Wer sich heute mit der Geschichte der Polizei in Deutschland oder in einem einzelnen Bundesland befasst, läuft schnell Gefahr, einer bestimmten Tendenz verdächtigt zu werden: entweder als (zu) ��apologetisch' oder als (zu) ��defätistisch' zu Werke gegangen zu sein. Der Probleme und ��heiklen Themen', der neuralgischen Punkte, gibt es schließlich genug:
Aktuell gilt es, Phänomenen wie dem ��Racial Profi ling' -- also dem verdachtsunabhängigen Kontrollieren ��nicht-weißer' Menschen durch die Polizei -- kritisch nachzugehen. Die Polizei(en) selbst versuchen dem vorzubeugen, indem verpfl ichtende Kurse gegen Rassismus und Diskriminierung in die Ausbildungscurricula integriert werden, wie dies im Bericht des 1993 gegründeten Antidiskriminierungsausschusses des Europarats (European Commission against Racism and Intolerance = ECRI) für die Jahre 2014 bis 2019 gefordert worden ist1.
Auch eine mangelnde Fehlerkultur in den Reihen der Polizei wird häufi g attestiert, einhergehend mit einer "überbetonten Männlichkeitskultur", "starkem Besitz- und Statusdenken" sowie einem Hang zur "Hierarchisierung"2. Kritik werde allzu schnell als "Generalverdacht" oder "Frontalangriff" bezeichnet, gegen die es die Reihen zu schließen gelte. Hilfreichen Instrumenten wie Feedback, Supervision oder einem Reporting System gegenüber reagiere man eher reserviert. Aufgrund einer "negativen Fehlerkultur", die Fehler eben nicht als "Lernchancen" betrachte, komme es vielmehr zu Phänomenen wie "Vertuschung und Verschleierung von Fehlern". Eines der grundlegenden Probleme benennt Miloš Vec in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der Rezension einer polizeiwissenschaftlichen Publikation: "Als Teil der öffentlichen Gewalt muss die Polizei sich in einem Rechtsstaat an vielfältige juristische Normen halten, deren Dichte und Regulierungstiefe zunehmen:
Gesetze, Erlässe [!], Dienstvorschriften normieren zugunsten vielfältiger Zwecke alle möglichen Tätigkeiten. Politische Erwartungen kommen hinzu, die manchmal die Priorisierung von Verfolgungen fordern und manchmal geringeren Kontrolldruck implizieren. Schließlich aber sollen auch zivilgesellschaftliche Normen erfüllt werden: Die Polizei [ ] soll mit Bürgerinnen und Bürgern kommunizieren, teils hoheitlich, teils auf Augenhöhe, aber immer schnelle, klare und richtige Entscheidungen [ ] treffen".
Insbesondere von Seiten der politischen Linken wird regelmäßig Kritik an unverhältnismäßig harten oder übergriffi gen Polizeieinsätzen geäußert, auch in Nordrhein-Westfalen3. Im Zuge der Coronapandemie soll es wiederholte Male zu grenzwertigen oder grenzüberschreitenden polizeilichen Kontrollen gekommen sein4. Dass die Polizei respektive die Sicherheitsbehörden in anderen Bundesländern und Staaten mit ähnlichen Problemen -- mangelnde Transparenz, Sympathien für politisch weit rechts zu verortendes Gedankengut -- zu kämpfen hat, kann kaum als entlastendes Moment herangezogen werden5. Und so ist es wiederum und nicht zuletzt Aufgabe der Polizei selbst, diesen und ähnlichen Entwicklungen entgegenzuwirken.
Der Berliner Innensenator Andreas Geisel bekundete im März 2020, künftig intensiver gegen Polizeibeamt:innen vorgehen zu wollen, die rechtsextreme Tendenzen aufwiesen. Etwa zeitgleich sprach sich der Bund deutscher Kriminalbeamter dafür aus, wissenschaftliche Studien zum Extre- mismus in den Reihen der Polizei erstellen zu lassen. Gegen Antisemitismus in den Reihen der Polizei setzt sich auch das Berliner Wilhelm-Krützfeld-Projekt ein6.
Für eine differenzierte Sicht der Dinge -- oder besser der Rolle der Polizei -- stand der 2020 verstorbene ehemalige Innenminister von Nordrhein-Westfalen Burkhard Hirsch7. Tatsächlich fällt Vertretern der Polizei hier oder dort die Abgrenzung zum rechten Rand nicht leicht8 -- was sich jedoch nicht ohne Weiteres auf ��die Polizei' im Allgemeinen übertragen lässt. Im Oktober 2020 wurde schließlich mit dem 64-jährigen Diplom-Politologen Uwe Reichel-Offermann ein Sonderbeauftragter für rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei ernannt9. Das im Februar 2021 der Öffentlichkeit vorgestellte ��Lagebild' der von Reichel-Offermann geleiteten ��Stabsstelle rechtextremistische Tendenzen in der Polizei' kam zu dem Ergebnis, dass es zwar rechte Gesinnungsgemeinschaften, nicht aber regelrechte rechte Netzwerke in der Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen gebe10.
