Zum Hauptinhalt springen

Rheinische Landeskunde im Wandel Bericht über die Herbsttagung 27./28. Sept. 2021.

Weller, Von Tobias ; Winter, Naemi
In: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 86 (2022), S. 447-453
Online academicJournal

Rheinische Landeskunde im Wandel Bericht über die Herbsttagung 27./28. Sept. 2021 

Das Jahr 2020 hätte eigentlich Anlass geboten, den 100. Jahrestag der Gründung des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IGL) an der Universität Bonn zu feiern und die facettenreiche Geschichte dieser in vieler Hinsicht innovativen Forschungseinrichtung zu würdigen. Freilich konnten entsprechende Podien aufgrund der Corona-Pandemie im Jubiläumsjahr nicht stattfi nden. Insofern hat die Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft -- sozusagen mit einjährigem Jubiläumsverzug -- die nächste Gelegenheit genutzt und ihre Herbsttagung 2021 der Geschichte des Instituts gewidmet. Ziel war es, die Genese und Entwicklung dieses traditionsreichen Instituts Revue passieren zu lassen und im Sinne einer Bestandsaufnahme die Tätigkeit seiner drei Abteilungen (Geschichte, Sprachforschung, Volkskunde/ Kulturanthropologie) zu skizzieren, die seit der Aufl ösung des IGL im Jahr 2005 im Zuge der Neugliederung der Bonner Philosophischen Fakultät durch die entsprechenden Abteilungen des Instituts für Geschichtswissenschaft, des Instituts für Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft sowie des Instituts für Archäologie und Kulturanthropologie fortgesetzt wird.

Aufgrund der geltenden Corona-Schutz-Bestimmungen fand die vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte geförderte und von allen drei Nachfolgeabteilungen gemeinsam veranstaltete Tagung im digitalen Format als Zoom- Meeting statt. Sie war dem Andenken an Prof. Dr. Wilhelm Janssen († 12. Juli 2021) gewidmet, der das Institut von seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Rheinische Landesgeschichte 1992 bis zu seiner Emeritierung 1998 geleitet hat.

Die einleitende Sektion I zur Genese des Instituts wurde eröffnet von Tim KROKOWSKI (Bonn), der einen konzisen Überblick über den Entstehungsprozess, das erfolgreiche Fortschreiten sowie die Rezeption des �€�Rheinischen Wörterbuchs' gab. Das 1904 initiierte und in starkem Maße dem konservatorischen Motiv der �€�bedrohten' Mundart verpfl ichtete Projekt zielte darauf ab, den dialektalen Wortschatz des Rheinischen in seinen moselfränkischen, ripuarischen und niederfränkischen Dialekt- Varianten zu erfassen und der Sprachwissenschaft zugänglich zu machen; seit 1930 war es organisatorisch mit dem Institut verbunden. Nach den ursprünglichen Planungen sollte das Wörterbuch bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen, was sich angesichts der Fülle des Materials allerdings als undurchführbar erwies, weshalb der Bearbeitungsrahmen nach dem Ersten Weltkrieg auf die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Mundart geläufi gen Wörter eingeschränkt wurde. Nach dem Tod des ersten leitenden Bearbeiters Johannes Franck (1854-1914) ruhte die Arbeit am �€�Rheinischen Wörterbuch' über Jahrzehnte hinweg weitgehend auf den Schultern von Josef Müller (1875-1945), der bis zu seinem Tod insgesamt sechs voluminöse Bände vorlegen konnte und eine Materialsammlung hinterließ, auf deren Grundlage Heinrich Dittmaier (1907-1970) und Matthias Zender (1907-1993) das Werk bis 1971 fertigstellen konnten. Das mit zahlreichen Karten zur Wortgeographie ausgestattete Dialekt-Wörterbuch ist in der Sprachforschung breit rezipiert worden und inzwischen auch im Online-Format zugänglich (https://woerterbuchnetz.de/?sigle=RhWB#0, letzter Zugriff am 28.04.2022). Schon nach dem Erscheinen der ersten Lieferungen wurde allerdings auch deutlich, dass die Resonanz bei Regional-/Lokalforschern und Heimatfreunden weitaus geringer ausfi el, da der lexikalische Aufbau der Wortartikel, das sprachwissenschaftliche Fachvokabular samt entsprechenden Abkürzungen sowie das voraussetzungsreiche Verweissystem für ein Laienpublikum nicht einfach zu nutzen sind.

