Zusammenfassung: Der Capability Approach (CA) in der Tradition von Martha Nussbaum formuliert als Voraussetzung für ein gutes Leben das Vorliegen von 10 (persönlichen und strukturellen) Grundbefähigungen. Um die Teilhabe und Gesundheit älterer Menschen durch partizipative Gesundheitsforschung zu fördern, muss die Erweiterung dieser Capabilities und der Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Verwirklichungschancen fokussiert werden. Durch eine reflexive Sekundäranalyse zweier Action-Research-Projekten im Quartier bzw. im Pflegeheim wird aufgezeigt, inwiefern unterschiedliche Formen und Intensitäten der Beteiligung an partizipativen Projekten durch eine Betrachtung der vorhandenen Capabilities verstanden sowie Spielräume und Grenzen der Entwicklung kollektiver und individueller Verwirklichungschancen erkannt werden können.
The capability approach (CA) in the tradition of Martha Nussbaum identifies the presence of 10 fundamental capabilities (personal and structural) as prerequisites for a good life. To promote the participation and health of older people through participatory health research, the expansion of these capabilities and the possibilities to realize them must be focused on. Using a reflective secondary analysis of two action research projects in the neighborhood and a nursing home it will be shown how different forms and intensities of participation in participatory projects can be understood by considering existing capabilities, and how the scope and limits of developing collective and individual capabilities can be explored.
Keywords: Action Research; Soziale Ungleichheit; Pflegeheim; Quartier; Teilhabe; Action research; Social inequalities; Nursing home; Neighborhood; Participation
Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Artikels (https://doi.org/10.1007/s00391-023-02207-x) enthalten.
Im Forschungsansatz der partizipativen Gesundheitsforschung stellt Partizipation gleichermaßen Ziel und Weg dar: Sie ist Ziel, insofern Teilhabe(möglichkeiten) als Element eines würdevollen und mittelbar gesundheitsförderlichen menschlichen Lebens angestrebt werden; sie ist auch der Weg dorthin, insofern die von der Forschung Betroffenen an allen Schritten des Forschungsprozesses mit Entscheidungsmacht beteiligt werden sollen [[
Wie der auf Amartya Sen zurückgehende und von Martha Nussbaum weiterentwickelte Capability Approach (CA) zeigt, genügt es nicht, soziale Gerechtigkeit mit Ressourcengerechtigkeit gleichzusetzen – Ressourcen bleiben vielmehr nutzlos, solange sie nicht in Möglichkeiten umgewandelt werden können, um die gewünschten Lebensziele zu erreichen [[
Hierfür ist zwischen Capabilities und sog. Functionings zu unterscheiden [[
Während Sen darauf verweist, dass Befähigungen grundsätzlich kontextspezifisch sind und nicht pauschal definiert werden könnten [[
Tab. 1 Kurzfassung der Central Capabilities nach Nussbaum [[
1. Leben 2. Körperliche Gesundheit 3. Körperliche Integrität 4. Sinne, Vorstellungskraft und Denken 5. Gefühle 6. Praktische Vernunft 7. Zugehörigkeit 8. Andere Spezies 9. Spiel 10. Kontrolle über die eigene Umwelt (politisch und inhaltlich)
Im vorliegenden Beitrag soll der CA für die Reflexion der zwei genannten partizipativen Forschungsprojekte mit alten Menschen fruchtbar gemacht werden. Der Anspruch partizipativer Gesundheitsforschung, nicht nur zur Wissensgewinnung beizutragen, sondern auch eine Veränderung der Praxis zu bewirken, wirft die Frage auf, wie eine solche Veränderung nachgewiesen werden kann. Verschiedene Autor:innen weisen darauf hin, dass die Wirkungen partizipativer Forschung oft nichtlinear sind, also kaum im klassischen Sinne durch Maßzahlen, die die Erfüllung vorher festgelegter Outcomes messen, bestimmt werden können [[
