorbehalten war, fiele der Zugriff im Rechtsbuch mit dem Eheschluss nach Art. XXII. 1. als Voraussetzung für die Vormundschaft über die Frau bescheiden aus. Nach XLII. 1. sei die Frau in der Munt partiell geschäftsfähig gewesen, sofern ihre Geschäfte sechs Pfennige nicht überstiegen. In einem Nachtrag auf fol. 46
Anja Amend-Traut (Würzburg) hob die erbrechtliche Gleichstellung der Witwen und Töchter hervor. So sei das Erbrecht gem. XXVI. gleichberechtigt auf die Frau angewendet worden. Mit Alli die recht habe der Rechtssatz eine abstrakt-generelle Fassung und orientiere sich – in Abkehr von der erbrechtlichen Tradition – nicht mehr an Bedarfen oder aufgezählten Gegenständen. Auch hinterbliebene Kinder seien nach XXV. 2. geschlechtsunabhängig zu gleichen Teilen am Nachlass beteiligt. Leitgedanke hierfür sei das Bedürfnis nach einem familiengebundenen Vermögen. So solle zunächst der Ehegatte, danach die Abkömmlinge und schließlich die Vorfahren nach XXXII. erben. Nur bei einem vorverstorbenen Abkömmling könne dessen Nachwuchs erben. Bemerkenswert sei endlich die Möglichkeit nach XXVIII. 2., das liegende Gut für das Seelenheil der Kirche oder karitativ an bedürftige Verwandte zu geben.
Im Austausch blieb offen, ob der volljährige Sohn auch die Vormundschaft über minderjährige Geschwister übernahm. Konsens bestand darüber, dass die familienrechtlichen Regeln die Rechtswirklichkeit nur ausschnittsweise wiedergeben. Schließlich entbrannte eine rege Diskussion um die erbrechtliche Gleichstellung und ihre möglichen Wurzeln im flämischen Recht.
3. Der dritte Teil widmete sich dem Oberthema „Blut, Erbe und Eigen". Hendrik Baumbach (Fulda) verglich landfriedensrechtliche Bestimmungen mit dem Mühlhäuser Rechtsbuch: Danach enthalte es strafrechtliche Regeln, die sich vorrangig in Landfrieden zwischen 1179 und 1224 wiederfinden. Zum Landfrieden 1179 seien die meisten Übereinstimmungen ersichtlich. Auch sei es durch Anpassungen ausgeschlossen, dass der Verfasser einen Gottes- oder Landfrieden als unmittelbare Textvorlage benutzte. Eher sei von einer oral geprägten Kultur auszugehen, die zur Erklärung der sprachlichen und formalen Unterschiede diene.
Thematisch ergänzend blickte Andreas Deutsch (Heidelberg) auf ausgewählte Straftatbestände. Das noch im Landfrieden 1179 und im Sachsenspiegel LdR. II 68 niedergelegte enge Verständnis vom Notstandsrecht des Reisenden, mit einem Fuß auf dem Weg bleiben zu müssen, finde in XXXVI. 14. keine Entsprechung mehr. Bei der Heimsuchung nach III. betonte er die zeugenähnliche Stellung der beiden Schreigenossen. Einen Schwerpunkt bildete schließlich die Notnunft aus IV., wobei das Opfer mit aufgerissenem Kleid und zerzausten Haaren die Tat unter Geschrei vor Gericht tragen musste. Eine Wüstung, wie sie in älteren Quellen berichtet werde, sei nur noch rudimentär zu erkennen. Nach IV. 6. solle das Gebäude, in dem die Tat geschehen war, nur niedergebrochen werden, wenn das städtische Anwesen dem Täter gehörte. Allen Leuten, die der Frau nicht halfen, solle danach heißes Blei in die Ohren gegossen werden.
Über Lehen und Vasallität sprach Carsten Fischer (Trier). Er stellte bereits zu Beginn die untergeordnete Rolle des Lehenrechts heraus, das abseits der Erbfolge für das gesamte Vermögen, mithin auch Lehen, nach XVII. kaum erwähnt werde. Ob auch die Wasser- und Weidegenossenschaft nach XIII. 7. lehensrechtlich begründet wurde, lasse sich mangels Kontextes nicht sicher einordnen. Nur flüchtig beschäftige sich das Mühlhäuser Rechtsbuch mit der Vasallität: Der Herrendienst begründe gern. XXXIII. 4. eine ehafte Not des Mannes, der gerichtlichen Ladung fernzubleiben. Ob aus dieser Stelle eine Vasallität erkennbar sei, bleibe jedoch unklar – jedenfalls spreche sie für eine Unfreiheit und Hörigkeit, ggf. auch für eine Ministerialität.
Diskutiert wurde über den Zweck des Bleigusses bei der Notnunft und mögliche Betroffene. Während der Sachsenspiegel über den Grund schweige, sei ursprünglich die Reinigung des Tatorts gewollt, während spätere Land- und Stadtrechte diesen Zweck eingrenzten und Ablösungen ermöglichten. Zumindest der Zeichner der Stammhandschrift X des Sachsenspiegels habe unter den umstehenden Lebewesen nur Tiere, nicht aber Personen verstanden.