Einen instruktiven Einblick in die Entwicklung der Spezifi k des Faches Volkskunde bzw. Kulturanthropologie gab Dagmar HÄNEL (Bonn). Gestützt auf Sammlungen, die teils aus romantischen, teils auch aufklärerischen Motiven angelegt worden waren, erfuhr die damals als Volkskunde bezeichnete Disziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Institutionalisierungsschub und war insofern sowohl Produkt als auch Symptom der Moderne, womit eine dezidiert ,nationale' Aufl adung von Volk bzw. kollektiven Identitäten einherging. Eine erste Professur für Volkskunde wurde 1919 in Hamburg eingerichtet. Im neu gegründeten IGL haben sich vor allem Hermann Aubin (1885-1969), Theodor Frings (1886-1968) und Josef Müller (1875-1945) um die akademische Etablierung der Volkskunde verdient gemacht. Der von ihnen verfolgte Ansatz einer interdisziplinär ausgerichteten Kulturraumforschung (,Bonner Schule') war für die Ausbildung der wissenschaftlichen Spezifi k des Faches ausgesprochen prägend.

Diesem Ansatz war auch der �€�Atlas der deutschen Volkskunde' (ADV) verpfl ichtet. Ziel dieses 1928 angestoßenen Großprojektes war es, eine fl ächendeckende kartographische Darstellung von Kulturräumen und -bewegungen im Deutschen Reich, Österreich, Luxemburg sowie den deutschen Sprachinseln in Ostmitteleuropa zu erarbeiten. Freilich war die Konzeption des ADV mit methodischen Problemen behaftet, bspw. die Adressatenauswahl für das Ausfüllen der Fragebögen oder auch die grundsätzliche Frage, dass sich bestimmte Kulturphänomene nur schwer kartographisch abbilden lassen. Vor allem aber erwies sich das Projekt eines �€�Inventars der deutschen Volkskultur' als anschlussfähig für die NS-Ideologie, was zu einer Instrumentalisierung der Karten als Medium einer normativen Setzung führte. Folglich wurde das Projekt nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Leitung von Matthias Zender neu ausgerichtet, der die umfangreiche Materialsammlung der Zentralstelle des ADV in das Institut nach Bonn holte, wo die Arbeit an dem Atlaswerk bis 1984 fortgeführt wurde, jetzt allerdings mit umfassenden Kommentierungen der Karten. Seitdem hat sich das Profi l des Faches wiederum geändert, wobei sich die Abkehr der Kulturanthropologie von Atlasprojekten ironischerweise gerade in einer Zeit vollzogen hat, in der allgemein der �€�spatial turn' in den Geisteswissenschaften einsetzte.