Um Gelingen bzw. Nichtgelingen partizipativer Forschung besser zu verstehen, ist es hilfreich, die jeweiligen Capabilities der an der Forschung Beteiligten zu reflektieren. Partizipation kann nur erreicht werden, wenn Menschen über Befähigungen im Sinne der von Nussbaum formulierten zentralen Capabilities verfügen. Dabei werden die im Feld vorgefundenen Verwirklichungschancen dynamisch verstanden: Partizipative Forschung selbst wird als einen Lern- bzw. Entwicklungsprozess, durch den Capabilities gefördert und erweitert werden können und sollen, begriffen [[
Im Folgenden wird gezeigt, dass der theoretische Rahmen des CA geeignet ist, individuelle und kollektive Capabilities zu identifizieren sowie in ihrer Prozesshaftigkeit zu beschreiben. Dies ermöglicht ein Verständnis davon, warum sich alte Menschen auf verschiedene Weisen und in unterschiedlichen Intensitäten an partizipativen Projekten beteiligen, und inwiefern dies zu unterschiedlichen Entwicklungen und Erweiterungen von Veränderungschancen im Forschungsprozess führen kann. Methodisch wird eine reflexive Sekundäranalyse der beiden Forschungsprojekte vorgelegt. Einer solchen kritischen Reflexion und Reflexivität wird in der partizipativen Forschung besondere Bedeutung zugemessen [[
Das Projekt PaStA wurde von 2017 bis 2020 in 2 Pflegeheimen einer hessischen Mittelstadt durchgeführt. Ziel war es, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Partizipation im Heimalltag verbessert werden kann. Die Forschung im ersten Pflegeheim umfasste nach einer mehrwöchigen Hospitation eine 8‑monatige Aktionsphase, in der eine Gruppe aus interessierten Bewohnerinnen zusammen mit der akademischen Forscherin ein gemeinsames Projekt geplant und durchgeführt hat. Gegenstand dieses Projekts war die Organisation von „Reisen" innerhalb des Pflegeheims. Hintergrund war, dass sich die Heimbewohner:innen oftmals nicht gut kannten und Ängste hatten, in anderen Hausgemeinschaften Kontakte zu suchen. Mithilfe von „Reisen" zu verschiedenen Hausgemeinschaften im Heim sollten neue Begegnungsmöglichkeiten geschaffen werden. Die Projektgruppe war personell überwiegend mit dem gewählten Heimbeirat der Bewohner:innen des Heims identisch. Dadurch wies sie von Anfang an eine starke Gruppenidentität auf. Trotzdem wurde im Forschungsprozess deutlich, dass die einzelnen Mitglieder jeweils eigene Beteiligungsformen und -intensitäten zeigten. Um diese Unterschiede zu verstehen, wird zunächst beschrieben, wie zwei Teilnehmerinnen ihre Teilhabe am Projekt gestalteten. Im Sinne des CA wird sich damit auf der Ebene der Functioning bewegt. Diese wird in Bezug zu den jeweiligen spezifischen Capabilities gesetzt, um die Zusammenhänge von Befähigungen und gelebter Partizipation zu analysieren. Empirische Grundlage sind die Feldbeobachtungen der Erstautorin, die in dem von der Zweitautorin geleiteten akademischen Team diskutiert und reflektiert wurden.
Frau M (Bewohnerin und Vorsitzende des Heimbeirats) nahm schon früh eine Führungsrolle im Projektteam ein. Während der Hospitationsphase war deutlich geworden, dass die Bewohner:innen des Heims der akademisch Forschenden zwar nicht ablehnend gegenübertraten, zunächst aber auch wenig Interesse an einer aktiven Projektbeteiligung äußerten. Einzig Frau M machte bereits bei der ersten Begegnung deutlich, dass sie ein gemeinsames Projekt mit der Hochschule begrüßte. Als gewählte Heimbeiratsvorsitzende übernahm sie in der Folge die Rolle eines Gatekeepers, motivierte eigenständig weitere Bewohner:innen zur Teilnahme und kümmerte sich um praktische Belange wie die Organisation eines Besprechungsraumes. Sie wurde zur Sprecherin der Gruppe und verfolgte inhaltlich eine klare Agenda. Ihr Auftreten gegenüber der akademisch Forschenden war energisch und zuweilen kritisch. Nachdem sich die Gruppe auf die Projektidee der „Reisen im Heim" geeinigt hatte, übernahm sie die Planung und Organisation. Sie war die treibende Kraft, eine der geplanten Reisen, bei der die akademisch Forschende kurzfristig verhindert war, eigenständig durchzuführen. Insgesamt wurde Frau M zu einer Schlüsselfigur, die wesentlich zum Gelingen des Teilhabeprozesses in dem Pflegeheim beigetragen hat. In der Abschlussreflexion äußerte sie ihre Zufriedenheit mit und ihren Stolz auf das Projekt.