4. Zur gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsverfolgung sprach Bernd Kannowski (Bayreuth). Er stellte heraus, dass kein eigenständiges Marktgericht bestand, aber ein marktspezifisches Verfahren begegne. Wer geladen wurde, müsse gem. XLV. 1. auf die Klage antworten. Erfolge keine Ladung, könne der Richter eine Geldforderung nach XLV. 2. anordnen. Widersetze sich der Betroffene der Anordnung, seien wegen Verachtung des Gerichts sechs Pfennige zu zahlen. Aus der Möglichkeit des Schuldners nach XLV. 8., zur Auslösung einer Pfandsache ein Darlehen bei den Juden aufzunehmen, schloss Kannowski auf ortsansässige jüdische Pfandleiher. Der Mordbrand in XLVI. als Beispiel privater Rechtsdurchsetzung sei mit der nachbarlichen Ersatzforderung für ihre mitabgebrannten Häuser zivilrechtlich ausgestaltet. Die ersten zehn des von Meyer in 14 Absätze untergliederten Artikels
Die sich nur indirekt erschließenden Gerichtsstrukturen und Zuständigkeiten beschrieb Steffen Schlinker (Würzburg). Wohl sei von einer Unterscheidung zwischen hoher und niederer Gerichtsbarkeit auszugehen. Nach XVI. 3. entschieden Bürger als Urteiler, während diese Aufgabe im Hochgericht vermutlich Ministerialen zufiel. Der Begriff des Richters meine keine bestimmte, sondern die jeweilige am Ort anwesende ranghöchste Person, sodass der Verfasser des Rechtsbuchs eindeutige Zuordnungen meide. Nach IX. 1. könne der Richter durch einen botin mit ambivalenter Funktion vertreten werden: Er spreche die Ladung als Ausführungsorgan aus und übernehme ad hoc die richterliche Funktion. Schließlich ergebe sich aus X. 1., XXXVIII. 2. und XLIV. 8., dass der Schultheiß sowohl eine gerichtliche Hilfsperson als auch mutmaßlich Richter im Niedergericht gewesen sei, sofern die städtische Ordnung betroffen war.
Im folgenden Austausch hielt man es mangels eines Marktgerichtes begrifflich für vorzugswürdig, von Marktangelegenheiten zu sprechen. Auch die ggf. zu moderne Unterscheidung von Straf- und Zivilrecht wurde hinterfragt, wobei die Übernahme von peinlichen Strafen aus dem Landrecht durchaus dazu berechtige, von Strafrecht zu sprechen. Im Vergleich zum Goslarer Stadtrecht fand schließlich eine Diskussion über die Rolle des Pfarrers in der Quellengattung statt.
5. Anhand von Bürger, Nachbar und Gast stellte Sonja Breustedt das Bürgerrecht und die Stadtverfassung vor. Neben dem Bürgeraufnahmegeld an den Rat und an die Stadt nach XXXIX. 1. seien keine materiellen Erfordernisse erkennbar. Gern. XXXVIII. 1. musste man sich innerhalb von vier Wochen entscheiden, ob man Bürger von Mühlhausen werden wollte. Daneben identifiziere sich der Verfasser des Rechtsbuchs mit den dreimal genannten Nachbarn mit einer ländlich geprägten, genossenschaftlichen Gruppe. Der Gast werde hingegen zwölfmal und stets im Kontext mit Zoll und Handel erwähnt. Mit den Einrichtungen des Rates, des Schultheißen und der Bürger sei eine beginnende Kommunenbildung zu erkennen, wobei dem Rat aufgrund des ausschließlichen Treueschwurs gegenüber der Stadt noch kein Repräsentationscharakter zukomme. Daneben seien mit dem Heimbürgengericht und dem Mordbrand auch untypische Elemente zu erkennen, die das Rechtsbuch als Zeugnis einer Übergangszeit von ländlicher zu städtischer Prägung auswiesen.
Albrecht Cordes zeichnete die erlaubte Gewalt anhand von Deliktsmatrizen nach. Beim Diebstahl nach V. wurde ein hohes Abstraktionsniveau sichtbar. Ähnliche Distinktionen ergaben sich aus VII. 4./5. im Fall der Falschmünzerei: Konnte sich der Aufgegriffene nicht auf einen Gewährsmann berufen, verlor er seine Hand. War es ihm nicht möglich, den Benannten innerhalb von dreimal 14 Tagen zu präsentieren, trat dieselbe Rechtsfolge ein. In beiden Fällen konnte der Falschmünzer die peinliche Strafe gegen Geldzahlung abwenden, wurde aber rechtlos. Fand er seinen Gewährsmann, sei dieser wohl nach X. belangt worden. Vielfältige Konstellationen berücksichtigte auch die Regelung zur Zechprellerei: Dem Wirt war Selbsthilfe nur gestattet, sofern er den Geflohenen auf offener Straße vor dem nächsten Morgen fing. Gelang dies nicht, musste er den Zechpreller vor dem Richter verklagen. Flüchtete der Täter in das Haus eines Dritten, musste dieser den Schuldner herausgeben oder die Geldschuld des Beherbergten begleichen. Diese scharfsinnigen und schematisch durchdrungenen Lösungen seien laut Einschätzung des Referenten über die rechtspraktisch zu entscheidenden Konflikte hinausgegangen.
In der Erörterung ging das Plenum aufgrund der Stadtverfassung von einer Entstehung des Rechtsbuchs nach 1230 aus. Bei der Zechprellerei vermisste man die strafrechtliche Dimension und vermutete, der Schreiber habe einen konkreten Anlass zur Niederschrift gehabt und über den tatsächlichen Hergang hinaus denkbare Varianten hinzugefügt.
6. Die Abschlussdiskussion warf vor allem Fragen rund um die Ur- und Vorformen auf: Gehörte der Schreiber der Stammhandschrift X zum Bürgertum oder war er Reichsministerialer? Hatte der Autor der wohl aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts stammenden Urfassung des Rechtsbuchs einen weltlichen oder geistlichen Hintergrund und beherrschte er Latein? Wohl habe der Autor keine oberitalienische universitäre Bildung erfahren, mag jedoch Verbindungen zur Erfurter oder Mainzer Rechtsschule unterhalten haben. Der dreifach verwendete Ausdruck wan wi alli naciburi heizin
By Raphael Holfeld
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