Dem Einfl uss der politischen �€�Großwetterlage' auf die Forschungsarbeit des Instituts in der Endphase der Weimarer Republik und während des �€�Dritten Reiches' widmete sich Helmut RÖNZ (Bonn) am Beispiel von Franz Steinbach (1895-1964), der 1926 die Institutsleitung als Nachfolger seines Lehrers Aubin übernahm und zwei Jahre später einen Lehrstuhl für rheinische Landesgeschichte erhielt. Insgesamt zeigte Steinbach das für viele Vertreter der akademischen, gerade auch geisteswissenschaftlichen Elite der Zeit typische Verhaltensmuster, sich den Erwartungen der herrschenden Obrigkeit anzupassen. Mit dem Ziel einer besseren fi nanziellen Ausstattung und breiteren Wahrnehmung des Instituts entfaltete er eine umtriebige Gremien- und Netzwerkarbeit, die aktiv die Nähe zu einfl ussreichen Amtsträgern, vor allem auf Provinzebene, suchte. Auch die wissenschaftliche Forschungsausrichtung des Instituts wurde den politischen Strömungen der Zeit angepasst. Das betrifft die Themenauswahl der Institutstagungen, vor allem aber die Einbindung des Instituts in die von der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft getragene �€�Westforschung' bzw. �€�Grenzlandforschung', die die revisionistische Agenda der nationalsozialistischen Westpolitik sozusagen wissenschaftlich �€�begleitete'. Entsprechende Forschungsergebnisse wurden regelmäßig nach Berlin gemeldet. Insofern kommt es nicht von ungefähr, dass sich Steinbach, wenngleich kein NSDAP-Mitglied (wohl aber Mitglied im NS-Lehrerbund und NS-Dozentenbund), bei NS-Funktionären einiger Wertschätzung erfreute, nicht zuletzt wegen seines �€�Einsatzes in der Saarfrage'. Trotzdem fi el die Erfolgsbilanz seiner wissenschaftspolitischen Akquisetätigkeit für das Institut in fi nanzieller Hinsicht eher durchschnittlich aus. Zudem verschoben sich die Gewichte zwischen den im Institut zusammengeführten Fächern, insofern die Volkskunde -- verstanden als �€�völkische Kunde'! -- der Geschichtswissenschaft zunehmend den Rang ablief.

In Sektion II rückte der Begriff �€�Raum' als interdisziplinärer Forschungsgegenstand in den Mittelpunkt. Eingeleitet wurde die Sektion durch Jürgen Erich SCHMIDT (Marburg), der eine von der traditionellen Einordnung abweichende Verortung des Rheinischen im westgermanischen Lautsystem vorstellte. Anders als bisher angenommen sei die rheinische Sprache nicht erst auf der vierten Sprachebene unter Hochdeutsch (→ Mitteldeutsch → Westmitteldeutsch → Rheinisch) zu verorten, sondern ähnlich wie das Friesische auf der ersten. Aufgrund bestimmter Besonderheiten des Rheinischen, insbesondere der rheinischen Akzentuierung, sei davon auszugehen, dass dem Rheinischen ein anderes Ausgangssystem zugrunde gelegen habe als dem Althochdeutschen.

Im kulturanthropologischen Beitrag dieser Sektion stellten Anja SCHMID-ENGBRODT und Judith SCHMIDT (beide Bonn) das Forschungsprojekt �€�Zur Rolle des kulturellen Erbes in Strukturwandlungsprozessen' vor. Ziel dieses Projektes ist es, den Effekt zu untersuchen, den eine durch externe Einfl üsse erzwungene gemeinschaftliche Umsiedlung auf die betroffenen Individuen sowie die Dorfgemeinschaft insgesamt hat. Dies geschieht am Beispiel des Erkelenzer Ortsteils Keyenberg, der ebenso wie elf weitere Dörfer von dem geplanten Braunkohletagebau Garzweiler II betroffen ist und seit Dezember 2016 den Umsiedlerstatus besitzt. Dabei steht insbesondere die Frage im Vordergrund, wie im Rahmen einer derartigen Umsiedlung mit materiellem und immateriellem Kulturgut umgegangen wird. Hierbei ist festzustellen, dass der kulturelle Raum für die individuellen Bewohner:innen eine durchaus bedeutende Rolle spielt. So nehmen einige der Bewohner:innen die Umsiedlung als Gelegenheit, den neuen Raum auszugestalten und sich neu einzurichten. Andererseits werden besonders wertvolle oder bedeutungsträchtige Gegenstände entweder mitgenommen oder es wird, ebenso wie vom alten Wohnraum, beispielsweise ritualisiert Abschied genommen. Auf allgemeinerer Ebene wird versucht, die Sozialverträglichkeit der Umsiedlung zu gewährleisten, etwa indem gewisse soziale Strukturen auf den neuen Wohnort übertragen werden, wie beispielsweise der Schützenverein oder die kirchliche Gemeinde.