Frau B (Bewohnerin und Mitglied des Heimbeirats) war ein weiteres Mitglied der Projektgruppe. Sie war stark schwerhörig und sprach sehr leise. Dadurch fiel es ihr schwer, während der Projekttreffen das Wort zu ergreifen. Meistens sprach sie nur, wenn jemand anderes die Gruppe darauf aufmerksam machte, dass sie etwas sagen wollte. So war Frau B in der ersten Hälfte des Projekts kaum sichtbar. Erst nachdem die Gruppe schon drei „Reisen" durchgeführt hatte, äußerte sie eine eigene Idee: Sie schlug vor, eine Reise zu veranstalten, bei der von ihr getöpferte Figuren mit Motiven aus dem Alten Ägypten präsentiert und sie dazu entsprechende Geschichten vorlesen würde. Dieser Vorschlag zu einer „Ägyptenreise" veränderte Frau Bs Verhältnis zur Gruppe stark. Sie verdeutlichte, dass sie nicht nur Teil des Projektteams sein, sondern auch einen aktiven Part spielen wollte und wurde dabei von einer Betreuungskraft unterstützt, die ihr half, ihre Idee in der Gruppe zu vertreten. Die Projektgruppe griff den Vorschlag gern auf und entwickelte kreative Lösungen für die praktische Umsetzung: Unter anderem beschaffte ein Projektmitglied beim Hausmeister ein Mikrofon, um die leise Stimme von Frau B auszugleichen.
Wie diese Einblicke in die Partizipationspraxis zeigen, unterschieden sich Frau M und Frau B stark in den von ihnen gewählten Beteiligungsformen. Eine Betrachtung der zentralen Capabilities nach Nussbaum kann helfen, diese Unterschiede besser zu verstehen. Um den Umfang des vorliegenden Beitrags nicht zu überschreiten, wird sich darauf beschränkt, die jeweils besonders bedeutsamen Grundbefähigungen zu beschreiben (Abb. 1 zu Frau M und Abb. 2 zu Frau B).
Graph: Abb. 1Befähigungen der Frau M
Graph: Abb. 2Befähigungen der Frau B
Die Situierung des Projekts in einem Pflegeheim legt nahe, der Capability der körperlichen Gesundheit (Nr. 2 der Central Capabilities in Tab. 1) besondere Aufmerksamkeit einzuräumen. Beide Frauen waren kognitiv nicht eingeschränkt. Während aber Frau M ihre Gehbehinderung durch einen E‑Rolli ausgleichen konnte und kaum Unterstützung im Alltag benötigte, konnte Frau B ihre Schwerhörigkeit nicht vollständig durch Hilfsmittel kompensieren und hatte daher teilweise Schwierigkeiten, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Dies beeinflusste ihre Möglichkeiten der Partizipation am Projekt.
Frau M sah sich selbst als „Macherin". Ihre aktive Rolle wurde dadurch ermöglicht, dass sie über Kontrolle über ihre eigene Umwelt (Nr. 10 der Central Capabilities in Tab. 1) verfügte. Als gewählte Heimbeiratsvorsitzende hatte sie einerseits eine gewisse politische Kontrolle, da ihr Mitsprache- und Anhörungsrechte nach dem Hessischen Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen (§ 5 Abs. 1) zustanden. Gleichzeitig verschaffte ihr Amt ihr Respekt und Ansehen bei den Mitbewohner:innen und der Heimleitung: Zudem kannte sie informelle institutionelle Regeln und Abläufe und wusste sie für sich zu nutzen. Die Tatsache, dass sie sich ein Leben in dem Heim leisten konnte, das sie sich ausgesucht hatte, war andererseits Ausdruck ihrer Fähigkeit der materiellen Kontrolle über ihre Umwelt. Dies gab ihr die Freiheit, das Projekt maßgeblich mitzugestalten. Ihre Capabilities erlaubten ihr damit, ihre Vorstellung angemessener Partizipation in die entsprechenden Functionings umzusetzen.
