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Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €.

Grimmer, Bettina
In: Soziologische Revue, Jg. 46 (2023-04-01), Heft 2, S. 158-162
Online academicJournal

Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 € 

Keywords: Europäisierung; Wissenschaftssoziologie; Feldtheorie; Autonomie; Exzellenz

Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York : Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €

„Im Dienste ihrer Exzellenz" – das klingt nach höfischer Gesellschaft. Aber was hat diese mit den Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits und europäischer Vergesellschaftung andererseits zu tun? Die Antwort des Autors lautet: Die Verbindung liegt im Wettbewerb um Drittmittel. Doch der Reihe nach.

I.

Der „akademische Kapitalismus" ([6], 2011) gilt als Antagonist wissenschaftlicher Autonomie: Gesteuert durch New Public Management, wird Forschung zunehmend projektförmig eingepasst in eine marktliche Verwertungslogik zugunsten von Wirtschaft und/oder Politik. In Europa tritt die EU als treibende Kraft dieser Entwicklung auf, indem sie selektiv (v. a. anwendungsbezogene) Forschungsförderung betreibt und symbolisch die Vision einer wissensbasierten Ökonomie hochhält, die auf einer „exzellenten" Forschung gründet. Vor diesem Hintergrund fragt Vincent Gengnagel in seiner Dissertation nach dem Kampf um Autonomie im wissenschaftlichen Feld. Am Beispiel der Starting Grants des European Research Council (ERC), der prestigeträchtigsten und am stärksten auf Grundlagenforschung ausgerichteten Förderlinie der EU, untersucht er, wie wissenschaftliche Autonomie in den Mission Statements der geförderten Forschungsprojekte aus den Geistes- und Sozialwissenschaften adressiert wird. Er kommt zu dem Schluss, „dass dabei gerade die politikferne ‚autonome Wissenschaft' als besondere Ressource europäischer Vergesellschaftung mobilisiert wird" (S. 12).

Das Buch gliedert sich in drei Teile, wobei der erste Teil entlang verschiedener Gesellschaftstheorien die Grundlagen einer kritischen Soziologie des Politischen erarbeitet. Zunächst wird Bourdieu mit Rekurs auf seine Intention, die Menschen über ihre Verwobenheit in Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzuklären, als „Denker des Politischen" (S. 37–45) eingeführt. Der Politikbegriff erfährt anschließend eine Erweiterung auf das Politische im Mouffeschen Sinne, um damit die Hegemonialität der wissenschaftlichen Exzellenzrhetorik in den Blick nehmen zu können. Der Hegemoniebegriff Gramscis wird schließlich durch Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt ersetzt, um abseits politischer Diskurse stärker soziale Praktiken ins Zentrum zu stellen. Daraufhin beschäftigt sich Gengnagel aus strukturfunktionalistischer Perspektive mit kultureller Legitimierung und den Paradoxien der Moderne, die mit verschiedenen Problematisierungen von Politik und dem Politischen in Bezug gesetzt werden. Gengnagel schlägt eine „machtanalytische Wendung des Strukturfunktionalismus" (S. 93) vor, indem er das Konzept der Interpenetration gesellschaftlicher Systeme in einen (Bourdieuschen) feldtheoretischen Rahmen überführt. Abschließend diskutiert er die Möglichkeiten von Herrschaftskritik durch die Wissenschaftssoziologie, die durch ihre eigene Verankerung im wissenschaftlichen Feld selbst an der Produktion hegemonialer Diskurse mitwirkt.

Der zweite Teil des Buches beginnt mit einer feldanalytischen Betrachtung von Wissenschaft, die herausstellt, dass Autonomie immer nur relativ sein kann. Vor diesem Hintergrund widmet sich der Autor den „Reformen der Gegenwart" (S. 126–154), wobei er zunächst der (theoriebasierten, meist marxistischen) Kritischen Theorie die (gesellschaftsbasierte) soziologische Kritik gegenüberstellt. Darunter versteht er sowohl eine Bourdieusche kritische Soziologie als auch deren Umkehrung zu einer Boltanksischen Soziologie der Kritik, der er sich ebenfalls verpflichtet fühlt. Unter diesen Vorzeichen geht es nun um den aktuellen „Strukturwandel in der akademischen Selbstbeschreibung" (S. 138–147), zu dem er eine „affirmative Governance-Perspektive" (S. 140) als Befürworter der Reformen einer Kritik gegenüberstellt, die jene als dysfunktional bewertet. Aus der Wissenschaftssoziologie tritt noch eine dritte Position hinzu, die die Reformen mit systemtheoretischer Indifferenz betrachtet, was Gengnagel in der Summe zur Kritik veranlasst, dass die Debatte um den Strukturwandel der Wissenschaft nur unzureichend mit dem Feld der Macht verknüpft sei. Das anschließende Kapitel rekonstruiert historisch, wie wissenschaftliche Autonomie mit dem aufstrebenden deutschen Nationalstaat in Verbindung steht. Die Unabhängigkeit der Wissenschaften von der Kirche ist in Verbindung mit der aufkommenden Meritokratie nämlich direkt mit den Aufstiegsinteressen des Bürgertums verbunden und damit selbst heteronom, weil eng an den Staat gebunden. Bereits mit der Gründerzeit beginnt die Einflussnahme wirtschaftlicher Akteure auf das akademische Feld und es bildet sich jenseits des (staatsnahen) Humanismus ein (industrienaher) Pol der Natur- und Ingenieurwissenschaften heraus. Autonomie ist also immer relativ, je nachdem, ob man sie von Kirche, Staat oder Wirtschaft aus denkt.