Manfred GROTEN (Bonn) stellte in seinem Vortrag eindrücklich dar, wie neue Technologien und historische Entwicklungen im 20. Jahrhundert die Wahrnehmung von Raum stark beeinfl usst und verändert haben. In diesem Rahmen sind die Erforschung des Weltraums seit Sputnik und die Vertreibungen nach dem Zweiten Welt krieg ebenso zu nennen wie das Entstehen neuer, virtueller Räume in den Köpfen der Nutzer moderner Informationstechnologien. Die im Rahmen des �€�spatial turn' angestellten theoretischen Überlegungen, welche die Kategorie �€�Raum' in den Fokus stellen, sind in der Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren rezipiert worden. Dabei ging es Groten weniger um den Nutzen des �€�turns' für die landesgeschichtliche Forschung, sondern umgekehrt um den Beitrag, welchen dieselbe zu Fragen nach dem Konzept �€�Raum' geleistet hat und zu leisten vermag. Am Institut für geschichtliche Landeskunde wurde bereits seit den 1920er Jahren interdisziplinär zu �€�Kulturprovinzen' bzw. �€�Kulturräumen' geforscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte auf diesen -- wenn auch konzeptionell fehlgeleiteten -- Ansätzen aufgebaut werden. Die landesgeschichtliche Forschung, so Groten, könne für theoretische Überlegungen im Kontext des �€�spatial turn' eine quellennahe Qualitätskontrolle bieten.

In seinem Abendvortrag zeichnete Stephan LAUX (Trier) die Geschichte des IGL nach. Er beleuchtete die politischen und sozialen Umstände, welche die Gründung des Instituts nach dem Ersten Weltkrieg begünstigten und die Ausrichtung der dort betriebenen Forschung maßgeblich prägten. Als besonders wirkmächtige Forschungskonstrukte stellte Laux etwa das von Aubin entwickelte Konzept der �€�Kulturraumforschung' sowie die hiermit eng verbundene �€�Grenzlandforschung' vor. Auf diese Weise trugen die Mitarbeitenden des Instituts zur �€�historischen Legitimation' der Politik und der Ideologie des NS-Regimes bei. Trotz des Verhaltens der Institutsmitglieder während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Arbeit am Institut nach Kriegsende ohne größere personelle Umstrukturierungen fortgeführt. Einen Grund hierfür sieht Laux darin, dass das Konstrukt des �€�Kulturraums' in umgedeuteter Form, mit Bezug auf die Idee des �€�Abendlandes', in der Frühzeit der Bundesrepublik weiterhin politisch nutzbar gemacht werden konnte. Erst um 1970 erfolgte unter Edith Ennen die implizite Ablehnung des Konzepts �€�Kulturraum'; ein langanhaltender Perspektivwechsel blieb jedoch aufgrund der kurzen Dauer von Ennens Leitungsfunktion aus. Die starken thematischen, vor allem aber auch personellen Kontinuitätslinien stellte Laux als für die Geschichte des Instituts besonders prägend heraus. So wurden mehrere der Institutsleiter:innen bei ihren Vorgängern promoviert oder habilitiert, und auch die bisher erschienenen retrospektiven Darstellungen zur Geschichte des Instituts stammen zum Großteil von (ehemaligen) Angestellten desselben, die häufi g selbst in Lehrer-Schüler-Beziehungen zu den Personen standen, über die sie schrieben. Eine moderne, differenzierte Institutsgeschichte sei ein Forschungsdesiderat. In seinem Ausblick betonte Laux, dass die Geschichtswissenschaft stets gewissen Konventionalisierungen und Forschungstrends folgt; dies sei also kein Spezifi kum der (Bonner) Landesgeschichte des 20. Jahrhunderts und auch mit Blick auf heutige Forschungsvorhaben zu bedenken. Chancen der Landesgeschichte sieht er vor allem in der vergleichenden Dimension, welche bereits unter Edith Ennen auf den Bereich der Städtegeschichte angewandt wurde.