Frau B hingegen partizipierte an dem Projekt zunächst als stille Teilnehmerin. Sie unternahm einzelne Versuche, zu der Projektplanung beizutragen, aber ihre Behinderung erschwerte ihr die aktive Partizipation. Jedoch war ihre Fähigkeit, ihre Sinne und Vorstellungskraft auf ein Thema zu richten, das sie begeisterte und dem sie künstlerisch Ausdruck verleihen konnte, stark ausgeprägt. Mit diesen Fähigkeiten gelang es ihr letztlich, eine mit ihren Vorstellungen im Einklang stehende Beteiligung zu erreichen. Dabei war die Grundbefähigung der Zugehörigkeit (Nr. 7 der Central Capabilities in Tab. 1) zentral: So konnte sie eine der Betreuungskräfte, mit der sie eine besonders enge persönliche Beziehung verband, als Verbündete für ihr Anliegen gewinnen. Zudem bemühten sich die anderen Projektteilnehmerinnen zumindest teilweise, einer Exklusion aktiv entgegenzuwirken.
Das partizipative Forschungsprojekt „Age4Health – Gesunde Stadtteile für Ältere" (2015–2021) untersuchte und förderte gemeinsam mit Kooperationspartner:innen, professionellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Zielgruppen in zwei hessischen Kommunen Gestaltungsmöglichkeiten für gelingende Beteiligung Älterer – insbesondere auch von solchen in schwierigen Lebenslagen. Im Stadtteil Bettenhausen der hessischen Großstadt Kassel sowie in der im ländlichen Raum Nordhessens gelegenen Kommune Witzenhausen (beides gemischte Gebiete mit relevantem Anteil sozial benachteiligter Menschen) wurde die Entwicklung von inklusiven und gesundheitsförderlichen Quartieren/Nachbarschaften erprobt. Hier wird im Folgenden das städtische Beispiel exemplarisch erörtert.
Anhand der Fallstudie Kassel-Bettenhausen lassen sich insbesondere Wechselwirkungen zwischen den Entwicklungen individueller und kollektiver Verwirklichungschancen darstellen. Ausgangs- und Kristallisationspunkt war ein Prozess regelmäßiger „runder Tische" in einem Seniorenzentrum, zu denen Quartiersakteur:innen und ältere Bürger:innen eingeladen waren. Hier wurden Angelegenheiten des Quartiers als Lebensort der älteren Bürger:innen diskutiert und Ideen für Initiativen und Veränderungen auf den Weg gebracht – individuell und kollektiv wurden also „Vorstellungen vom Guten" (praktische Vernunft, Nr. 6 der Central Capabilities in Tab. 1) entwickelt. Das Zentrum wurde dadurch zu einem niedrigschwelligen Treffpunkt für gemeinschaftliche Aktivitäten und trug zur Verdichtung sozialer und kultureller Netzwerke bei. Dabei muss beachtet werden, dass der kommunalpolitische Kontext günstig war und ein Gelegenheitsfenster für erfolgreiche Bürger:innenbeteiligung darstellte.
Die Teilnahme Bettenhäuser Bürger:innen nahm im Laufe des Projekts zu. Das Verhalten der Bürger:innen in den Sitzungen changierte zwischen Beteiligung und Zurückhaltung; einige waren meist aktiv, andere griffen kaum in die Plenumsdiskussion ein, kamen aber dennoch regelmäßig. Bei einigen Bürger:innen war im Zeitverlauf zunehmend mehr Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein in ihren Äußerungen zu beobachten. Formate wie Kleingruppendiskussionen und Abstimmungen (Priorisierung mithilfe von Klebepunkten) ermöglichten zudem niedrigschwellige Beteiligungen, die von allen Anwesenden wahrgenommen wurden. In diesem Prozess entwickelten und erfuhren die beteiligten Bürger:innen Zugehörigkeit zu ihrer Nachbarschaft und den Nachbar:innen (Nr. 7 der Central Capabilities in Tab. 1). Die Bürger:innen machten damit auch die Erfahrung, „fähig zu sein, an politischen Entscheidungen teilzuhaben, die das eigene Leben betreffen. Das Recht auf freie Rede und freie Assoziation zu besitzen" (politische Kontrolle über die eigene Umwelt, Nr. 10 der Central Capabilities in Tab. 1).
