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MUSIK DER WELT -- KINDER DER WELT.

Barth, Dorothee ; Neumann, Friedrich
In: Musik und Bildung, 2023-07-01, Heft 3, S. 26-29
Online serialPeriodical

MUSIK DER WELT -- KINDER DER WELT 

THEMA

Musikunterricht im Spannungsfeld globaler Musikkulturen

Der Anteil von Schulkindern mit Migrationserfahrung nimmt stetig zu. Nach den großen Fluchtbewegungen 2015 ist der Zuzug aus den damaligen Kriegsregionen zwar geringer geworden, aber noch nicht versiegt. Durch den russischen Angriffskrieg sind aktuell viele ukrainische Kriegsflüchtlinge in Deutschland. Dazu kommen weitere Einwanderer aus verschiedenen Ländern, die hier arbeiten.

Wir haben es in den Klassenzimmern inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes mit Kindern der ganzen Welt zu tun, die zuweilen auch über einen unterschiedlichen kulturellen Background verfügen. Insofern wird die Frage drängender, wie im Unterricht mit dieser Situation umgegangen werden kann. Die verschiedenen Musiken der Welt sind für alle Schulkinder interessant. Es ist wünschenswert, dass sie dass sie eine musikalisch-ästhetische Handlungskompetenz gegenüber unbekannter, fremder oder be fremdlicher Musik entwickeln. Dazu gehört das Vertrauen, durch Kennenlernen und Ausprobieren neuer Musikpraxen den eigenen musikalischen Horizont erweitern und bereichern zu können.

Handlungskompetenz in drei Schritten

Zur Verbesserung der Handlungskompetenz gegenüber unbekannten, fremd oder befremdlich erscheinenden Musikkulturen werden hier drei Schritte empfohlen:

(1) Eigene Maßstäbe reflektieren

Es geht darum zu begreifen, dass die „eigenen“ Maßstäbe, Deutungen, Sichtweisen auf Musik nicht die „normalen“ sind, sondern lediglich eine Variante unter vielen anderen Möglichkeiten. Eine musikalische Praxis besteht aus vielen Einzelaspekten, die zusammen die Qualität (die Beschaffenheit) dieser Praxis ausmachen. Unterschiedliche musikalische Praxen zeichnen sich auch durch jeweils andere Qualitäten aus und lassen sich daher nicht mit den Maßstäben der eigenen musikalischen Praxis beschreiben oder messen. Das kann übertragen am Beispiel der „Handgeste“ deutlich werden. Wir sehen hier vier gleiche Handhaltungen, die in unterschiedlichen Lebenspraxen oder Kulturen etwas ganz anderes bedeuten (s. Abb.: Die Handgeste)

Einzelaspekte, aus denen sich eine musikalische Praxis zusammensetzt, sind bestimmte musikbezogene Tätigkeiten und Handlungsweisen, wie zum Beispiel Theorie von Musik, Aufführungsorte, Körperhaltungen bei der Ausübung, Kleidung, Räumlichkeiten, Kontextgeschichten, Ausdrucksinterpretationen und Bedeutungszuschreibungen. Christopher Wallbaum* bezeichnet diese Einzelaspekte einer musikalischen Praxis als musikalisch-ästhetische (Kultur)Techniken, und eine durch Konventionen gefestigte Praxis als „Kultur“. Hier drei Beispiele zur Verdeutlichung:

* Ein Anhänger abendländischer Kunstmusik geht auf ein Hip-Hop-Konzert und beschwert sich darüber, dass die Musik anspruchslos sei, weil sie harmonisch einfach gebaut sei.

* Eine Jazzmusikerin kritisiert nach einem Opernbesuch die Leistung der Musiker:innen, weil sie ja gar nicht improvisiert hätten.

* Ein Heavy-Metal Fan fürchtet nach dem Besuch einer jüdischen Hochzeit, auf der eine Hora getanzt wurde, dass die Hochzeit wohl niemandem gefallen haben kann, weil beim Tanzen niemand so richtig ausgeflippt sei, schließlich hätten alle nur im Kreis getanzt.

Diese Personen haben nicht erkannt, dass sie die Wertmaßstäbe, die sie an einer musikalischen Praxis kennengelernt haben, nicht auf andere musikalische Praxen übertragen dürfen. Zu begreifen, dass die eigenen Maßstäbe nicht die „normalen“ sind, sondern lediglich eine Variante unter vielen anderen Möglichkeiten, ist die erste zentrale Kompetenz, die beim Thema Musik(en) der Welt erworben werden soll.

(2) Kulturelle Erfahrungen für sich erschließen

Jede Person muss für sich wissen, wie sie Erfahrungsqualitäten, die eine unbekannte, fremde oder befremdliche Musik ermöglicht, für sich selbst erschließen kann. Wenn ich an die Erfahrungsqualitäten herankommen möchte bzw. selbst erfahren möchte, die eine unbekannte, fremde oder befremdliche Musik (z. B. jüdischen Hora, Heavy Metal, Musik der Roma, afrikanische Musik oder abendländische Oper) ermöglicht, muss ich wissen, wie das funktioniert und wie ich dabei vorgehen kann. Ich muss mögliche Fragen kennen, die ich an eine unbekannte, fremde oder befremdliche Musik stellen kann:

* Wer spielt oder singt die Musik?

* Bei welcher Gelegenheit wird diese Musik gespielt oder gesungen?

* An welchen Orten und in welcher Absicht geschieht das?

* Was für Instrumente kommen zum Einsatz?

Wann ist diese Musik aus Sicht Ihrer Agierenden „schön“?

* Gibt es ein Publikum und wie verhält es sich?

* Wie wird über die Musik gesprochen, wird sie bewertet?

(3) Kulturelle Erfahrungen integrieren

Der dritte Schritt besteht in der Fähigkeit, das Angebot anzunehmen, das mir eine unbekannte, fremde oder befremdliche musikalische Praxis macht. Dieses Angebot bzw. diese neue musikalische Praxis gilt es ins eigene Leben zu integrieren. Beispiel: Wenn Schüler Leon nach der Schule gleich an den heimischen Rechner saust oder sich sein Smartphone schnappt und auf Youtube die polyphonen Gesänge Korsikas hört, die er gerade im Musikunterricht kennengelernt hat, denn sie haben ihn so begeistert, dass er sie nun immer wieder hören will.

Die Thematisierung unbekannter, fremder oder befremdlicher Musik im Musikunterricht ist ein Angebot, sich auf sie einzulassen, neue Erfahrungsmöglichkeiten kennenzulernen und sie sich selbst -- soweit es möglich ist -- zu eigen zu machen. Dies gilt für jede neue Musik, die kennengelernt wird (auch für die abendländische Kunstmusik) und auch für alle Musik(en) der Welt.

Musik und Migration

Das Thema Musikunterricht in der Migrationsgesellschaft setzt etwas andere Ziele. Denn alle Schüler:innen (egal ob mit oder ohne Migrationserfahrung) sollen Handlungskompetenzen zur Gestaltung eines gelingenden Lebens in der multikulturellen Gesellschaft erwerben. Dazu gehört das Bewusstsein einer transkulturellen Identität, die über das Medium der Musik deutlich werden kann. Da in der aktuellen gesellschaftlichen Realität Schulkinder mit Migrationserfahrung aber in besonderem Maß von Ethnisierung und Ausgrenzung betroffen sind, stehen sie leider noch im Fokus des Themenfeldes „Musik und Migration“.

Anfänge der Interkulturellen Musikpädagogik etablierten sich ab 1973. Damals wurde ein Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte ausgesprochen; wer aber bereits als Gastarbeiter in Deutschland lebte, durfte bleiben und die Familie nachholen. Im Zuge der Familienzusammenführung kamen viele „ausländische“ Kinder in das deutsche Schulsystem. Sie sollten unter Bezugnahme auf die Musik ihrer Herkunftsländern besser in das deutsche Schulsystem integriert werden. Seitdem wurden immer wieder neue Konzepte entwickelt und es wurde auf die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen reagiert. Doch immer noch finden ethnisierende und auch rassistische Diskriminierungen statt. Versetzen wir uns in die Lage von Jugendlichen in der Zeit der Pubertät, also der Selbstfindung, der Abgrenzung, des Protestes, der Unsicherheit. Sie können versuchen, Vorurteile zu entkräften und immer gegen einen gefühlten Strom zu schwimmen. Sie können verzweifelt, erschöpft und traurig werden, oder sie drehen den Spieß um und wenden die Projektionen in eine Selbstbeschreibung. Manche nehmen dann die Fremdbeschreibungen an und integrieren sie in ihre Selbstbeschreibungen (ethnische Selbstinszenierung).

Einen Ausweg kann Schule bieten, indem sie deutlich macht, dass sich die Identität eines Menschen aus vielen verschiedenen Bausteinen und Zugehörigkeiten zusammensetzt -- die Herkunft ist nur einer davon. Einen Gegenentwurf zur ethnisch bestimmten Identität bietet die Vorstellung der transkulturellen Verfasstheit des Menschen. Die Herkunft ist dabei nur ein Mosaikstein der Selbstbeschreibung, denn Menschen fühlen sich vielen kulturellen Praxen zugehörig (s. Abb. oben). Das Bewusstsein für die eigene transkulturelle Verfasstheit kann im Musikunterricht besonders deutlich an der eigenen Verortung in unterschiedlichen musikalischen Praxen oder Kulturen deutlich werden.

Kulturelle Schnittmengen -- echt und falsch

Eine echte Schnittmenge zwischen den Themenfeldern Musik und Migration und Musik(en) der Welt entsteht, wenn Kinder und Jugendliche neu nach Deutschland einwandern oder -- wie zuletzt im Jahre 2015 -- geflüchtet sind. Sie fühlen sich vielleicht tatsächlich in unterschiedlichen musikalischem Kulturen beheimatet und können in der Schule davon berichten. Vielleicht können sie den Musikunterricht durch unterschiedliche Musik(en) der Welt bereichern. Aber Achtung: Auch in Syrien, Afghanistan hören Menschen globalisierte Popmusik.

An dieser Stelle tut sich nämlich die Gefahr einer falschen Schnittmenge auf. Diese ergibt sich, wenn bei Kindern und Jugendlichen, deren Familie zwar über eine Einwanderungsgeschichte verfügt, die aber schon lange in Deutschland leben, fraglos angenommen wird, sie wären „anders“ und würden auch „andere“, also unbekannte oder befremdliche Musik hören oder spielen. Die gut gemeinte Absicht, diese Musik ihnen zuliebe im Unterricht zu thematisieren, läuft dann ins Leere oder führt sogar zu Diskriminierungen.

Impulse zum Verständnis und zum Weiterdenken

Zur Vermeidung falscher Schnittmengen, zum generellen Verständnis und zum Weiterdenken kann es helfen, über die hier vorgeschlagenen Fragen nachzudenken:

Denken Sie an die Gesten mit den Händen: Kennen Sie andere Beispiele für interkulturelle Missverständisse? Auch in musikalischen Situationen?

Wann ist Ihnen zuletzt unbekannte, fremde oder befremdliche Musik begegnet? Konnten Sie sich darauf einlassen? Wenn ja -- wie kam es dazu? Wenn nein -- was wäre dazu nötig gewesen?

Wann ist Musik die eigene -- wann ist sie fremd?

Kennen Sie Beispiele oder haben sie auch selbst schon Erfahrungen gemacht, wie aus Projektionen Selbstbeschreibungen werden können?

Fazit

In diesem Beitrag wurde in die beiden großen Themenfelder, mit denen sich die Interkulturelle Musikpädagogik seit einigen Jahrzehnten beschäftigt eingeführt. Dabei lag der Schwerpunkt auf den unterschiedlichen Zielsetzungen -- allerdings stark verkürzt und gerafft.

Wie zu erwarten war, gibt es keine pauschale Lösung für den Umgang mit Kindern aus unterschiedlichen musikkulturellen Hintergründen. Es ist aber vielleicht deutlich geworden, wo Fallstricke lauern und wie man die Lernenden und sich selbst für die Problematik und die damit verbundenen Themenfelder sensibilisieren kann.

www.musikundbildung.de

* Beitrag als PDF

Die Handgeste

Die Bilderserie unten zeigt, welche unterschiedlichen Bedeutungen die gleiche Geste in verschiedenen Regionen der Welt haben kann. So können interkulturelle Missverständnisse entstehen.

Transkulturelle Verfasstheit

Die Herkunft ist nur ein Mosaikstein der Selbstbeschreibung, denn Menschen fühlen sich vielen kulturellen Praxen zugehörig (A).

Musik bietet viele Möglichkeiten kultureller Grenzüberschreitungen und transkultureller Verortungsmöglichkeiten (B).

Kulturelle Schnittmengen

© Friedrich Neumann (alle Fotos)

Türkei: Geste für „schön“ oder „gut“

Italien: Geste für „Was willst du?“

Kongo: Geste für „klein“ oder „wenig"

Ägypten: Geste für „Gedulde dich!“ © IMAGO/Olaf Döring

© IMAGO/ Shotshop

Alle Schulkinder (mit oder ohne Migrationserfahrung) sollen Handlungskompetenzen zur Gestaltung eines gelingenden Lebens in der multikulturellen Gesellschaft erwerben. Dazu gehört das Be-wusstsein einer transkulturellen Identität, die über das Medium der Musik deutlich wird.

ANMERKUNG

* Wallbaum, Christopher (2013): Das Exemplarische in musikali sch-ästhetischer Bildung - Ästhetische Praxen, Urphänomene, Kulturen -- ein Versuch. In: Vogt, Jürgen (Hg.): Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik (ZfKM) 2013, S. 20--40.

By Dorothee Barth; Friedrich Neumann

Titel:
MUSIK DER WELT -- KINDER DER WELT.
Autor/in / Beteiligte Person: Barth, Dorothee ; Neumann, Friedrich
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2023-07-01, Heft 3, S. 26-29
Veröffentlichung: 2023
Medientyp: serialPeriodical
ISSN: 0027-4747 (print)
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Full Text Word Count: 1573

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