Die Sektion III �€�Rheinische Landeskunde in Bericht und Kritik', welche den zweiten Konferenztag einleitete, umfasste drei Vorträge von Nachwuchswissenschaftler:innen, die ihre Dissertationsprojekte vorstellten. Malin OSTERMANN (Bonn) erhebt im Rahmen ihres Projekts, dem Vorbild des �€�Dialektatlas Mittleres Westdeutschland' (DMW) folgend, Sprachdaten aus Ostbelgien und dem mittleren Westdeutschland und analysiert die Befunde mit Blick auf fünf ausgewählte syntaktische Variationsphänomene. Die Datenerhebung in den zwölf Orten, die in die Untersuchung mit einbezogen werden, erfolgt durch Befragung von jeweils zwei Gewährspersonen, bei deren Auswahl Wert darauf gelegt wurde, dass es sich -- soweit möglich -- um einen Mann und eine Frau handelt und beide möglichst über 70 Jahre alt sind. So lässt sich etwa anhand des im Vortrag vorgestellten Variationsphänomens der geben-Kopula eine dialektale Grenze zwischen dem südlich-moselfränkischen und dem nördlich-rheinfränkischen Bereich des Untersuchungsgebiets feststellen: In Ersterem wird sie verwendet, in letzterem fi ndet sie hingegen keine Akzeptanz, wobei es ein Übergangsgebiet gibt, in welchem sowohl die Form mit als auch die ohne geben-Kopula Verwendung fi nden. Sina WOHLGEMUTH (Bonn) befasste sich in ihrem Beitrag mit den Aushandlungen des EU-Programms LEADER im Rheinland, welches Regionalentwicklungsstrategien in bedrohten ländlichen Regionen unterstützt. Ziel des Förderprogramms ist es, die dortigen Lebensstandards aufrechtzuerhalten. Umgesetzt werden diese Entwicklungsstrategien, z.B. eine Plattform für generationenübergreifende Hilfe im Alltag, durch lokale Aktionsgruppen, wie etwa Bürgermeister oder Vereine. Wohlgemuth zeigte auf, dass häufi g auf emotionalisierende Praktiken zurückgegriffen wird, um die Bewohner:innen zur Partizipation an dem Programm zu motivieren und sie zu mobilisieren; die Zukunftsorientierung mit Blick auf den demographischen Wandel spielt somit insofern eine Rolle, als sie die Menschen zur Bewältigung aktueller Fragen anregt.

Den letzten Vortrag der Sektion hielt Alexander GERBER (Bonn), der einen Einblick in Verfahrenspraktiken in den reichsständischen Beratungen auf dem Westfälischen Friedenskongress bot. Im Mittelpunkt stand hierbei die Reichsstadt Köln, welche den Vorsitz des Städterats in Münster innehatte. Gerber zeigte eindrücklich auf, dass die Kölner die mit dem Direktorium einhergehenden Kompetenzen nur begrenzt nutzten und die Position, anders als andere Reichsstände, eher passiv ausfüllten. Dennoch wurde aus Prestigegründen höchster Wert darauf gelegt, den entsprechenden Vorsitz innezuhaben; dies zeige sich etwa daran, dass die Kölner betonten, sie hätten auf den Vorsitz in der aktiveren Städtekurie in Osnabrück verzichtet, nachdem dieser infolge längerer Auseinandersetzungen Straßburg zugekommen war.