Dem vorliegenden Band gelingt es weitgehend, eine wohltuende kritische Distanz zum Betrachtungsgegenstand zu wahren, ohne zu sehr in die eine oder andere Richtung abzudriften, wenngleich das Lager der dezidierten ��Polizeikritikerinnen und -kritiker', nicht zuletzt bedingt durch die verwendeten Quellen, kaum oder zumindest nur indirekt zu Wort kommt. Die von Frank Kawelovski und Sabine Mecking verantwortete und vom Geschichtsort Villa ten Hompel herausgegebene Publikation widmet sich der Geschichte der Polizei in Nordrhein-Westfalen, wobei Polizeigeschichte als Gesellschaftsgeschichte verstanden wird, wie das die Einleitung ersetzende erste Kapitel ausweist (��Polizeigeschichte ist Gesellschaftsgeschichte', S. 7-9). Tatsächlich ist es kaum von der Hand zu weisen, dass sich im polizeilichen Handeln und Sanktionieren Normen, Regeln und abweichendes Verhalten, Regelverstöße und deren Ahndung also, ablesen lassen, die zum jeweiligen Zeitpunkt die Gesellschaft dominieren, prägen und charakterisieren. So kann die Polizei durchaus als Spiegel des ��Zeitgeistes' betrachtet werden (S. 7).
Als bedeutende Themen, die es zu beleuchten gilt, nennen die Autor:innen den Umgang der nordrhein-westfälischen Polizei mit Kommunisten und Homosexuellen (1950er Jahre), mit der gesellschaftlichen Liberalisierung (1960er Jahre), mit dem (Links-)Terrorismus (1970er Jahre), mit Massendemonstrationen gegen Atomkraft und Kriegsgefahr (1980er Jahre), mit den Folgen des Falls von Mauer und ��Eisernem Vorhang' (1990er Jahre), mit dem Wandel der Polizei hin zu einer Institution, die sich in erster Linie als ��Dienstleister' am Bürger und an der Bürgerin versteht (seit den 2000er Jahren). Des Weiteren erläutern Kawelovski und Mecking kurz und knapp, weshalb man sich für eine chronologische Gliederung der Publikation entschieden hat, die gelegentlich durch thematische Erläuterungen von Sachzusammenhängen durchbrochen wird (S. 9).
Eine solche Gliederung -- anstelle einer eher thematisch ausgerichteten -- ist durchaus vertretbar, da in vielen Fällen leichter ��durchzuhalten'; sie birgt jedoch andererseits die Gefahr von Redundanz und Disruption, da sich Sachthemen, wie die Verfasser zu Recht bemerken, selten an Dekadengrenzen zu orientieren pfl egen (S. 9). Spürbar wird dies, um nur ein Beispiel zu nennen, an der Entwicklung der polizeilichen Verwaltungsarbeit: Den spät einsetzenden, aber dann umso nachhaltigeren Einsatz von elektronischer Datenverarbeitung und Computerprogrammen respektive Fachverfahren zeichnet die Publikation ansatzweise nach, doch muss man sich die entsprechenden Informationen in verschiedenen Kapiteln ��zusammensuchen' (z.B. S. 64, S. 80)11.
Davon abgesehen, decken die sieben chronologischen Kapitel, die jeweils einer Dekade gewidmet sind, die wesentlichen polizeilichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen (und häufi g auch darüber hinaus) ab, ohne sich -- bei einer Überblicksdarstellung ��naturgemäß' -- allzu sehr ins Detail verlieren zu können bzw. zu wollen. Die ��Schlussbemerkungen -- Sicherheit und Freiheit' (S. 116f.) hätten ruhig ein wenig umfangreicher ausfallen können. Hier begegnen einige Allgemeinplätze ("Die Polizei bewegt sich damit in eine unbekannte Zukunft. [ ] Angesichts der zunehmend als unsicher und unübersichtlich empfundenen Zeiten scheint die Polizei heute wieder an einem Scheideweg zu stehen", S. 116f.), die deshalb allerdings noch nicht gleich unwahr sein müssen. Etwas mehr ��Substanz' hätte an dieser Stelle jedoch nicht geschadet. Jene liefert das ��skeptische Nachwort' von Claus LEGGEWIE nur bedingt (��Wie ich ,Bullen' respektieren lernte und den Respekt nicht verlieren möchte', S. 119-121). Auch Leggewie endet mit einem recht simplen Allgemeinplatz: "Wenn unsere Gesellschaft derzeit autoritäre Welt- und Menschenbilder hervorbringt, ragt das zwangsläufi g auch in die Polizei hinein" (S. 121). So weit, so schlecht und (leider) auch so wahr. Doch wann, bitteschön, wäre das jemals anders gewesen? Was ist aus dieser ��Erkenntnis' abzuleiten?
Anmerkungen (S. 122-133) und Bildnachweis (S. 134f.) beschließen den empfehlenswerten Band. Wenngleich die ausgewerteten und zum Abdruck gelangten Quellen nahezu ausschließlich aus öffentlichen, polizeilichen und Presse-Beständen stammen, ergibt sich ein Kaleidoskop, das 70 Jahre Polizeigeschichte in Nordrhein-Westfalen abbildet. Eine ��alternative Sicht' der Dinge sähe vermutlich anders aus und bleibt weiterhin Desiderat. Hervorzuheben ist das reichhaltige Bildmaterial, das sowohl in Schwarz-Weiß als auch in Farbe präsentiert wird. Die Publikation füllt letztlich eine schmerzliche Lücke im Buchregal, lässt jedoch noch hinreichend Platz für nachfolgende Studien zum Gesamtthema, die sich den einzelnen Themen intensiver und durchaus auch mit anderem Blickwinkel nähern können.
By Martin Schlemmer, Duisburg