Im dritten Teil des Buches wird das nationalstaatliche auf das europäische Feld der Wissenschaft übertragen. Hier folgt schließlich die empirische Fallstudie zum ERC, die die Mission Statements aller zwischen 2007 und 2012 mit Starting Grants geförderten Projekte aus dem Bereich Sozial- und Geisteswissenschaften analysiert. Nach einer qualitativen Codierung der Projektbeschreibungen identifiziert Gengnagel mittels Topic Modelling und Korrespondenzanalyse die vier Themencluster Märkte und Finanzen, Transnationale Politik und Institutionen, Europäische Geschichte und Kultur sowie Psychologie und Neurowissenschaften. Diese vier Cluster sind nun in einem zweidimensionalen Raum verortet. In der ersten Dimension variieren sowohl die Bezüge zur Disziplinarität (wobei die eigene Verortung in der Disziplinarlandschaft für akademische Autonomie steht) als auch die Relevanzbegründungen (die am autonomen Pol vor allem wissenschaftlich und am heteronomen Pol vor allem gesellschaftlich sind). Damit ist die erste Dimension „als Hauptdimension der akademischen Autonomie-Heteronomie zu betrachten" (S. 238). In der zweiten Dimension variieren explizite Bezüge auf Europa (wobei der heteronome Pol durch einen starken und der autonome durch einen fehlenden Europabezug gekennzeichnet ist). Die Psychologie und die Neurowissenschaften sind weder an Europa noch stark an außeruniversitären Bezügen orientiert und damit in beiden Dimensionen relativ autonom. Den stärksten Europabezug hat das Cluster der transnationalen Politik und Institutionen, das sich in der Mitte zwischen akademischer Orientierung und Außenorientierung befindet. Eine starke Außenorientierung (und damit akademische Heteronomie) hat das Cluster Märkte und Finanzen, wobei sein Europabezug im mittleren Bereich liegt. Ähnlich stark wie in dem politikwissenschaftlich orientierten Cluster ist der Europabezug im Cluster Europäische Geschichte und Kultur, wobei die akademische Autonomie hier am ausgeprägtesten ist: „Indem sie ihre Deutungsmacht in europäische Kultur und Geschichte investieren, gelingt es diesen Projekten aus den klassischen Geisteswissenschaften, ihre akademisch dominante Position zu sichern und in den ERC zu übersetzen [...] und [...] als europäische ‚Exzellenz' konsekriert zu werden, indem sie umgekehrt der europäischen Vergesellschaftung den Hof machen" (S. 253, Hervorh. i.O.). Damit wird nicht nur ersichtlich, dass sich die Geisteswissenschaften ihre akademische Autonomie erneut mit ‚Staatsnähe' erkaufen. Auch das Bild der höfischen Gesellschaft ergibt vor dem Hintergrund der Rhetorik der Exzellenz nun Sinn. Ähnlich wie [3] (2019) in seiner Analyse der höfischen Gesellschaft beschreibt, geht es für die einst autonomen (weil nationalstaatlich protegierten) Wissenschaften darum, sich der „Gunst einer Exzellenz würdig zu erweisen, die einen legitimatorischen Ausgangspunkt sowohl gesellschaftlicher als auch akademischer Macht darstellt und damit an der kulturellen Verankerung beziehungsweise ‚Internalisierung' einer europäischen Gesellschaftsordnung mitwirkt" (S. 17).

II.

Gesellschaftstheoretisch informiert verortet sich Gengnagel in einer kritischen Soziologie des Politischen. Er vereint poststrukturalistische Konzepte von Politik und Hegemonie mit strukturfunktionalistischen Analysen der Moderne in einer Bourdieuschen Theorie sozialer Felder. Das Theoriegebäude ist kohärent, allerdings etwas umständlich aufgebaut und bisweilen redundant. Die Argumentation hätte auch ohne das wiederkehrende Heranziehen theoretischer Gegner (meist Luhmann, aber auch Habermas) überzeugt. Und so spannend die theoretischen Synthesen sind – auch sie wären für die Gesamtkonzeption der Arbeit nicht notwendig gewesen. Das Politische und die Hegemonie sind in Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt (und insbesondere der hier gar nicht erwähnten doxa ([2], 2014)) ja bereits angelegt, ebenso wie der Interpenetrationsbefund bereits Bestandteil der Theorie sozialer Felder ist. Auch die Erweiterung zu einer Soziologie der Kritik überzeugt letztendlich nicht, weil sie weder systematisch ausgearbeitet ist noch in der Analyse erfolgt. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als eine sehr gelungene strukturalistische Feldanalyse im Sinne Bourdieus – von der kritischen Haltung über die instruktive historische Rekonstruktion des Feldes bis hin zur Korrespondenzanalyse.

Damit liegt die unbestreitbare Stärke dieses Buches in der empirischen Analyse. Deswegen ist es schade, dass man erst nach 200 Seiten dorthin gelangt und die eigentliche Empirie nach 45 Seiten endet. Das Theorie-Empirie-Ungleichgewicht ist vor allem deswegen bedauerlich, weil Gengnagel, wenn man der angeführten Literatur folgt, zuvor eine Analyse des Materials im Stil der Grounded Theory durchgeführt hat, von der wir leider keine Ergebnisse erfahren und die nur als Hintergrundinformation genutzt wird. Die Systematisierung und Offenlegung dieser Analyse hätte es ermöglicht, die Soziologie der Kritik wirklich ernst zu nehmen und sich im Sinne [1] (2010) nicht auf die Aufklärung durch die Soziologie zu verlassen, sondern der Kritik der Akteure zu folgen. Zu fragen wäre, welche Kritik und welche Rechtfertigungen in den Mission Statements selbst zu finden sind.

Ungeachtet dieser Kritikpunkte leistet Gengnagel mit seiner spannenden Studie einen wichtigen Beitrag zu verschiedenen Debatten: Erstens trägt sie zur soziologischen Europaforschung bei, indem Europäische Vergesellschaftung verstanden wird als „Verschiebung akademischer Deutungsmacht, die von nationalen Universitäten, akademischen Disziplinen und Forschungsförderungseinrichtungen [...] graduell auf den ERC und seine Wettbewerbslogik übergeht" (S. 13). Damit ist die Studie ein Beispiel „Horizontaler Europäisierung" ([5] et al., 2012) das zeigt, dass Europa mehr ist als das Ergebnis politischer Steuerung und dass Europasoziologie auch Kultursoziologie ist. Indem sie uns zudem Einblick gewährt, wie Vergesellschaftung hier geschieht, gilt ein zweiter Beitrag der Soziologie der Macht, der Herrschaft und der Gouvernementalität. Analog zur Elias-Metapher beschreibt Gengnagel eine „Refeudalisierung" (S. 268–274) der Wissenschaft, die darauf bedacht ist, im Kampf um Anerkennung ihrer Exzellenz ihre eigene Autonomie zu riskieren: Wer exzellent sein möchte, muss sich dem Wettbewerb der Verwertungslogik stellen. Dies ist ein Akt symbolischer Gewalt und zugleich ein beeindruckendes Beispiel der Etablierung einer neoliberalen Gesellschaftsordnung im Sinne einer „Kultivierung des Marktes" ([4], 2008).

Literatur 1 Boltanski, L. (2010). Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008. Suhrkamp. 2 Bourdieu, P. (2014). Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992. Suhrkamp. 3 Elias, N. (2019). Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie (14. Aufl.). Suhrkamp. 4 Gertenbach, L. (2008). Die Kultivierung des Marktes. Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus. Parodos. 5 Heidenreich, M., Delhey, J., Lahusen, C., Gerhards, J., Mau, S., Münch, R., & Pernicka, S. (2012). Europäische Vergesellschaftungsprozesse. Horizontale Europäisierung zwischen nationalstaatlicher und globaler Vergesellschaftung. http://horizontal-europeanization.eu/downloads/pre-prints/PP%5fHoEu%5f2012-01%5fheidenreich%5fetal%5feuropaeische%5fvergesellschaftungsprozesse.pdf 6 Münch, R. (2011). Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform. Suhrkamp.

By Bettina Grimmer

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Titel:
Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €.
Autor/in / Beteiligte Person: Grimmer, Bettina
Link:
Zeitschrift: Soziologische Revue, Jg. 46 (2023-04-01), Heft 2, S. 158-162
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0343-4109 (print)
DOI: 10.1515/srsr-2023-2018
Schlagwort:
  • EUROPEAN Research Council
  • IM Dienste ihrer Exzellenz: Der Beitrag der Sozial-und Geisteswissenschaften zur europaischen Vergesellschaftung (Book)
  • GENGNAGEL, Vincent
  • RESEARCH grants
  • SOCIAL sciences
  • SOCIALIZATION
  • EUROPEANIZATION
  • NATION-state
  • EXCELLENCE
  • NONFICTION
  • Subjects: EUROPEAN Research Council IM Dienste ihrer Exzellenz: Der Beitrag der Sozial-und Geisteswissenschaften zur europaischen Vergesellschaftung (Book) GENGNAGEL, Vincent RESEARCH grants SOCIAL sciences SOCIALIZATION EUROPEANIZATION NATION-state EXCELLENCE NONFICTION
  • Autonomie
  • Europäisierung
  • Exzellenz
  • Feldtheorie
  • Wissenschaftssoziologie Language of Keywords: German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Author Affiliations: 1 = Pädagogische Hochschule Zürich, Abteilung für Bildungswissenschaftliche Forschung, Zürich, Switzerland
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