Die Sektion IV war dem Institutsjubiläum selbst gewidmet. Zu diesem Anlass war noch im eigentlichen Jubiläumsjahr, 2020, auf dem Wissenschaftsblog �€�Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen' eine vierteilige Artikelreihe unter #IgL1920 erschienen (http://histrhen.landesgeschichte.eu/category/veranstaltung/igl1920-veranstaltung/,letzterZugriffam28.04.2022). Anhand dieser Artikelserie, welche Christoph KALTSCHEUER (Köln) und Jochen HERMEL (Bonn) vorstellten, lässt sich das Potential des wissenschaftlichen Bloggens aufzeigen, durch welches ein neuer Blick auf vertraute Sachverhalte gewonnen werden kann. Im Mittelpunkt dieser vier Beiträge stehen nämlich nicht die mit dem Bonner Institut in Verbindung stehenden Personen oder die Forschungsgeschichte des Instituts, sondern vielmehr die ehemaligen Institutsgebäude. So umfasst der erste Artikel die Zeit der Gründung des Instituts, welches zunächst im Haus an der Poppelsdorfer Allee 25 untergebracht wurde, während der zweite den Blick auf den Institutsbetrieb während des Zweiten Weltkriegs richtet. 1968 erfolgte der Umzug in das Gebäude Am Hofgarten 22, welches noch heute die Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte beherbergt. Der dritte Beitrag der Reihe behandelt die das Haus an der Poppelsdorfer Allee betreffenden Ereignisse in der Mitte der 1970er Jahre, als der im Rahmen von Umbaumaßnahmen des ,Deutschen Herolds' geplante Abriss des Gebäudes durch eine Protestaktion von Bonner Bürger:innen verhindert wurde. In dem letzten Beitrag der Reihe befassen sich die Autorinnen mit dem Umzug in das neue Institutsgebäude Am Hofgarten 22, welches sie darüber hinaus unter architektur- bzw. kunsthistorischen Gesichtspunkten betrachten.

Anschließend stellten Thomas BECKER (Bonn) und Philipp GATZEN (Bonn) die ebenfalls ursprünglich für 2020 geplante, nun aber auf das Wintersemester 2021/22 verschobene Ausstellung �€�100 Jahre geschichtliche Landeskunde' im Universitätsmuseum Bonn vor. Diese präsentiert die Geschichte des IGL in acht Zeitabschnitten von zehn bis 15 Jahren, denen jeweils eine Vitrine gewidmet ist. Thematische Schwerpunkte stellen die Personen, Projekte und Publikationen des Instituts dar, wobei nicht nur die Instituts- und Abteilungsleiter, sondern auch die �€�zweite Reihe', insbesondere die am Institut beschäftigten Frauen, in den Vordergrund rücken. Die drei Fachbereiche Geschichtswissenschaft, Volkskunde/Kulturanthropologie und Sprachwissenschaft werden hierbei gleichermaßen berücksichtigt. Die Ausstellung entstand in enger Zusammenarbeit mit der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft an der Universität Bonn sowie mit der Künstlerin Anna Thinius, die beauftragt wurde, jeden der acht genannten Abschnitte der Institutsgeschichte künstlerisch zusammenzufassen. Inzwischen ist auch eine digitale Version der Ausstellung im Netz greifbar (https://ausstellungen. deutsche-digitale-bibliothek.de/landeskunde-bonn-100/#s0, letzter Zugriff am 28.04. 2022).

