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GDI - 73. Internationale Handelstagung 2023: Warten auf den Danach-Moment.

Freutel, Aziza
In: TextilWirtschaft Online, 2023-09-26, S. 1-4
Online serialPeriodical

Business GDI - 73. Internationale Handelstagung 2023: Warten auf den Danach-Moment 

"Rethink Retail" war die 73. Internationale Handelstagung des GDI in Zürich überschrieben. Das neue oder andere Denken wird dabei vor allem von einem sich verändernden Kundenverhalten, aber auch von neuen technologischen Lösungen getrieben. Wie das konkret aussieht? Vier Mitbringsel aus der Schweiz. Es ist ein leicht verständliches Bild, das Johannes Bauer zu Beginn seines Vortrags zeigt. Eigentlich sind es zwei Bilder, die er an die Wand des großen Vortragssaals im Gottlieb-Duttweiler-Institut hoch über dem Zürichsee projiziert. Ein Foto zeigt zwei Frauen, die an einem Schaufenster vorbeischlendern. Beide halten schon Einkaufstüten in den Händen. Beide blicken begeistert in die Auslagen des Geschäftes. Das andere Bild zeigt eine einsame Wanderin in den Bergen. Sie blickt in Richtung von weit entfernten Gipfeln. "Bummeln oder Berge?" steht unter den zwei Fotos, daneben hat Bauer einen grüblerischen Smiley eingefügt.

Die Antwort auf die Frage ist für den Head of Think Tank beim GDI sehr eindeutig. "Im Wettbewerb um Share-of-Time ist Einkaufen nicht konkurrenzfähig", sagt Bauer. Zwar hätten die Menschen durch eine gesteigerte Produktivität viel mehr freie Zeit als früher, doch mit Einkaufen will die Mehrheit der Menschen diese Zeit längst nicht mehr verbringen.

Im Ranking der Lieblingsaktivitäten in der Freizeit, das angeführt wird von Zeit mit Familie (1) und Freunden (3) verbringen sowie Entspannen (2), steht Einkaufen auf Position 16 und damit sogar hinter Arbeit (15) und nur knapp vor Hausarbeit und Pendeln. "Menschen hassen nichts mehr als Zeit zu verpendeln. Der Lebensmitteleinkauf wird wahrgenommen wie bezahlte Arbeit. Shopping anderer Produkte macht den Menschen laut unseren Umfragen sogar noch weniger Freude als der Lebensmitteleinkauf bzw. die Arbeit."

Um das zu ändern, sei es wichtig zu verstehen, welche Aktivitäten die Menschen glücklich machen. "Shopping ist in der Spaß- und Sinnkrise", formuliert Bauer und ergänzt: "Um Menschen wieder zu Shoppern zu machen, müssen Händler aktiv die Rolle als Zeitgestalter wahrnehmen." Dafür gebe es verschiedene Anhaltspunkte, die er als die "vier P" - Promptness, Proximity, Pleasure und Purpose - beschreibt. "Einkaufen muss schneller, näher, schöner und sinnvoller werden", sagt Bauer.

Wie das aussehen kann, bzw. wie Unternehmen dieses Ziel erreichen, war Thema der diesjährigen internationalen Handelstagung des Gottlieb-Duttweiler-Institutes in Zürich. Unter dem Titel "Rethink Retail. Be bold, stay focused, earn trust" beschäftigen sich rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwei Tage Anfang September damit, Antworten auf die Frage wie 'Shoppen aus der Spaß- und Sinnkrise herauskommen kann?' zu finden. Die eine Antwort gab es erwartungsgemäß nicht, allerdings eine Vielzahl von Beispielen für - funktionierende bzw. mögliche - Lösungsansätze. Vier davon stellt die TextilWirtschaft hier vor.

1. Schöner shoppen Neue, frische Ideen im stationären Einzelhandel? Fehlanzeige, konstatiert Scott Galloway, Professor für Marketing an der New York University in seinem Vortrag. "Auch wenn die Sorge vor dem Tod des stationären Einzelhandels vollkommen übertrieben war, zeigt sich, dass Innovation im Retail vor allem Online und die Supply Chain betrifft." Zugeschaltet aus New York beschreibt er den Status Quo, hebt aber auch Trends und neue Möglichkeiten für den Retail hervor. Wie etwa Künstliche Intelligenz. "Bevor Sie mit dem Brainstorming für eine neue Ladengestaltung beginnen, können Sie sich KI basiert schon einmal ein paar Vorschläge erarbeiten lassen", sagt Galloway und zeigt dazu Bilder einer Store-Studie für Lacoste. Im Zentrum der in Beige- und Grüntönen gehaltenen Studien steht ein überdimensionales Krokodil, mal auf einem Podest, mal den Kopf aus einer Tür streckend.