Ebenfalls im Rahmen der runden Tische wurden gemeinsam Pläne für zwei Stadtteilspaziergänge entwickelt. „Wo müsste sich etwas ändern, damit sich ältere Menschen in Bettenhausen wohler fühlen können?" lautete die Leitfrage (praktische Vernunft, Nr. 6 der Central Capabilities in Tab. 1). An Vorbereitung, Durchführung und Auswertung beteiligten sich insbesondere ältere Bürger:innen. In Vorbereitungstreffen wurden Plätze festgelegt, die besucht werden sollten, und barrierearme Routen geplant. Klappstühle und Getränke wurden in einem Bollerwagen mitgeführt, um möglichst vielen die Teilnahme zu ermöglichen. An den Stationen wurden jeweils Diskussionen zu positiven Aspekten, Problemen und wünschenswerten Verbesserungen moderiert. Ergebnisse der Stadtteilspaziergänge wurden beim runden Tisch ausgewertet und diskutiert; über Prioritäten wurde abgestimmt. Einige der Vorhaben konnten im Anschluss umgesetzt werden: eine barrierefreie Umgestaltung eines Platzes, die Installation einer Bank und die Anlage einer „Blühfläche" (andere Spezies. Nr. 8 der Central Capabilities in Tab. 1). Die Beteiligten hatten damit erfolgreich in ihrem Quartier etwas erreicht (politische Kontrolle, Nr. 10 der Central Capabilities in Tab. 1); dies verstärkte zudem die Identifikation mit ihrer Nachbarschaft (Zugehörigkeit, Nr. 7 der Central Capabilities in Tab. 1). Im Ergebnis ging es auch um eine Verringerung der Barrieren und verbesserte Mobilitätschancen für körperlich eingeschränkte Ältere (Fähigkeit zur ungehinderten Ortsveränderung als Element körperlicher Integrität, Nr. 3 der Central Capabilities in Tab. 1) – als Voraussetzung für vielfältige weitere Teilhabemöglichkeiten.
Ebenso ausgehend vom runden Tisch entwickelte sich das Projekt „Café Agathe" – ein erschwingliches Café vor Ort fehlte vielen als möglicher Treffpunkt. Daraufhin wurden die Möglichkeiten des Seniorenzentrums geprüft; ein wöchentliches Café-Angebot wurde beschlossen und ins Leben gerufen. Daran beteiligten sich sowohl eine 20-köpfige Organisationsgruppe wie auch ein ehrenamtliches Kuchenbäcker:innen-Team. Sie ermöglichten mit ihrem Engagement die Verwirklichung eines sozialen Ortes, den bis zur Pandemie wöchentlich 25 bis 50 ältere Bürger:innen nutzten, um sich zu treffen, kennenzulernen, Erfahrungen auszutauschen und Beziehungen zu intensivieren (Gefühle/Gemeinschaft, Nr. 5 der Central Capabilities in Tab. 1; Zugehörigkeit, Nr. 7 der Central Capabilities in Tab. 1), und die dabei auch Zugang zu weiteren Angeboten des Stadtteilzentrums finden konnten.
Insgesamt kann dieser Prozess so beschrieben werden, dass die im inneren Kreis aktiv Beteiligten (runder Tisch, Organisation von Café und Stadtteilspaziergängen) ihre individuellen Grundbefähigungen weiterentwickeln konnten und damit gleichzeitig kollektive Verwirklichungschancen für viele Bürger:innen des Stadtteils erweiterten. Barrieren (beispielsweise in der Gestaltung des öffentlichen Raums) wurden vermindert, Leerstellen für Partizipation (wie das Fehlen von Treffpunkten) konnten gefüllt werden. Bürger:innen beteiligten sich in unterschiedlicher Intensität, in unterschiedlichen Formaten, zu unterschiedlichen Themen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten, insgesamt in einem dynamischen Entwicklungsprozess, der unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten und Lernprozessen Raum gab.
Praktisches Ziel partizipativer Forschung ist es, Möglichkeitsräume älterer Menschen zu erweitern und sie in ihren kollektiven und individuellen Capabilities zu fördern. Der Fokus dieser Art von Forschung liegt meist auf dem „Wir" der gemeinsam Forschenden, sodass Beteiligungsprozesse als kollektive Prozesse reflektiert werden. Nussbaums Fähigkeitenansatz erlaubt es jedoch auch, individuelle Beteiligungsformen zu betrachten. Ein solches Hineinzoomen in Projektgruppen ist sinnvoll, um ein Verständnis für die Beziehungen in Forschungsgruppen zu entwickeln und die jeweiligen Macht- und Einflussstrukturen sichtbar zu machen. Das Projekt PaStA ist ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich Beteiligte partizipieren und in Abhängigkeit von ihren individuellen Befähigungen ihre Interessen verfolgen können. Es zeigt auch, dass Menschen mit mehr Capabilities (wie Frau M) in partizipativen Projekten oftmals privilegiert sind und sich leichter einbringen können. Partizipative Forscher:innen müssen diese Unterschiede berücksichtigen und versuchen sie zu kompensieren. Allerdings gilt es auch, sich vor Augen zu führen, dass Capabilities in einer Welt mit ungleich verteilten Befähigungen und Ressourcen zumeist nur graduell erweitert werden können.
Neben dem individuellen intendiert partizipative Forschung auch ein kollektives Empowerment. Eine Analyse der lokalen Situation mithilfe von Nussbaums Set an Grundbefähigungen kann Hinweise geben, in welchen Bereichen eine Stärkung von Verwirklichungschancen vonnöten ist. Wie das Projekt Age4Health zeigt, müssen auch dafür verschiedene Beteiligungsformen und -wege gefunden werden. Dabei ist entscheidend zu berücksichtigen, dass Capabilities sich immer aus dem Zusammenspiel von sowohl personenbezogenen als auch sozialstrukturellen Faktoren ergeben. Nur, wenn beide Dimensionen adressiert werden, kann Partizipation gelingen.
Abschließend soll noch eine wichtige Einordnung vorgenommen werden: Eingangs wurde die Reflexion der Beteiligungsprozesse mithilfe des CA in den Kontext der Sichtbarmachung von Wirkungen partizipativer Gesundheitsforschung gestellt. Wie dort festgestellt wurde, ist der Nachweis von Veränderung komplex und bedarf diverser Ansatzpunkte. Daher ist es wesentlich, die 10 zentralen Capabilities von Martha Nussbaum nicht als Checkliste für einen möglichen Impact misszuverstehen. Ziel ist nicht ein Abprüfen, ob in allen Bereichen ein Empowerment stattgefunden hat. Vielmehr betrachten die Autoren des vorliegenden Beitrags die Auseinandersetzung mit den konkreten Grundbefähigungen in einem Forschungsprojekt als Reflexionshilfe. Es geht darum, mithilfe des CA Entwicklungen der Partizipation älterer Menschen nachzuzeichnen und so auf Potenziale und Hindernisse in partizipativer Gesundheitsforschung aufmerksam zu machen.
Die Reflexion partizipativer Forschungsprojekte mit älteren Menschen vor dem Hintergrund des Capability Approach (CA) ermöglicht es,
- unterschiedliche Beteiligungsformen- und -intensitäten zu den jeweiligen Capabilities der Beteiligten in Bezug zu setzen sowie
- die Erweiterung von kollektiven und individuellen Verwirklichungschancen durch partizipative Forschung zu fördern.
Das Projekt PaStA wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert; Age4Health war ein Teilprojekt des BMBF-geförderten Forschungsverbundes PartKommPlus – Forschungsverbund für Gesunde Kommunen.
M. von Köppen und S. Kümpers geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Die Projekte PaSta und Age4Health erfolgten im Einklang mit nationalem Recht und der aktuellen Fassung der Deklaration von Helsinki. Für PaStA liegt ein positives Ethikvotum der Hochschule Fulda vor; für Age4Health befand die Ethikkommission der Hochschule Fulda, dass ein Ethikvotum nicht erforderlich sei.
Graph: Liste der zentralen Verwirklichungschancen (Central Capabilities) nach Martha Nussbaum [ [
By Marilena von Köppen and Susanne Kümpers
Reported by Author; Author