Die Sektion V bot einen Einblick in die Arbeit der drei 2005 aus dem Institut für geschichtliche Landeskunde hervorgegangenen Abteilungen sowie einen Ausblick auf die Zukunft. Claudia WICH-REIF (Bonn) eröffnete die Sektion und stellte einige der Projekte der Arbeitsstelle �€�Rheinische Sprachforschung' vor. Unter den bereits abgeschlossenen Projekten sind hierbei etwa das �€�Digitale Nordrheinische Flurnamenarchiv', im Zuge dessen der rezente Flurnamenbestand des Landteils Nordrhein dokumentiert wurde, sowie die Digitalisierung der im Rahmen des Erp-Projekts (1972-74) entstandenen Tonaufnahmen zu nennen. Ziel dieses Projekts war es, ein Kommunikationsprofi l der rheinischen Ortschaft Erp zu erstellen; ein Vergleich zwischen den Sprechweisen der älteren und der jüngeren Generation, der durch eine Neuerhebung 2015 ermöglicht wurde, ergab, dass es eine geschlossene Gemeinschaft als Sprachgemeinschaft nicht mehr gebe. Wich-Reif stellte ebenfalls das noch laufende Projekt �€�Dialektatlas Mittleres Westdeutschland' (DMW) vor, im Rahmen dessen die Dialekte bzw. maximal standardfernen Sprechweisen im mittleren Westdeutschland erfasst werden, wobei auch hier ein Vergleich zwischen zwei Generationen erfolgen soll. Ebenfalls in Arbeit ist das �€�Historische Rheinische Wörterbuch' (HRWB), das eine Ergänzung zu dem synchronen �€�Rheinischen Wörterbuch' bieten soll. Neben der hinzutretenden historischen Komponente stellt auch die Bereitstellung als Online-Wörterbuch eine gewinnbringende Neuerung dar.

Ove SUTTER (Bonn) bot in seinem Vortrag einen konzisen Überblick über die Geschichte des Fachs Volkskunde bzw. Kulturanthropologie, beginnend im 19. Jahrhundert, als es noch vornehmlich außerhalb von Universitäten betrieben wurde und einen Gegenentwurf zum industrialisierungsbedingten Wandel darstellte, über die völkischen und nationalen Ansätze der NS-Zeit bis in die Zeit nach 1945. In den 1950er Jahren erfolgte zunächst eine Orientierung hin zur empirischen Forschung, die einen quellenkritischen Ansatz verfolgte und insbesondere durch die von Hans Moser und Karl-Sigismund Kramer begründete �€�Münchner Schule' getragen wurde, bevor es in den 1960er Jahren zu einer maßgeblich von Hermann Bausinger vorangetriebenen Entkonventionalisierung des Kulturbegriffs und zu einer stärkeren Gegenwartsorientierung des Faches kam. Die 1970er Jahre waren durch die Forderung nach Aufarbeitung der NS-Zeit geprägt, wobei es teilweise zu Konfl ikten zwischen älteren und jüngeren Wissenschaftler:innen kam. Im zweiten Teil des Beitrags wurden die interdisziplinären Einfl üsse angesprochen, welche die Kulturanthropologie prägen bzw. geprägt haben. Seit den 1990er Jahren wird insbesondere gegenwartsorientierte �€�Arbeitskulturforschung' betrieben, wodurch die Einfl üsse aus der Geschichtswissenschaft zurückgegangen sind, die der Ethnologie hingegen zugenommen haben. Zudem ist es zu einer Annäherung zwischen Post-Volkskunde und Kultur- und Sozialanthropologie gekommen. In dieser Tradition steht auch die Abteilung Kulturanthropologie an der Universität Bonn, die bald in �€�Empirische Kulturwissenschaft' umbenannt wird. Ihr Fokus liegt aktuell vornehmlich auf ländlichen Räumen und auf der Alltagskunde.