Mit einem neuen Ansatz ist Sportscheck an die Gestaltung seiner Stores gegangen. Premiere feierte das Konzept 2022 in Stuttgart, in diesem Jahr soll es unter anderem noch in Berlin und Frankfurt realisiert werden. Die Kernüberlegung dazu beschreibt CEO Matthias Rucker so: "Wir denken in Ökosystemen. Wir wollen den Kunden rund um die einzelnen Sportarten alles anbieten, was sie interessieren könnte. Dazu zählt auch, dass wir Physiotherapeuten oder einen Optiker auf der Fläche haben."

Das Rundum-Paket inkludiert Raum für Sportkurse oder die Organisation von regelmäßigen Lauftreffs an den einzelnen Standorten. Der Store fungiert dabei als Dreh- und Angelpunkt, ist aber längst nicht der einzige Kontaktpunkt. "Wir wollen das Thema Spaß am Sport in den Mittelpunkt stellen, Sport als Möglichkeit anbieten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, gemeinsam Zeit zu verbringen."

Den Laden als Zentrum für eine Community zu sehen, ist das eine, den Laden als Erlebnisort für die Freizeitgestaltung zu sehen, der Ansatz von Camp. Schon im Claim des US-Filialisten schwingt dieser Anspruch mit -,,A Family Experience Company". Der Store wird hier explizit zur Spielwiese für die gesamte Familie.,,Unsere Läden sind wie lebende Labore, sie verändern sich ständig", sagt Rachel Shechtman, Mitglied des Verwaltungsrats von Camp. Kernstück aller Stores ist das magische Bücherregal, das zur Seite geschoben werden kann und den Weg zu detailverliebten Phantasiewelten und den dazu passenden Produkten freigibt.

Dabei steht mittlerweile die Kooperation mit Entertainment-Unternehmen im Fokus. In Atlanta können die Kunden derzeit die Unterwasserwelt von Disney's kleiner Meerjungfrau erkunden, in New York durch die Kulissen des Musicals Encanto wandeln oder mit der Hunde-Truppe der Paw Patrol Abenteuer erleben.,,Wir bieten ein immersives Markenerlebnis", sagt Shechtmann, die auch Gründerin des mittlerweile zu Macy's gehörenden Concept Stores Story ist. Die Nachfrage der Marken sei so groß, dass es mittlerweile mit dem Vendor Experience Manager einen speziellen Ansprechpartner bei Camp gebe.

2. Näher shoppen Während Camp den Store als Spielfläche sieht, ist ein stationäres Geschäft für Dimas Gimeno Álvarez eher eine kuratierte Galerie. Der frühere El Corte Inglés-CEO stellt in Zürich unter dem Titel,,Let's get Phygital: The Next Frontier of Department Stores" den neuen Concept Store Wow vor. Vergangenes Jahr wurde der achtstöckige Laden in Madrid eröffnet, er bespielt 5500m2. Im Angebot Mode und Accessoires für Frauen und Männer, Möbel, technische Produkte und Kosmetik.

"Was ein Store leisten kann, kann der beste Online-Marketplace nicht leisten", ist Gimeno Álvarez überzeugt. Das schließe allerdings digital keinesfalls aus. "Die Customer Journey steht bei uns im Fokus, und da alles heute mit dem Smartphone passiert, muss alles digital sein." Das zeigt sich nicht zuletzt bei den fast schon skulptural anmutenden überdimensionalen Figuren auf der Fläche. Sie halten Smartphones und Tablets in den Händen.

Im physischen Store findet sich nur eine Auswahl des umfangreiches Angebots des Online-Shops. Marken müssen für die Präsentation auf der Fläche extra bezahlen. In drei Monaten soll der zweite Store folgen, nur unweit vom ersten entfernt. Warum so nah? "Auch wenn nur wenige Kilometer zwischen den Stores liegen werden, handelt es sich dort um ganz andere Kunden. Gemein wird ihnen allerdings sein, dass viele Touristen einkaufen werden", sagt Gimeno Álvarez und spricht damit eine Entwicklung an, die auch Bauer betont hat: Einkaufsmöglichkeiten dort anzubieten, wo die Kunden sind, wird immer entscheidender.

Eine Erfahrung, die auch Kilian Wagner, Co-Gründer und CEO von Viu gemacht hat.,,Wir haben digital zunächst auch falsch eingeschätzt. Anfangs wollten wir gar keine Läden eröffnen." Vor zehn Jahren startete Wagner mit seinem Co-Gründer Peter Kaeser das Brillen-Unternehmen mit Design aus Zürich, Gestellen aus Italien und Gläsern aus Basel. Schon wenige Monate nach dem Launch wechselten sie die Strategie und eröffneten einen Store.

Die Erfahrung sei,,krass" gewesen, sagt Wagner. Der Laden sei mehr als ein Verkaufsort - auch, weil die Geschäfte immer anders gestaltet sind. Zwar gebe es in jedem Store-Elemente, die der Brand zugeordnet werden, doch gleichzeitig versuche Viu etwas zu bauen, was die lokalen Gegebenheiten aufgreift.,,Skalierbare Lokalisierung", nennt Wagner das. Dabei geht es darum, eine emotionale Welt zu kreieren.,,Online ist für uns der Lead-Kanal, durch Termine zur Augenmessung versuchen wir die Leute dann in die Läden zu holen. Es ist ein Omni-Channel-Play."

3. Besser shoppen Dass die Veränderungen beim Shopping aber über die Kanalverschiebung hinausgeht, zeigt Mary Portask in ihrem Vortrag. Die frühere Creative Director von Harvey Nichols führt seit 1997 ein eigenes Beratungsunternehmen, seit zehn Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit dem Wandel des Einkaufsverhaltens.,,Vor 30 Jahren waren wir auf dem Höhepunkt des Konsumerismus", sagt Portask. Seitdem habe sich viel verändert. Dies beschreibt sie als eine Verschiebung vom,State of Symbol' zum,State of Sentism'.,,Statt um die nächste It-Bag geht es den Menschen darum, das Gefühl zu haben, das Richtige zu tun - auch beim Shoppen." Dabei rückten die Unternehmen und ihr Mindset stärker in den Konusmenten-Fokus.

,,Jeder Zweite der Gen Z gibt an, seine Karriere-Entscheidungen auch danach getroffen zu haben, welchen Impact der Job hat." Jeder Dollar, jedes Pfund, jeder Euro, der ausgegeben werde, so Portask, zeige die Wahl, wie man leben will. Für die Modebranche bedeute das vor allem mehr Recycling, mehr Reparaturservice und weniger Nachfrage.

Eine Bewusstseinsveränderung, die auch Markus Kaser von Spar Austria wahrnimmt. Das Lebensmittelhandelsunternehmen hat reagiert und versteht seine Rolle heute als,,Advokat der Kunden".,,Es geht darum, Vertrauen zu gewinnen und deutlich zu machen, dass wir die Interessen unserer Kundinnen und Kunden verstehen und vertreten. Ob in Bezug auf Nachhaltigkeit, Gesundheit oder Preisgestaltung", so der Spar-Vorstand für Marketing, Einkauf und IT. Ein Beispiel sei die,,Zucker raus"-Initiative. Es gehe nicht nur um Information, sondern um messbare Veränderung: So reduzierte das Unternehmen bei seinen Eigenmarken, etwa bei Fruchtjoghurts, den Zuckeranteil kontinuierlich. Der Nachfrage habe das keinen Abbruch getan, so Kaser.

4. Schneller shoppen Verändern, gestalten, aktiv werden - dazu fordert Marianne Janik von Microsoft die Zuhörerinnen und Zuhörer in ihrem Vortrag zu Künstlicher Intelligenz auf.,,Diese Technologie wird alle Lebenswelten beeinflussen und sich durch die gesamte Gesellschaft ziehen - mit allen Chancen und Risiken", sagt die Deutschland-Chefin des Techkonzern. Prinzipiell sei das positiv zu bewerten, denn letztlich habe jeder Technologiesprung einen Wohlstandszuwachs mit sich gebracht. Um negative Folgen zu verhindern, brauche es in den Unternehmen ein Kompetenzzentrum, das die Technologie versteht und bewertet. Dass neue Lösungen notwendig sind und Altbewährtes überdacht werden muss, ist nach den anderthalb Tagen klar. Doch die Frage bleibt, wie das eigentlich geht, den Handel zu überdenken?

Einige Denkansätze liefert Adam Alter, Professor für Marketing an der Stern School of Business in New York, mit seinem Vortrag. Er hat sich intensiv mit kreativen Entwicklungsprozessen beschäftigt. Eines seiner Learnings: Die sogenannte,,Originalitäts-Falle". Es sei kaum möglich, etwas ganz Neues zu erfinden, die meisten Produkte seien die Kombination aus Bestehendem. Statt Originalität sei Recombination angesagt.,,Gute Ideen entstehen dann, wenn man den Punkt überwindet, an dem man denkt, dass einem nichts mehr einfällt. Danach kommen einem meistens die die besten Ideen."

By Aziza Freutel

Titel:
GDI - 73. Internationale Handelstagung 2023: Warten auf den Danach-Moment.
Autor/in / Beteiligte Person: Freutel, Aziza
Zeitschrift: TextilWirtschaft Online, 2023-09-26, S. 1-4
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: serialPeriodical
Schlagwort:
  • CONFERENCES & conventions
  • ARTIFICIAL intelligence
  • CONSUMERS
  • INTERNATIONAL trade
  • RETAIL industry
  • ZURICH (Switzerland)
  • Subjects: CONFERENCES & conventions ARTIFICIAL intelligence CONSUMERS INTERNATIONAL trade RETAIL industry
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: GDI - 73rd International Trade Conference 2023: Waiting for the after moment.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Geographic Terms: ZURICH (Switzerland)
  • Full Text Word Count: 1684

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