Michael ROHRSCHNEIDER (Bonn) nahm in seinem Beitrag eine Bestandsaufnahme der Arbeit der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte vor. Die vor fünf Jahren erfolgte Zusammenlegung der beiden Lehrstühle war von vielen als Verlustgeschichte wahrgenommen worden. Rohrschneider, der 2016 die Leitung der neu konstituierten Abteilung übernommen hat, sah hierin hingegen auch Chancen, wie er in seinem im Januar 2017 auf dem Wissenschaftsblog ,Histrhen' veröffentlichten Beitrag �€�Neustart! Zur Fusion der Abteilungen Frühe Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte der Universität Bonn' zum Ausdruck gebracht hat. Nach fünf Jahren ist nunmehr festzuhalten, dass dieser Optimismus durchaus nicht unbegründet war. So ist weiterhin ein hohes Maß an Kontinuität festzustellen, welches sich beispielsweise in der weiterhin von der Abteilung wahrgenommenen Herausgeberschaft der Zeitschrift �€�Rheinische Vierteljahrsblätter' und der Reihe �€�Rheinisches Archiv', dem Fortbestehen des Austausches mit Zeitschriften und Reihen anderer landesgeschichtlicher Institutionen sowie in der wissenschaftlichen Kooperation mit der �€�Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde' und dem LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte zeigt. Auch die seit 2016 von der Abteilung organisierten Tagungen ebenso wie ihr Lehrangebot sind aufgrund ihrer meist landesgeschichtlichen sowie vormodernen Ausrichtung der Tradition der Bonner Landesgeschichte zuzuordnen. Diese zeichnet sich insbesondere durch ihre Quellennähe, einen Fokus auf die Vormoderne und ein hohes Maß an Interdisziplinarität aus, auch wenn es, wie bereits Marlene Nikolay-Panter feststellte, eine Tendenz zur fachlichen Verselbstständigung der drei vormals im Institut vereinten Fachrichtungen gibt. Auch Manfred Groten hatte darauf hingewiesen, dass Interdisziplinarität nicht dekretiert oder erzwungen werden könne, sondern dass sich die interdisziplinäre Arbeit vielmehr ergeben und entwickeln müsse. Rohrschneider hob hervor, dass die Landesgeschichte an der Universität Bonn weiterhin auf einem soliden Fundament steht. Potential für die Zukunft sieht er insbesondere in der zwar nicht neuen, für die Landesgeschichte aber gut geeigneten Erforschung von Interdependenzen von Regional- und Reichsgeschichte sowie in der Digitalisierung. Diese wurde von der Abteilung bereits früh aufgegriffen; als Beispiele sind hier etwa die Weinsberg-Edition, die �€�Acta Pacis Westphalicae digital', die digital aufbereitete Stiftungsurkunde der Universität Bonn von 1818, ,Histrhen' sowie die Abteilungspräsenzen auf verschiedenen Social-Media-Plattformen zu nennen.

Abgeschlossen wurde die Tagung durch eine von Georg MÖLICH (Bonn) geleitete Diskussion zu den Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinären Arbeitens, das dem Konzept des Instituts für geschichtliche Landeskunde zugrunde lag. Dabei wurden die Chancen der auf die rheinische Region fokussierten Forschung unterschiedlicher Fachbereiche ausgelotet und somit mögliche Wege fachwissenschaftlicher Kooperation aufgezeigt. In diesem Sinne war die auf der Tagung gebotene Rückschau auf das IGL auch ein heuristischer Fingerzeig für die Zukunft.

Footnote 1 Eine kürzere Version dieses Berichtes erschien bereits bei H-Soz-Kult: www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-9384 (14.04.2022, letzter Zugriff am 02.05.2022).

By Von Tobias Weller and Naemi Winter

Titel:
Rheinische Landeskunde im Wandel Bericht über die Herbsttagung 27./28. Sept. 2021.
Autor/in / Beteiligte Person: Weller, Von Tobias ; Winter, Naemi
Link:
Zeitschrift: Rheinische Vierteljahrsblatter, Jg. 86 (2022), S. 447-453
Veröffentlichung: 2022
Medientyp: academicJournal
ISSN: 0035-4473 (print)
Schlagwort:
  • CONFERENCES & conventions
  • ARCHIVAL institutes & workshops
  • HUMANITIES
  • SCHOLARLY method
  • RHINELAND (Germany)
  • Subjects: CONFERENCES & conventions ARCHIVAL institutes & workshops HUMANITIES SCHOLARLY method
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Rhenish regional studies in change Report on the autumn conference 27./28. Sept 2021.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Geographic Terms: RHINELAND (Germany)
  • Full Text Word Count: 3367

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -