Deutschlands Entscheidung von 2022, F-35 Kampfflugzeuge als Nachfolger der Tornados für Einsätze im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO zu beschaffen, reflektiert einen während der Kanzlerschaft Konrad Adenauers verankerten Ansatz: Deutschland ist und bleibt ein Nichtkernwaffenstaat, produziert und kontrolliert keine Kernwaffen, aber es trägt im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO zum risk and responsibility sharing unter Verbündeten teil. Deutschlands Grundsatzentscheidung zugunsten der F-35 legt zudem nahe, dass die Bundesregierung ausreichend Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der nuklearen Schutzzusage der USA zur Abschreckung mindestens nuklearer Bedrohungen hat. Die Entscheidung von 2022 zeigt, dass fundamentale Elemente der strategischen Logik fortbestehen, die auch die nukleare Sicherheitspolitik Deutschlands während des Kalten Krieges seit Adenauer leiteten. Zu diesen Elementen gehören geostrategische Kontinuitäten, das Interesse an der transatlantischen Westbindung Deutschlands und der bedingte Verzicht auf nationale Kernwaffen. Zweitens argumentiert der Artikel, dass sich Wahrnehmungen der militärstrategischen Erfordernisse glaubwürdiger US extended nuclear deterrence bezogen auf Europa anscheinend in profunder Weise geändert haben. Demnach erscheint es als weniger anspruchsvoll als einst im Kalten Krieg, die nuklearen Schutzzusagen der USA für Europa glaubwürdig zu halten. Zudem stellt der Artikel fest, dass kein einziger Staat in der NATO – auch nicht Frankreich – in der Lage wäre, die strategische Rolle der USA in Europa einzunehmen.
Germany's 2022 decision to procure F-35 fighter jets to succeed the Tornadoes for NATO's nuclear sharing missions reflects an approach already established during Konrad Adenauer's chancellorship: Germany is and remains a non-nuclear-weapon state, does not produce or control nuclear weapons, but it contributes to risk and responsibility sharing among allies as part of NATO's nuclear sharing. Germany's landmark decision in favour of the F-35s also suggests that the German government has sufficient confidence in the credibility of the U.S. nuclear protection pledge to deter at least nuclear threats. The 2022 decision demonstrates that fundamental elements of the strategic logic persist which also guided Germany's nuclear security policy during the Cold War since Adenauer. These elements include geostrategic continuities, the interest in Germany's transatlantic ties to the West, and the conditional renunciation of national nuclear weapons. Secondly, the article argues that perceptions of the military-strategic requirements of credible U.S. extended nuclear deterrence for Europe have apparently changed profoundly. Correspondingly, maintaining U.S. nuclear protection for NATO appears to be less challenging compared to the Cold War. Furthermore, the article observes that not a single state in NATO – not even France – would be able to take on the strategic role of the United States in Europe.
Keywords: Nukleare Abschreckung; NATO; Deutschland; nuclear deterrence; Germany
Deutschland wird auf absehbare Zeit Partner im Rahmen der nuklearen Teilhabe bleiben. Seit den späten 1950er-Jahren besteht die nukleare Teilhabe als Arrangement innerhalb der NATO. Dieses konkretisiert die nukleare Schutzzusage der USA (U.S. extended nuclear deterrence) in Europa so, dass ausgewählte US-Verbündete Trägermittel für in Europa gelagerte US-Kernwaffen unter integriertem NATO-Befehl bereitstellen. Das Arrangement war in Deutschland seit Beginn dieses Jahrhunderts heftig umstritten und es war in den vergangenen Legislaturperioden nicht möglich, eine konsensfähige Entscheidung über die Neubeschaffung von Flugzeugen zu finden, die die veralteten Tornados IDS ablösen sollten. Nach Russlands bewaffnetem Angriff auf die Ukraine Ende Februar 2022 verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022, die Bundeswehr werde F-35-Flugzeuge beschaffen als Trägermittel für US-Kernwaffen. Deutschlands „Zeitenwende" hat somit auch eine nukleare Dimension, die ausschließlich auf die nukleare Teilhabe in der NATO bezogen ist. Die für die nukleare Teilhabe „notwendigen Trägerflugzeuge" sollen laut der im Juni 2023 beschlossenen Nationalen Sicherheitsstrategie „ohne Unterbrechung" bereitgestellt werden.
Die Grundsatzentscheidung der Bundesregierung unter einer Koalition von SPD, FDP und Grünen beendete einen gut zwei Jahrzehnte andauernden Schwebezustand ungewisser, überwiegend dilatorischer und zuweilen orientierungsloser deutscher Politik zu diesem Thema. „Aus militärischen Gesichtspunkten" präferierte man offenbar schon seit Langem die F-35 als Nachfolgermodell für den Tornado IDS. Dennoch wurde über Jahre hinweg auch vor den Augen der Öffentlichkeit argumentativ hart um Deutschlands Kurs in der Frage der nuklearen Teilhabe gerungen. Bereits die „rot-grüne" Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte die nukleare Teilhabe Deutschlands zeitweilig infrage. Eine zu Beginn der „schwarz-gelben" Regierung (2009–2013) von Deutschland angetriebene Kampagne zum Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe (angestoßen vom damaligen Außenminister Guido Westerwelle, FDP) scheiterte krachend. 2012 trug die Bundesregierung daraufhin ein wichtiges NATO-Grundsatzpapier zur nuklearen Abschreckung mit.
Während der ersten Präsidentschaft Barack Obamas (2009–2013) war die Frage der nuklearen Teilhabe in der NATO allerdings nur ein Element in der sehr viel größeren Debatte um die Realisierungschancen einer Welt ohne Kernwaffen. Diese Debatte fand primär im Westen statt und war global nicht einflussreich. Natürlich war die Diskussion über eine kernwaffenfreie Welt in vielfacher Hinsicht wichtig, sie blieb aber überwiegend abstrakt. Eine zentrale, für manche bittere, für andere ernüchternde, Erkenntnis war, dass es nicht menschenmöglich sei, Kernwaffen global wirksam abzuschaffen, selbst wenn manche versuchten, Sicherheit ohne sie zu denken.
Während der Kabinette Merkel III und IV (2013–2018, 2018–2021) bremsten vor allem die Sozialdemokraten in der Koalition die Vorbereitung einer Grundsatzentscheidung zur nuklearen Teilhabe aus. Ähnlich wie bei der Opposition von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken ging dies mit abrüstungsidealistischen und entspannungspolitischen Argumenten mit Blick auf Russland und Kritik an den USA einher. Dass nach Ausrufung der „Zeitenwende" im Jahr 2022 plötzlich manche dieser Argumente auch bis weit in die SPD hinein als anachronistisch, wenn nicht als peinlich und beschämend bezeichnet wurden, zeugte zwar von einer gewissen Anpassung, aber nicht unbedingt von einem tiefgehenden Lernprozess.
Jedenfalls bestätigte Deutschlands F-35-Entscheidung von 2022 einen während der Kanzlerschaft Konrad Adenauers verankerten Ansatz: Deutschland ist und bleibt ein Nichtkernwaffenstaat, produziert und kontrolliert keine Kernwaffen, trägt aber im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO zum risk and responsibility sharing unter Verbündeten bei. Deutschland hat also eine gewisse Mitverantwortung an der westlichen nuklearen Abschreckung und ist damit ein stakeholder im euro-atlantischen System der extended nuclear deterrence der USA. „Die nukleare Teilhabe ist dabei Teil einer glaubhaften präventiven Abschreckung und sichert gleichzeitig Deutschlands Mitsprache bei diesbezüglichen Planungen."
Im Kalten Krieg war eine große Bandbreite an Trägersystemen und Kernwaffen (darunter britische) in europäischen NATO-Ländern, insbesondere auch in der Bundesrepublik sowie in der Bundeswehr, vorhanden. Öffentlich verfügbare Informationen, darunter Strategiedokumente der US-Regierungen, die unter den Präsidenten Trump und Biden freigegeben wurden, dokumentieren, dass die nukleare Teilhabe in der NATO gemäß dem in den frühen 1990er-Jahren gegebenen Status quo bis in die Gegenwart fortgeschrieben wurde: Unter integriertem NATO-Befehl stellen bestimmte kontinentaleuropäische US-Verbündete, so auch Deutschland, Kampfflugzeuge bereit, die dual-capable und für US-Kernwaffen zertifiziert sind, und im Einvernehmen mit diesen Verbündeten können die USA Kernwaffen in Europa lagern, konkret: B-61-Atombomben. Deutschlands Grundsatzentscheidung zur F-35 legt zudem nahe, dass die Bundesregierung im Kreis der Regierungen anderer NATO-Staaten ausreichend Vertrauen hat in die Glaubwürdigkeit der nuklearen Schutzzusage der USA zur Abschreckung zumindest von nuklearen Bedrohungen. Dies gilt offenbar auch perspektivisch. Denn es geht nicht nur um Vertrauen im Hier und Jetzt. In Anbetracht einer unvorhersagbaren Zukunft voller Ungewissheiten geht es auch um Vertrauen für die nächsten Jahre oder gar Jahrzehnte.
Dieser Befund, den öffentlich verfügbare Informationen nahelegen, erscheint bemerkenswert, wenn man ihn in die historische Entwicklung seit den 1950er-Jahren und in den Kontext einer zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts bereits erheblich veränderten globalen nuklearen Bedrohungslage einordnet. Die heutige nukleare Bedrohungslage beruht zum einen darauf, dass die Atommacht Russland ihre nukleare Macht missbraucht, indem sie unter Bruch des völkerrechtlichen Gewaltverbots Grenzen in Europa neu zu ziehen und dieses Vorgehen mittels nuklearer Abschreckung abzuschirmen versucht. Zum anderen modernisiert die Volksrepublik China ihre Nuklearstreitkräfte. Während China nach seinem ersten, 1964 erfolgten Kernwaffentest im Kalten Krieg ähnlich wie Großbritannien und Frankreich eine Nuklearmacht zweiten Ranges blieb, rüstet es mittlerweile in einer Weise auf, dass sich der Abstand zwischen China und den Atommächten ersten Ranges, also Russland und USA, verringert hat und voraussichtlich weiter abnehmen wird. In den USA ist von einem two peer problem die Rede: Ähnlich wie die Sowjetunion in den 1960er-Jahren sei China auf dem Weg, ungefähre „Parität" mit den USA auf zentralstrategischer bzw. interkontinental-strategischer nuklearer Ebene zu erreichen, erstrebe aber möglicherweise auch weniger als das oder im Gegenteil langfristig eine gewisse Überlegenheit. Die USA müssten somit zwei nuclear peers abschrecken.
In der „nuklearen Dimension" von Deutschlands Entscheidung, F-35-Kampfflugzeuge für die Luftwaffe zu beschaffen, um dadurch auch Deutschlands zukünftigen Beitrag zur nuklearen Teilhabe in der NATO zu sichern, bündeln sich jahrzehntelange Kontinuitätslinien, deren Anfänge auf Kanzler Konrad Adenauers zurückgehen, Anpassungsprozesse nach dem Kalten Krieg und, wie genau auch immer, Erwartungen zur Entwicklung der nuklearen Weltordnung und globalen nuklearen Bedrohungslage.
Auch wenn der Entscheidungshergang nicht bekannt ist, nimmt der Artikel ihn zum Anlass, Deutschlands F-35-Entscheidung von 2022 in eine historische Perspektive einzuordnen. Der Autor vertritt seine persönlichen Ansichten, nicht die irgendeiner staatlichen Stelle der Bundesrepublik, und schöpft ausschließlich aus offenen und öffentlich zugänglichen Quellen. Der methodisch qualitative Ansatz beruht auf Recherchen in Archiven und der Sichtung der Ergebnisse einschlägiger Forschungen. Die ausgehenden 1950er- und frühen 1960er-Jahre, also die letzten Jahre der Kanzlerschaft Adenauers, stellen eine wichtige Referenzperiode dar. Die hier vorgestellte historische Perspektive führt zu zwei Hauptthesen, die im Anschluss weiter ausgeführt werden:
Erstens zeigt Deutschlands F-35-Entscheidung von 2022 an, dass nach wie vor fundamentale Elemente der strategischen Logik bestimmend sind, die der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik im Kalten Krieg seit Konrad Adenauers Kanzlerschaft zugrunde gelegen haben.
Zweitens haben sich anscheinend die Wahrnehmungen der militärstrategischen Erfordernisse glaubwürdiger US extended nuclear deterrence bezogen auf Europa signifikant verschoben, sodass es nach dem Kalten Krieg weniger anspruchsvoll erscheint, die nuklearen Schutzzusagen der USA für Europa glaubwürdig zu halten.
Beides hilft zu erklären, warum in der NATO seit den frühen 1990er-Jahren operationale Kontinuität bezüglich der nuklearen Teilhabe besteht (zertifizierte Kampfflugzeuge von europäischen NATO-Verbündeten plus US-kontrollierte B-61-Bomben) und, damit verbunden, operationale Kontinuität bei der Mitwirkung Deutschlands. Diese Kontinuitäten sind nicht selbstverständlich. Angesichts der neuen internationalen Lage seit 2022 stellt sich auch die Frage, ob und wieweit die bisherigen Formen der nuklearen Teilhabe ausreichen.
Deutschlands F-35-Entscheidung von 2022 zeigt auf, dass fundamentale Elemente der strategischen Logik bis heute im Grundsatz wirksam bleiben, die der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik seit Adenauers Kanzlerschaft zugrunde liegen. Mindestens drei Elemente dieser Logik sind wichtig. Erstens sind geostrategische Kontinuitäten zu nennen, zweitens stärkt die nukleare Teilhabe in der NATO Deutschlands transatlantische Westbindung, die strategisch stets mehr wog als potenzielle europäische Alternativen. Drittens geht Deutschlands, seit Adenauers Zeiten erklärter, Verzicht auf eine nationale Atomstreitmacht auch einher mit dem Erfordernis der strategischen Akzeptanz begrenzter nuklearer Einsatzoptionen, um die extended nuclear deterrence angesichts einer irreversiblen Verwundbarkeit der USA gegenüber Russlands Kernwaffendispositiv glaubwürdig zu erhalten.
Seit mehr als einem Jahrhundert ist es eine fundamentale Konstante der US-Weltpolitik, die Dominanz der westlichen oder östlichen Peripherien und Küsten Eurasiens durch eine feindliche Macht zu verhindern bzw. eine favorable balance of power in Europe und in Ostasien aufrechtzuerhalten. Historisch manifest wurde dies in Auseinandersetzungen mit potenziellen Hegemonialmächten: mit dem Eintritt der USA 1917 in den Ersten Weltkrieg, dann im Zweiten Weltkrieg und danach im Kalten Krieg. Nach dem Kalten Krieg blieb die NATO nicht nur intakt, sondern wurde bis 2023 um 16 europäische Staaten erweitert, wobei Schwedens NATO-Beitritt noch nicht ratifiziert ist. Und im 21. Jahrhundert wirft Chinas machtpolitischer Aufstieg die Frage auf, wie eine balance of power in Ostasien gewahrt werden kann. In Europa ist bislang kein europäischer Bundesstaat entstanden. Aus diversen Gründen ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sich die Europäische Union zu einem Bundesstaat entwickeln wird, der die sicherheits- und verteidigungspolitischen Kompetenzen seiner Mitgliedstaaten übernehmen würde. Vor allem Kernwaffenpolitik bleibt eine Domäne nationaler Politik. Und nicht zuletzt hat der Ukraine-Krieg die zentrale Rolle der USA als Ordnungsmacht in Europa offenkundig gemacht: von den Anfängen des Konflikts, der strategischen Kommunikation der USA im Vorfeld der Angriffs von 2022, um diesen noch abzuwenden, über die westliche Militärhilfe an die Ukraine und deren Koordination im auch symbolisch markanten „Ramstein-Format" bis hin zur Abschreckung potenzieller russischer Angriffe, einschließlich möglicher Nuklearangriffe, auf europäische NATO-Staaten, von deren Gebieten aus die Ukraine unterstützt wird.
Das US-Interesse an einer balance of power in Europa sowie an der Integrität der euro-atlantischen Sicherungsordnung wird auch von den europäischen NATO-Mitgliedsstaaten geteilt, insbesondere in Osteuropa, wahrscheinlich nach wie vor stark auch in Frankreich trotz der historisch wellenförmig wiederkehrenden „Emanzipations"-Rhetorik aus dem Élysée-Palast. Anders ausgedrückt: Auf beiden Seiten des Atlantiks bestand und besteht ein gemeinsames Interesse an Interdependenz, an der Führungsrolle und entsprechenden Militärpräsenz der USA in Europa. Dies entschärft bis zu einem gewissen Grad die Erwartung, das US-Interesse an Europa werde signifikant abnehmen bei „zu geringem" europäischem burden sharing oder, mit Blick auf China, bei zu geringer europäischer Kooperation mit den Vereinigten Staaten in der Rivalität mit China.
In dieser Konstellation fungiert Deutschland mittlerweile als „central geostrategic hub for NATO and the EU in case of conflict." Ohne Deutschland als hub, Drehkreuz, wäre eine Verteidigung Europas, speziell auch osteuropäischer Grenzregionen zu Russland und Belarus, nicht möglich. Deutschland stellt selbst Truppen, gewährt als host nation Verbündeten das Recht zum Aufenthalt alliierter Truppen (vor allem Angehörigen der US-Streitkräfte), beheimatet NATO- und US-amerikanische Kommandostellen, ist „Anlehnnation" für kleine Verbündete und nimmt eine zentrale Rolle bei Transporten, Logistik und Versorgung ein.
Die geostrategische Orientierung der Bundesrepublik Deutschland – Gegenmachtbildung gegen die Sowjetunion und später Russland in einer transatlantischen Koalition mit den Westmächten, darunter nach 1990 ost- und nordeuropäische Staaten – ist ein fundamentales Element der strategischen Logik, die letztlich der deutschen Nuclear-sharing-Politik von Adenauer bis Scholz zugrunde lag.
Diese Logik war auch von den Neunzigern bis in die mittleren 2010er-Jahre stets vorhanden, wenngleich weniger erkennbar, weil überlagert vom politischen Wunsch nach „Partnerschaft" mit Russland. An der geostrategischen Orientierung Deutschlands änderte diese Konstellation allerdings zu keinem Zeitpunkt etwas, auch wenn im Ausland vielleicht gelegentlich der Eindruck entstand, Deutschland bewege sich in Richtung einer „Schaukelpolitik". Die deutsch-russische „Partnerschaft" hatte nie den Charakter eines sicherheitspolitischen Bündnisses. Deutschland blieb für seine westlichen Verbündeten ein wichtiger Partner, gerade weil es zu Russland nur sektoral kooperative Beziehungen unterhielt. Diese Situation änderte sich 2022 im Zuge der proklamierten „Zeitenwende" so fundamental, dass die Logik der geostrategischen Orientierung Deutschlands nach über 25 Jahren Schattendasein deutlicher hervortrat und vor allem stärker politisch-operative Wirkung erzielte. Für die Bundeswehr hat Landes- und Bündnisverteidigung wieder die höchste Priorität.
Die Entstehung dieser geostrategischen Orientierung war unmittelbar verbunden mit der weltpolitischen Gesamtlage des Kalten Krieges: Die Bundesrepublik Deutschland, der freie Teil Deutschlands, war „militärisch wichtigster Raum Westeuropas." Und Westeuropa war der „atl[antische] Brückenkopf", der „vom Hauptzentrum der Allianz durch [einen] Ozean getrennt" war. „Die deutschen Streitkräfte seien ein wesentlicher Teil der NATO-Streitkräfte zur Verteidigung des Brückenkopfs Europa." „Von Amerika aus gesehen stellt sich Westeuropa als ein Brückenkopf der Freien Welt auf dem eurasischen Kontinent dar, dessen Besitz über die Führung in der Welt entscheidet und der mit Schwerpunkt verteidigt werden muß, weil er nicht unzerstört in Feindes Hand fallen darf (...) Am äußersten Rande dieses Brückenkopfs liegt ein schmaler Streifen Landes, die Bundesrepublik, die als Kampfzone zu betrachten ist, in der sich die Masse der NATO-Verbände schon in Friedenszeiten befindet und in der sich die entscheidenden Abwehrkämpfe abspielen werden."
Aus einer solchen geostrategischen Perspektive resultierende Überlegungen trugen im Kalten Krieg zur Stabilität einer Überzeugung bei, der zufolge die Abhängigkeit der nicht-nuklearen Bundesrepublik Deutschland von der nuklearen Schutzzusage der USA grundsätzlich als hinreichend glaubwürdig erschien – gelegentlichem Misstrauen, Zweifeln, Bedenken, Ungewissheiten und Risiken zum Trotz. Der Schutz Europas und damit der euro-atlantischen Ordnung war dieser Überzeugung zufolge ein so wichtiges, wenn nicht lebenswichtiges US-Interesse, dass man trotz der nuklearen Bedrohung durch die Sowjetunion von der politischen Entschlossenheit der US-Führung, Kernwaffen zur Verteidigung der Bundesrepublik und Europas einzusetzen, eher ausgehen konnte als vom Gegenteil. Eine Vorhersage bzw. Prognose, wie entschlossen sich die USA vor und in Krisen zeigen würden, war unmöglich. Aber die grundsätzliche Einschätzung war, dass die USA zu ihren Bündnisverpflichtungen standen.
Natürlich waren auch andere Faktoren bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung wichtig. Aber es ist zentral zu verstehen, dass die US-Entschlossenheit, nukleare Schutzzusagen in einer Krise zu erfüllen, strukturell und damit personenunabhängig eher als gegeben angesehen wurde als nicht. Das war keine „Glaubensfrage", sondern eine politisch und strategisch grundlegende, nie unumstrittene Überzeugung, die auf geostrategischen Überlegungen zur nationalen Interessenlage der USA basierte.
Und dennoch blieb die unausweichliche, quälende, unbeantwortbare Frage, wie einzelne Führungspersönlichkeiten, namentlich US-Präsidenten, in einer Krise handeln würden – ein Beurteilungsproblem, das sich von der Zeit John F. Kennedys bis zu den Präsidentschaften Donald Trumps und Joseph Bidens immer wieder stellte und es auch künftig tun wird. Insbesondere Konrad Adenauer ließ diese Frage nicht los. Seine Überzeugungen changierten. Und er verfing sich immer wieder in tiefstem Pessimismus. „Glaubst Du", fragte der hochbetagte Kanzler „außer Dienst" seinen Sohn Ende 1964, „dass die Amerikaner unseretwegen Atombomben einsetzen werden zu unserem Schutz, wenn Russland plötzlich vorrücken wird?" Insbesondere aufgrund dieser Ungewissheit hatte Adenauer in seiner Amtszeit energisch versucht, eine Reform des Kontrollregimes für US-Kernwaffen in Europa zu erreichen. Er wollte für die Bundesrepublik ein positives und negatives Mitbestimmungsrecht bei Entscheidungen über den Einsatz von US-Kernwaffen erlangen – nicht eine nationale, deutsche Verfügungsgewalt über US-Kernwaffen. Adenauers Ansatz scheiterte unter seinem Nachfolger Ludwig Erhard. Nagende Ungewissheiten über den Faktor der Entschlossenheit eines amerikanischen Präsidenten wurden nicht in dem Maß abgemildert, wie unter Adenauer beabsichtigt. So bemerkte etwa Franz J. Strauß im Jahr 1973:
Graph: Konrad Adenauer und Ludwig Erhard 1960
„Würden die Sowjets morgen in Berlin zupacken, in Hamburg oder anderswo zupacken, würde zwar örtlich geschossen werden. Es würde die Freigabe der taktischen Nuklearwaffen nach meiner festen Überzeugung schon nicht mehr erfolgen, geschweige denn etwa der große Hammer niederfahren, dessen Androhung ja in der Vergangenheit ... damals noch glaubwürdig zur Verfügung stand."
Und die Zweifel, die wenige Jahre später Bundeskanzler Helmut Schmidt an der Entschlossenheit von US-Präsident Jimmy Carter hatte, sind sprichwörtlich.
Ein zweites fundamentales Element strategischer Logik beruht darauf, dass die nukleare Teilhabe in der NATO auch nach dem Kalten Krieg Deutschlands transatlantische Westbindung stärkte und sich mögliche andere, gar alternative „europäische Nuklearoptionen" als nicht machbar erwiesen.
Während des Kalten Krieges war die Staatsraison der Bundesrepublik die Politik der Westbindung oder, wie andere argumentierten, „Westbindung plus Ostverbindungen." In einem Spannungsverhältnis dazu stand das nationale Interesse an der Einheit Deutschlands und Europas in Freiheit. Dieses historische Spannungsverhältnis verlosch für immer mit der deutschen Wiedervereinigung 1990, die ohne den politischen Schulterschluss der USA und Deutschlands nicht möglich gewesen wäre. Militärisch gesehen bestand das „eigentliche Wunder" nach 1945 darin, dass Sicherheit lediglich gegen Bedrohungen aus dem Osten organisiert werden musste, und dies wiederum nur im Rahmen kollektiver Verteidigung der Westmächte gemeinsam mit der Bundesrepublik. Das erscheint vielen heute als selbstverständlich, fälschlicherweise als „natürlich", war zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs aber eine revolutionäre Veränderung. So gelang es auch, nach 1989/90 die in struktureller Sicht beste Sicherheitslage zu schaffen, in der sich Deutschland bzw. ein deutscher Staat je seit dem Mittelalter befand. Die transatlantische Westbindung machte die strategischen Nachteile der Mittellage unwirksam, mit denen der deutsche Nationalstaat bis zum Ende des Zeitalters der Weltkriege umzugehen hatte. Und nicht zuletzt war und ist die transatlantische Westbindung für Europa und Deutschland zentral im Intelligence-Bereich.
Ferner fand der Prozess der europäischen Integration im und nach dem Kalten Krieg unter dem Schutz der USA statt. Das wirft die kritische Einschätzungsfrage auf, wie wichtig die stabilisierende Rolle der US-Ordnungsmacht in Europa für diesen Prozess war und weiterhin ist. Viele sprachen in der Vergangenheit mitunter allzu habituell über Europa, europäische Integration, einen europäischen Pfeiler in der NATO und das Entwicklungspotenzial der EU, ohne diesen fundamentalen Punkt zu berücksichtigen: Bezüglich der militärischen Dimension der europäischen Sicherheit und damit der europäischen Sicherheit insgesamt hatte Westeuropa im Kalten Krieg und Europa nach 1989/90 keine europäische Führungsmacht. Eine grundsätzliche Auffassung blieb offenbar einflussreich: „They [the Europeans] cannot handle it alone – they never have and I do not believe they ever will", brachte es etwa John J. McCloy Mitte der 1960er-Jahre auf den Punkt. Ähnlich argumentieren Beobachter auch heute.
Nach zwei gescheiterten Versuchen zwischen 1914 und 1945, mit Gewalt Hegemonialmacht in Europa zu werden, galt Deutschland nach 1945 weithin als diskreditiert, um „jemals wieder" eine (sowieso nicht: die) auch militärisch „voll" unterlegte Führungsrolle in Europa zusammen mit Großbritannien, Frankreich und seit 1999 auch Polen einzunehmen. Natürlich war diese hochpolitische, auch mehrdeutige Sichtweise nie universell akzeptiert. In den letzten Jahren der Präsidentschaft von Dwight D. Eisenhower bzw. der Frühphase der V. Republik unter Staatspräsident Charles de Gaulle etwa stellten diese beiden Staatschefs – 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg! – erstaunliche Überlegungen zu einer möglichen Mit-Führungsrolle der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen einer neu strukturierten transatlantischen Sicherheitsordnung an, die mittelfristig auch mit einer eigenständigen Nuklearbewaffnung der Bundesrepublik einhergehen könnte.
In unserer Zeit, vermehrt zu Beginn der Präsidentschaft Trumps, kamen vereinzelt öffentliche Kommentare auf, die ein fundamentales Umdenken einforderten, grundlegende Reformen im Westen als klug bezeichneten und eine deutsche Nuklearbewaffnung explizit nicht ausschlossen oder sogar befürworten – ein Ansatz, der auf vehemente Kritik stieß. Es handelte sich um eine „Atom-Phantomdebatte", da sich Deutschland offenbar nicht nuklear bewaffnen wollte.
Graph: McGeorge Bundy im Gespräch mit US-Präsident Lyndon Johnson
Gemessen an dem, was bis heute öffentlich von Regierungspolitik dies- wie jenseits des Atlantiks erkennbar wird, bleibt eine Feststellung Konrad Adenauers in einem Gespräch mit John F. Kennedys nationalem Sicherheitsberater McGeorge Bundy aus dem Jahr 1962 frappierend relevant: „Deutschland kann Europa nicht führen nach dieser Vergangenheit. Also bleibt nur Frankreich (...). Aber England will auch nicht, dass Frankreich die führende Macht Europas ist." Bundy sei daraufhin „aufgesprungen" und habe gesagt: „Die Führung Europas, das sei in den nächsten 15 Jahren doch wohl die Sache Amerikas!" Gut sechzig Jahre nach diesem Gespräch, im Kontext von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022/23, wird die US-Führungsrolle in Fragen der europäischen Sicherheit einmal mehr offensichtlich.
Historisch und bis heute, also auch in der Zeit der Regierung der „Ampel-Koalition", blieb es beim zentralen Prinzip der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik, dass die nukleare Teilhabe in der NATO und damit die transatlantische Westbindung strategisch mehr wiegen als irgendwelche potenziellen „europäischen Optionen" im Bereich der nuklearen Abschreckung. Anders gesagt erschien und erscheint es offenbar bis heute als ein höchstrangiges, wenn nicht lebensnotwendiges Interesse, den nuklearen Schutz, den die USA trotz hoher Kosten und Risiken zu bieten bereit waren und sind, trotz Restrisiken und Ungewissheiten an Europa zu binden.
Aufschlussreich war auch Adenauers Haltung zur 1957/58 diskutierten Idee, die Bundesrepublik solle gemeinsam mit Italien einen von der französischen Regierung lancierten Vorschlag zur gemeinsamen Produktion von Kernwaffen und deren Trägersystemen in Frankreich verfolgen. Adenauer stimmte dem Vorschlag zu, betonte aber wiederholt und kategorisch:
„Es sei wesentlich, dafür zu sorgen, daß ganz abgesehen von dem Zusammenschluß, von dem hier die Rede gewesen ist, das Interesse der USA für Europa lebendig gehalten werde, so lebendig, daß es alle Schwankungen und Wahlen überdauere und zu einem Axiom der amerikanischen Politik werde."
Dieser wichtige Punkt wurde in vielen historischen Darstellungen, speziell auch in Medienberichten, übergangen, sodass ein schiefes, sensationalistisches Verständnis entstehen konnte, nach dem die deutsche Priorität der transatlantischen Westbindung entweder ganz außen vor bleibt oder als schwach fehlgedeutet wird.
Es ist allerdings zu empfehlen, zu unterscheiden zwischen „europäischen Optionen" im Bereich der nuklearen Abschreckung, die die U.S. extended nuclear deterrence ersetzen sollen, und solchen, die diese ergänzen sollen. Unterschiedliche ergänzende Optionen spielten seit den ausgehenden 1950er-Jahren in episodisch wiederkehrenden Diskussionen eine gewisse spezielle Rolle. Zu nennen sind hier etwa die NATO-internen Diskussionen um die Einrichtung einer „multilateralen Atomstreitmacht" zwischen 1960 und 1966. Hinzu kamen Fragen nach den Rollen britischer und französischer Kernwaffenpotenziale im Rahmen der NATO-Abschreckung. In den frühen 1960er-Jahren wurden – aus heutiger Sicht obskure – politische Diskussionen darüber geführt, ob eine „multilaterale Atomstreitmacht" diese nationalen Kernwaffenpotenziale Großbritanniens und Frankreichs irgendwie „absorbieren" oder später sogar durch einen europäischen Bundesstaat kontrolliert werden könnte.
Während des Kalten Krieges verwarfen die deutschen Regierungen Ideen von einem „Europa als dritte Macht" zwischen den USA und der Sowjetunion ebenso kategorisch wie Ideen einer „europäischen strategischen Autonomie" im 21. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert realisieren selbst Kritiker des nuklearen Status quo und der gegebenen Ausgestaltung des transatlantischen Verhältnisses, dass eine europäische strategische Autonomie in Verteidigungsfragen „an ever-distant chimera" bleibt. Dies hat allerdings Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron nicht davon abgehalten, wiederholt sein Prestige an die Formel einer europäischen strategischen Autonomie zu binden – ähnlich wie Charles de Gaulle vor ihm. Solche politische Rhetorik bedarf sorgfältiger Kontextualisierung und Deutung. Macron geht es weder darum, Frankreich in einem europäischen Bundesstaat aufgehen zu lassen, noch die nationale Kontrolle über Frankreichs Kernwaffendispositiv zu „europäisieren", selbst wenn – aus Sicht der französischen Regierung – die französischen vitalen Interessen eine europäische Dimension haben. De Gaulle warb für ein „Europa der Sechs mit Frankreich als atomarer Großmacht und fünf konventionellen Satelliten" und strebte ein Dreimächtedirektorat der USA, Großbritanniens und Frankreichs an. Dies unterstrich nicht nur die Bedeutung eines in seinem Prestigebedürfnis anachronistischen französischen Nationalismus. Strategisch wie militärisch waren de Gaulles Ideen speziell zur Rolle europäischer Staaten nichts anderes als eine „gefährliche Utopie", so jedenfalls die damalige deutsche Bewertung. Diese kritische Wortwahl war angesichts der überbordend pathetischen Rhetorik de Gaulles keine Übertreibung, sondern wörtlich zu nehmen – insbesondere hinsichtlich der Implikationen für nukleare Abschreckung. Damit ging die Feststellung einher, dass der „Angelpunkt jeder deutschen Sicherheitspolitik [ein] gutes Verhältnis zu [den] USA" bleibe. De Gaulles Ambition, „Europa [zur] 3. Kraft" zu machen, sei nicht nur „unrealistisch", sondern auch „äußerst gefährlich", „da verbunden mit Vertreibung der Anglosachsen vom Kontinent und Anmaßung einer Schiedsrichterrolle. (...) US-Disengagement wäre eine Katastrophe. (...) Ohne [die] USA sind wir verloren."
Graph: Adenauer und de Gaulle
Das politisch ausschlaggebende Urteil im Fall der Bundesrepublik war also, dass die US-amerikanische Rolle als nukleare Schutzmacht Europas beibehalten werden müsse und es nahezu sicher nicht zu einem europäischen Bundesstaat käme, der die Sowjetunion bzw. Russland oder China glaubwürdig nuklear abschrecken könnte. Dieses fundamentale Element strategischer Logik liegt offenbar heute noch der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik zugrunde. Die deutsche Beteiligung im Rahmen der nuklearen Teilhabe stärkte und stärkt die transatlantische Westbindung und überwog stets irgendwelche potenziellen „europäischen Optionen."
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Demilitarisierung Deutschlands war es ausgeschlossen, dass der bis 1955 unter Besatzungsrecht stehende westdeutsche Teilstaat Atommacht werden könne. Auf der Londoner Neun-Mächte-Konferenz von 1954 sprach Adenauer einen Verzicht auf die Produktion von Kernwaffen, Chemiewaffen und biologischen Waffen in Deutschland aus. De facto kam dies einem einstweiligen Verzicht auf nationale Kernwaffen gleich. Allerdings versuchte Adenauer insbesondere im Kontext der zweiten Berlin-Krise, vor allem im Verhältnis zu den USA und Frankreich ein gemeinsames Verständnis zu erreichen, nach dem der deutsche Verzicht revidierbar sei. Dieses Verständnis entsprach offenbar auch seiner persönlichen Überzeugung, die in den zugänglichen Akten seit 1956 nachweisbar ist. Hinzu kam, wie versierte Beobachter der Zeit erkannten, dass sich wesentliche Argumente, die die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs damals zur Begründung ihrer nationalen Nuklearbewaffnung verwandten, genauso gut, wenn nicht sogar noch stärker von der deutschen Regierung für ein eigenes Potenzial nutzen ließen, zumal die deutsche Regierung auf „Gleichberechtigung" unter Verbündeten bestand. Noch wichtiger war es allerdings, zusätzlich darauf hinzuweisen, dass es Gegenargumente gab, darunter im Fall der Bundesrepublik Deutschland auch einzigartige.
Im Unterschied zu der revisionistischen wissenschaftlichen Forschung wurde eine angeblich an nationalen Kernwaffen interessierte Bundesrepublik bis 1963 nicht auf irgendeine Weise politisch „gezwungen", ihre angeblichen „Ambitionen" aufzugeben. Vielmehr wurde aus dem ursprünglich unbedingten, da zwangsläufig erfolgten Verzicht auf Kernwaffen mit oder nach den Pariser Verträgen von 1954/55 ein bedingter Verzicht. Er wurde zum bedingten Verzicht gemacht und dies zumindest deswegen, weil die damalige Regierung Adenauer – und insbesondere Adenauer – es so sahen und Adenauer höchstselbst sich energisch engagierte. Allerdings war damals schon nicht klar: Was heißt „bedingt"? Und weiter ist zu fragen: Angenommen, zwischen den Pariser Verträgen und dem Ende der Ära Adenauer war aus dem ursprünglichen tatsächlich ein bedingter Verzicht geworden, „endete" diese Bedingtheit irgendwann oder wurde sie unwirksam? Konnte sie „enden" oder unwirksam werden? Rechtliche und normative Perspektiven, so wichtig sie auch sind, greifen hier zu kurz.
Graph: Konrad Adenauer
Auf jeden Fall war und blieb der nicht-nukleare Status der Bundesrepublik Deutschland ein wichtiges Element der internationalen nuklearen Ordnung, von den Pariser Verträgen 1954/55 über den 2+4-Vertrag von 1990 bis zur Gegenwart, darunter 1963 Deutschlands Beitritt zum Atomteststoppvertrag, 1968 zum Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag und 1996 zum Vertrag über ein umfassendes Verbot von Nuklearversuchen. Auf normativer Ebene wurde Deutschland nach dem Kalten Krieg zu einem „guardian and champion of the nonproliferation regime." Und in den 1990er-, 2000er-und 2010er-Jahren erschöpfte sich die Politik der Bundesrepublik bei „Kernwaffenfragen" anscheinend in Diplomatie zwecks Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.
Und dennoch: Eine zukünftige Situation, in der Deutschland Kernwaffen erstrebe, sei eine „low-probability future", so etwa eine Einschätzung Ende 2022 von zwei ehemaligen Analysten der Central Intelligence Agency. Sie widersprachen anderen Einschätzungen, die dieser möglichen Zukunftsausprägung eine höhere Wahrscheinlichkeit beimaßen. So oder so wurde hier also angenommen, dass der deutsche Kernwaffenverzicht bedingt ist. Die Frage ist mithin kein „Tabu".
Für die Ära des Kalten Krieges sind – allgemein gesagt – zu unterschiedlichen Phasen unterschiedliche Sichtweisen auf Bedingungen nachweisbar, was unter anderem die Frage nach der Kontinuität wenigstens zentraler Bedingungen im Lauf der Zeit aufwirft. Die deutsche Mitwirkung im Rahmen der nuklearen Teilhabe in der NATO war eine solche Bedingung. Die hypothetische Frage, wie man sich im Fall der Beendigung der nuklearen Teilhabe verhalten sollte, stellte sich vor allem 1961/62, als die Regierung Kennedy begann, zur Stabilisierung der Berlin-Situation mit der Sowjetunion auf eine Vereinbarung über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hinzuarbeiten. In den langjährigen Verhandlungen, die 1968 im Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag gipfelten, blieb dieser Risikofaktor eine Sorge.
Eine andere Bedingung ergab sich aus der Befürchtung, die Glaubwürdigkeit der U.S. extended nuclear deterrence könnte im Fall der nuklearen Verwundbarkeit der USA erschüttert werden. Daher war es auch für die deutsche Seite wichtig, auf Basis des in Europa befindlichen Kernwaffendispositivs der USA ein für die Regierungen der NATO-Staaten politisch, strategisch und militärisch akzeptables Set an selektiven nuklearen Einsatzoptionen verfügbar zu halten. Das sollte drastische, in ihren Konsequenzen katastrophale Entscheidungen inmitten einer Krise vermeiden und Abschreckung auch bei einem Verteidigungskrieg wiederherstellen. Historisch ist die nukleare Teilhabe in der NATO –die deutsche Mitwirkung eingeschlossen – in diesem Sinn zu verstehen. Ferner gestattete diese Mitwirkung, Einfluss auf die Ausgestaltung der nuklearen Dimension der NATO-Strategie und der US-Nuklearstrategie auszuüben, selbst wenn davon auszugehen war, dass der deutsche zumeist geringer wäre als der britische oder französische Einfluss.
In Bezug auf die US extended nuclear deterrence war die militärische Mitwirkung an der westlichen nuklearen Abschreckung mittels nuklearer Teilhabe in der NATO im Fall der Bundesrepublik eine zentrale – und jedenfallsim Kalten Krieg sehr wahrscheinlich auch notwendige – Voraussetzung für den Verzicht auf eigene Kernwaffen.
Was wäre Deutschlands „Plan B" im Kalten Krieg oder in den Jahren der Trump-Präsidentschaft gewesen, wäre die nukleare Teilhabe auf US-Betreiben beendet worden oder wenn sich sogar die US-Führungsrolle für die europäische Sicherheit „signifikant verändert" hätte? Niemand kann auf Fragen, die sich auf unwahrscheinliche Risiken beziehen, klare Antworten geben. Umso mehr kommt es auf die Retrospektive an, um hypothetische Zukunftseinschätzungen abzugeben zur allgemeinen Frage: Was wäre Deutschlands „Plan B" in der Zwangslage, auf eine Zukunft reagieren zu müssen, deren Entstehen man zu vermeiden versucht hat?
Vor allem seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 wurden vermehrt öffentliche Stellungnahmen zu solchen hypothetischen Fragen laut, so auch von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Problematisch ist, dass Einschätzungen häufig auf unterschiedliche Zukunftsbilder abstellen und auf andere Weisen variieren. In vielen Fällen handelt es sich auch nicht um diagnostische Prognosen, sondern um politisch-normative Empfehlungen. Dann fragte sich, inwiefern die politische Wertung die Diagnose verfärbt oder lenkt. Das Gesamtbild öffentlicher Stellungnahmen ist schwammig bis verworren. Es fällt auf, dass viele zu einer Abhängigkeit Europas, der EU oder auch nur einzelner europäischer Staaten von Frankreich und/oder Großbritannien rieten, die notgedrungen die USA als Provider von extended nuclear deterrence ersetzen müssten. Überwiegend war von Frankreich und wenig von Großbritannien die Rede. Nach dem EU-Austritt Großbritanniens überrascht das nicht sehr. Allerdings zeigt sich darin die für Deutschland oft charakteristische Überbewertung der sicherheitspolitischen Tragfähigkeit der französisch-deutschen Beziehungen. Doch das ist zu harmonisch und geht zu sehr von der Schönwetterlage aus. Schließlich geht es um nukleare Sicherheit und mithin die nuklearstrategische Frage, wie das Überleben angesichts nuklearer Bedrohung tragfähig gesichert werden kann. Die entscheidende Frage ist, ob Frankreich oder Großbritannien oder beide zusammen aus nuklearstrategischer, ergo machtpolitischer Perspektive zum nuklearen Schutz anderer Staaten materiell-kapazitär in der Lage wären bzw. überhaupt sein könnten, von den Absichten gar nicht zu sprechen.
Die Bedeutung militärischer Erfordernisse ist so groß, dass selbst unter der optimistischen Annahme anfänglicher Kooperationssignale zu einer nuklearen Entente mit Frankreich und Großbritannien der Druck wahrscheinlich überwältigend wäre, sich primär um sich selbst kümmern zu müssen. Zu bedenken ist auch, dass Frankreich und Großbritannien ihre nationalen Kernwaffenprogramme stets mit nationalen Interessen begründeten. Für europäische Staaten, insbesondere kleinere Staaten, die nur schwerlich oder nicht Atommacht werden könnten, besteht außer den USA perspektivisch keine adäquate Sicherung gegen die russische nukleare Bedrohung.
Dass irgendein europäischer Staat seine Sicherheit prinzipiell durch französisches Nuklearwaffenpotenzial gewährleistet sehen würde, ist wahrscheinlich keine Alternative. Und es ist keinesfalls gesichert, dass sich ein politischer Wille Frankreichs überhaupt abzeichnen würde. Eine weitere Alternative im Fall des Rückzugs der USA aus der bisherigen nuklearen Rolle im Rahmen der NATO wäre, dass einzelne europäische Staaten eine bilaterale nukleare Schutzzusage durch die USA erhielten. Das entspräche der Lage einzelner US-Verbündeter im pazifischen Raum, deren Glaubwürdigkeit in der Region aber umstritten ist.
Der praktisch-relevante Punkt dabei ist, so scheint es, dass kein einziger NATO-Staat – insbesondere auch nicht die USA unter Trump und Biden – in den letzten Jahren, gegenwärtig und in naher Zukunft auch nur im Entferntesten wünschte, den Status quo der US extended nuclear deterrence in der NATO grundlegend zu ändern, schon gar nicht Deutschland. Die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ließ es nicht an direkten Worten fehlen. In ihrer zweiten Grundsatzrede vom 17. November 2020 machte sie sich für die Fortführung der nuklearen Teilhabe stark und stellte fest:
„Der wichtigste Verbündete (...) sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Und sie werden es auf absehbare Zeit auch bleiben. Ohne die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas können Deutschland und Europa sich nicht schützen. Das sind die nüchternen Fakten."
Im Zuge von Russlands Krieg gegen die Ukraine 2022/23 hat die Kohäsion der NATO sehr stark zugenommen, die US-Führungsrolle ist politisch anerkannt, die deutsch-amerikanische Sicherheitskooperation robust und die globalstrategische Bedeutung des transatlantischen Bündnisses durch die Beitritte Finnlands und bald wohl auch Schwedens noch einmal erheblich gestiegen. Allen Debatten um „Alternativen" und Sorgen über den künftigen Kurs der USA zum Trotz sollte man nicht die Zukunftsaussicht unterschlagen, dass die NATO 2049 – also 100 Jahre nach ihrer Gründung – und darüber hinaus bestehen oder geopolitisch noch stärker werden wird, und zwar, ohne dass Russland einen Krieg mit der NATO riskiert.
Zusammenfassend wurde im vorherigen Abschnitt argumentiert, dass Deutschlands Entscheidung von 2022, F-35 zu beschaffen, darauf hindeutet, dass fundamentale Elemente der strategischen Logik fortbestehen, die schon die nukleare Sicherheitspolitik Deutschlands im Kalten Krieg seit Adenauer leiteten. Auch ohne Kenntnis einschlägiger aktueller Regierungsakten führt eine historisch untermauerte Perspektive zu diesem Befund. Zu den Elementen gehören geostrategische Kontinuitäten, das Interesse an der transatlantischen Westbindung Deutschlands und der bedingte Verzicht auf nationale Kernwaffen, was wiederum erfordert, die strategische Notwendigkeit begrenzter nuklearer Optionen anzuerkennen, um die nukleare Abschreckung der USA angesichts ihrer Verwundbarkeit gegenüber nuklearen Bedrohungen glaubwürdig zu erhalten.
Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die zweite Hauptthese: Es scheint, als hätten sich die Wahrnehmungen dessen, was militärstrategisch erforderlich ist, um die U.S. extended nuclear deterrence bezogen auf Europa glaubwürdig zu halten, auf profunde Weise geändert. Infolgedessen erscheint es strukturell als weniger anspruchsvoll als im Kalten Krieg, die nuklearen Schutzzusagen der USA für Europa glaubwürdig zu halten.
Um diese These zu prüfen, werden Argumente zu ausgewählten Punkten diskutiert: das Fehlen eines „Berlin-artigen Problems"; die heutige strategische Tiefe NATO-Europas; die Rolle von Kernwaffen als „politische Waffen"; die veränderte Relevanz des nuklearen Kräfteverhältnisses; die veränderte Relevanz selektiver nuklearer Einsatzoptionen; und das zukünftige globale nukleare Bedrohungsumfeld.
Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand ein kompliziertes strategisches Problem von größter politischer Bedeutung, das primär die USA, Frankreich und Großbritannien, in zweiter Linie die Bundesrepublik und in dritter Linie die gesamte NATO zu bewältigen hatten: der Schutz der drei westlichen Sektoren von Berlin. Die Berlin-Problematik war in mancher Hinsicht offensichtlich, in anderer Hinsicht geradezu bizarr-komplex und beim Krisenmanagement einer sehr strengen Geheimhaltung unterworfen. Der Kern des Problems bestand darin, eine nicht zu verteidigende westliche Exklave inmitten „roten" Territoriums zu schützen, weil man dies vor allem aus politischen Gründen tun musste. Dieser Problemtypus wird hier als „Berlin-artiges Problem" bezeichnet.
Berlin (West) war militärisch nicht zu verteidigen, konnte aber geschützt werden. Der Schutz hing ultimativ vor allem von der nuklearen Abschreckung ab – und zwar der US-amerikanischen. In einem Briefing im Bundesverteidigungsrat Ende 1963 zur militärischen Lage hieß es: „Gegen einen mit ausreichenden militärischen Kräften geführten Angriff auf Berlin sei keine Verteidigung möglich. Insofern nütze nur die Abschreckung mit dem nuklearen Potenzial der USA."
Man musste Antworten auf die heikle Frage finden, wie sich der Status quo ante wiederherstellen ließe, sollte die Sowjetunion westliche Zugangs- und Kommunikationswege nach Berlin blockieren oder West-Berlin direkt zu erobern versuchen. Insbesondere ab den ausgehenden 1950er-Jahren entwickelten westliche Regierungen – primär die USA, Großbritannien und Frankreich, ab 1961 unterstützt durch die Bundesrepublik Deutschland – eine Vielzahl von Eventualfallplänen und bereiteten politische, diplomatische, wirtschaftliche und militärische Erstreaktionsoptionen sowie Gegenmaßnahmen für mögliche Krisenfälle vor. Das Instrumentarium für Krisenmanagement sollte lageadäquates Handeln ermöglichen und so die allgemeine Abschreckung stärken und die Krisenwahrscheinlichkeit verringern. Im Krisenfall würde es darum gehen, die sowjetischen Absichten zu ändern und den Status quo ante wiederherzustellen, darunter den ungehinderten Zugang nach sowie die Freiheit und Sicherheit von Berlin (West). Bezüglich militärischer Reaktionsoptionen galt allerdings: „Berlin has complicated matters because it makes no sense militarily. (...) It is a pure case of a political war of nerves, and if ever there were to be a military solution it would have to be an offensive rather than a defensive one." Vor diesem Hintergrund umfasste der westliche Gesamtansatz zu crisis management, insbesondere im Zuge seiner Erweiterung in den frühen 1960er-Jahren, am oberen Ende der Eskalationsleiter militärischerEventualfalloptionen den selektiven Ersteinsatz amerikanischer Kernwaffen unter Annahme einer spezifischen Rahmenlage, in der zuvor ergriffene Maßnahmen die beabsichtigten politischen Ziele nicht erreicht hätten.
Graph: Berlin im Kalten Krieg – hier Checkpoint Charlie
Westliche Staats- und Regierungschefs, hochrangige Beamte und Militärs machten sich damals keine Illusionen über das große strategische Gewicht der politischen Notwendigkeit, Berlin (West) zu schützen. Das galt insbesondere auch für daraus folgende Implikationen für die US-amerikanische Nuklearstrategie. Auf dem folgenreichen anglo-amerikanischen Gipfeltreffen im bahamischen Nassau Ende 1962 stellte US-Verteidigungsminister Robert S. McNamara pointiert fest: „(...) if it were not for Berlin, Europe could be defended with four divisions and a nuclear strategy." McNamara stellte damit klar, dass Angriffe sowjetischer bzw. östlicher Streitkräfte auf das Gebiet eines NATO-Staats, die über grenznahe Übergriffe (incursions) hinausgehen würden, im Wesentlichen nuklear abgeschreckt werden könnten, wenn das Berlin-Problem nicht bestünde.
Zwei Monate vor dem Nassauer Gipfel, auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise, war die fundamentale Natur des Problems deutlich geworden. Je nachdem, welche Maßnahmen die USA zur Bewältigung der akuten Krise um Kuba ergreifen würden, könnte die Sowjetunion mit Blick auf Berlin ihrerseits Maßnahmen ergreifen oder zunächst durch die DDR einleiten lassen. Als Kernproblem, das mit dem aktuellen Krisenmanagement bezüglich Kubas verbunden war, erschien also der Schutz Berlins, da klar war, dass sich aus einer akuten Berlin-Krise mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Verteidigungsfall für die NATO entwickeln könnte. Kennedy brachte sein Entscheidungsproblem in einem Treffen mit den US-Generalstabchefs zum Ausdruck: „If we attack Cuban missiles, or Cuba, in any way, it gives them a clear line to go ahead and take Berlin (...). We would be regarded as the trigger-happy Americans who lost Berlin. We would have no support among our allies. We would affect the Germans' attitude toward us. And [people would believe] that we let Berlin go because we didn't have the guts to endure a situation in Cuba. (...) They don't give a damn about Cuba. But they do care about Berlin and about their own security. So they would say that we endangered their interests and security. (...) there's bound to be a reprisal from the Soviet Union, there always is – [of] their just going in and taking Berlin by force. Which leaves me with one alternative, which is to fire nuclear weapons – which is a hell of an alternative – and a nuclear exchange, with all this happening. On the other hand, if we begin a blockade that we're talking about, the chances are they will begin a blockade and say that we started it. (...) So that once again they will say that there will be this feeling in Europe that the Berlin blockade has been commenced by our blockade. (...) And when we recognize the importance of Berlin to Europe, and recognize the importance of our allies to us, that's what has made this thing be a dilemma (...). Otherwise, our answer would be quite easy. On the other hand, we've got to do something. Because if we do nothing, we're going to have the problem of Berlin anyway."
Kennedys Krisenmanagement speziell im Herbst 1962 trug zur Stabilisierung der fragilen Situation West-Berlins bei. 1990 wurde Deutschland wiedervereinigt. 1994 verließen die letzten russischen Streitkräfte Deutschland. Speziell das amerikanische commitment für Berlin sollte hier nie vergessen werden. Und seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es keine westliche territoriale Exklave im gegnerischen Herrschaftsgebiet mehr. Berücksichtigt man diese strategisch fundamentale Veränderung, das Fehlen eines „Berlin-artigen Problems" im Europa nach 1990, so ist zu erwarten, dass es mittlerweile weniger herausfordernd ist als im Kalten Krieg, die US-amerikanische extended nuclear deterrence für Europa zu erhalten. Denn militärstrategische Erfordernisse, wie sie aus dem damaligen Berlin-Problem insbesondere in Bezug auf die nukleare Abschreckung resultierten, sind weggefallen. Das schließt den Suwalki-Korridor zwischen Polen und Litauen ein, zumal aufgrund des NATO-Beitritts von Finnland (und bald wohl auch Schwedens) die Versorgung des Baltikums auf dem Seeweg unter neuen Voraussetzungen gedacht werden kann. Der Typ des „Berlin-artigen Problems" existiert für die NATO seit 1990 nicht mehr. Zu erwarten ist daher, dass allein deswegen die Ansprüche für die USA weniger komplex sind als im Kalten Krieg, wenn es darum geht, den NATO-Staaten in Europa glaubwürdigen nuklearen Schutz zu gewähren.
Eine fundamentale Folge der Veränderungen seit 1989/90 ist, dass von Russland keine Invasionsgefahr mehr für ganz Europa ausgeht – im Gegensatz zur Bedrohung Europas durch die damalige Sowjetunion und den Warschauer Pakt. Dennoch bleibt Russlands militärisches Potenzial groß genug, um osteuropäische Staaten, die an Russland oder den von ihm dominierten Raum grenzen, mit Angriffen zu bedrohen – auch wenn dieses Bedrohungspotenzial vorübergehend begrenzt bleibt, zumindest solange Russland seinen Krieg in der Ukraine weiterführt. Russland ist im Prinzip auch nicht unfähig geworden, sich wieder zu einer herausragenden Macht in Europa zu entwickeln, wenn man bedenkt, dass seine Nuklearfähigkeiten die bestehenden und absehbaren Kernwaffenpotenziale Großbritanniens und Frankreichs bei Weitem übertreffen. Was die Absichten der russischen Führung angeht, so war längst vor 2022 zu erkennen: „Russland versucht (...) ganz offensichtlich, seine Führungsrolle auf dem europäischen Kontinent zurückzugewinnen. Dazu will es die EU schwächen, die USA zurückdrängen und einen Keil zwischen beide treiben."
Im Unterschied zur Sowjetunion kann Russland nicht mehr Hegemon in Europa werden, indem es in Europa militärisch einmarschiert, um es gewaltsam zu besetzen, oder ein mit einer solchen Invasionsfähigkeit verbundenes Erpressungspotenzial nutzt. Seit Ende des Kalten Krieges hat „NATO-Europa" zudem stark an strategischer Tiefe gewonnen. Die russische Führung hält allerdings auch im 21. Jahrhundert an der Auffassung fest, dass vor allem Staaten des sog. „post-sowjetischen Raums" einer russischen Interessenssphäre angehören müssen. Dabei ist Russlands imperiale Reichweite in Europa massiv geschrumpft. Damit ging die NATO-Erweiterung nach Osteuropa und 2022/23 nach Finnland und bald wohl auch Schweden einher. Das hat insgesamt die strategische Tiefe des europäischen Teils der NATO erheblich verstärkt. Auch ist offensichtlich, dass der Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges – auf die eine oder andere Weise – tiefgreifende Auswirkungen auf die europäische Sicherheit haben wird.
Die Zunahme der strategischen Tiefe „NATO-Europas" und das strukturell veränderte Ausmaß der militärischen Bedrohung, die Russland für Europa darstellt, berühren den strategischen Kontext, innerhalb dessen die NATO seit dem NATO-Gipfel von Wales 2014 Anpassungen vorgenommen hat, um der Herausforderung durch Russland zu begegnen. Im Zentrum der Anpassungsmaßnahmen der NATO stand nicht die nukleare Abschreckung und auch nicht die nukleare Teilhabe, sondern die domänenübergreifende Stärkung ihrer konventionellen Verteidigungsfähigkeiten und -kapazitäten für Szenarien einer möglichen Aggression Russlands in Osteuropa. Zu diesen Maßnahmen gehörten insbesondere die Schaffung einer Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), der Aufwuchs der NATO Response Force, die Einrichtung von Force Integration Units in Mittelosteuropa, die multinational zusammengestellte verstärkte Vornepräsenz (enhanced Forward Presence) in Estland, Lettland, Litauen und Polen, Lagerung militärischer Ausrüstung in Osteuropa, die Ausweitung von Air Policing in Osteuropa und der Ostsee, Verbesserungen der logistischen Gesamtinfrastruktur und militärische Übungen.
Eine Leitidee scheint gewesen zu sein, die konventionellen Verteidigungsfähigkeiten und -kapazitäten der NATO im Blick auf Szenarien begrenzter russischer Angriffe auf osteuropäische NATO-Staaten zu verbessern, wobei die Kosten und Risiken einer eventuellen nuklearen Eskalation Russland aufgebürdet werden müssten.
Nach dem Kalten Krieg setzte sich in der NATO die Auffassung durch, in Europa vorhandene Kernwaffenfähigkeiten unter NATO-Befehl seien ausschließlich als „politische Waffen" anzusehen. Dabei lässt der Blick zurück in die Zeit des Kalten Krieges Probleme erkennen, die heute nicht mehr existieren. Im Kalten Krieg unterhielt die Sowjetunion eine große Truppenpräsenz in den Ländern des Warschauer Pakts, insbesondere in der DDR. Diese Präsenz diente dazu, ihr osteuropäisches Imperium aufrechtzuerhalten. An diversen Merkmalen war aber zu erkennen, dass diese Truppen und die verbündeten Streitkräfte des Warschauer Pakts eine glaubhafte Fähigkeit zur kontinentalen Invasion Westeuropas mit konventionellen Truppen besaßen, die sich zudem auf ein massives Kernwaffendispositiv stützen konnte. Im Falle eines Krieges wäre es ein zentrales militärisches Ziel gewesen, Westeuropa zu überrennen und so schnell wie möglich den Atlantik zu erreichen, um die USA daran zu hindern, die Verteidigung Westeuropas verstärken zu können.
Zwecks Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit hielten die NATO-Verbündeten eine Mischung aus konventionellen Fähigkeiten, sogenannten Theater Nuclear Forces (TNF) in NATO-Europa und strategischen Streitkräften der USA für unverzichtbar. Aber die konventionelle Unterlegenheit der NATO auf dem europäischen Kontinent gegenüber den vereinten Kräften und Verstärkungskapazitäten des Warschauer Pakts blieb ein strukturelles Problem. Dieses beunruhigte die politischen und militärischen Verantwortlichen im Westen nachhaltig, gerade auch unter Bedingungen der MC 14/3, der sogenannten Flexible-response-Strategie. Lageanalysen blieben komplex und trotz größter Mühen irrtumsanfällig. Endlose Strategiedebatten folgten. Und in jedem Jahrzehnt waren Diagnosen zu vernehmen, wonach die NATO aufgrund dieses Strukturproblems „in eine schwere Krise der Glaubwürdigkeit geraten" sei – ein gemessen an anderen Analysen zu pessimistischer Gesamtbefund.
Angesichts des Strukturproblems der konventionellen Unterlegenheit der NATO war die NATO-Strategie seit dem „New Look" der US-Regierung Eisenhower abgestützt auf die Androhung massiver nuklearer Vergeltung. Seit dem Übergang zur Strategie der flexiblen Erwiderung in den 1960er-Jahren war vertikale Eskalation durch vorbedachte selektive nukleare Eskalation ein Kernelement der NATO-Strategie für den Fall, dass die Sowjetunion einen begrenzten nicht-nuklearen Angriff gegen die NATO gestartet hätte und NATO-Verbände die Vorneverteidigung aufnehmen würden. Vorbedachte nukleare Eskalation könnte unterschiedliche Effekte erbringen, vor allem aber die Risiken der angreifenden Sowjetunion erhöhen, ihre Kosten steigern (etwa durch ein Maß an Disruption ihrer militärischen Operationen) und ihr Wege aus dem Krieg (off ramps) offenhalten, um den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden und die Abschreckung wiederherzustellen.
Angesichts der strategischen Bedeutung der NATO-Androhung des selektiven Ersteinsatzes von Kernwaffen vertraten viele die Auffassung, Kernwaffen – gerade auch TNF in Europa – sollten als „politische Waffen" angesehen werden und nicht in erster Linie als Mittel, um militärische Ziele auf einem Gefechtsfeld zu erreichen. Derartige Überlegungen konkret umzusetzen ging allerdings mit komplexen Problemen einher. Das galt insbesondere für TNF wie Boden-Luft-Raketen, nukleare Gefechtsfeldwaffen wie Artillerie, Atomic Demolition Munition, Freifallbomben und Boden-Boden-Flugkörpersysteme. Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, General Heinrich Trettner, schrieb darüber im Jahr 1969: „Bei der Beurteilung von militärischen Konzepten und Maßnahmen scheiden sich nämlich die Geister und es wird an jeden oberen Führer die Frage gestellt, ob er der BRD einen Eigenwert und dem deutschen Volk ein selbstständiges Lebensrecht zuerkennt, oder ob er in der BRD nur die Grenzprovinz eines größeren Ganzen sieht, die man im Notfall auch opfern können muss."
Im Kalten Krieg war es fraglich, inwieweit man die in Europa vorhandenen TNF – und insbesondere nukleare Gefechtsfeldwaffen – als „politische Waffen" ansehen konnte. Anders sah es bei jenen nicht-strategischen Kernwaffen der USA aus, die von Europa aus die Sowjetunion bedrohen konnten, ohne eine Gefahr für deren Interkontinentalwaffen zu werden.
Seit Ende des Kalten Krieges spielen Gefechtsfeldwaffen innerhalb der NATO-Strategie keine Rolle mehr. Die USA haben bis auf die freifallenden B-61-Bomben keine nicht-strategischen Kernwaffen mehr in ihrem Arsenal. Von daher gilt heute innerhalb der NATO, die in Europa vorhandenen Kernwaffenfähigkeiten unter NATO-Befehl seien ausschließlich als „politische Waffen" anzusehen. Auch diese fundamentale Entwicklung hat offenbar zur Entschärfung wahrgenommener Ansprüche an die US extended nuclear deterrence beigetragen.
Verglichen mit dem Kalten Krieg fällt zudem auf, dass Veränderungen und Einzelheiten des nuklearen Kräfteverhältnisses zwischen Russland und der NATO seit den frühen 1990er-Jahren die NATO-Verbündeten weniger besorgten. Das gilt insbesondere auch für die zugunsten Russlands bestehenden Disparitäten bei nicht-strategischen Kernwaffen und entsprechenden Verbringungsmitteln. Die NATO-Staaten nahmen diese Disparitäten schlicht hin. Auch die Aufkündigung des INF-Vertrags 2019 sowie die Einführung vormals unter diesem Vertrag verbotener Marschflugkörper durch Russland (9M729/SSC-8) änderte daran nichts. Zudem scheinen in Europa mit dem Kräfteverhältnis zusammenhängende Fragen von Struktur und Zusammensetzung des eigenen nicht-strategischen Kernwaffendispositivs, anders als im Kalten Krieg, viel weniger wichtig zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob diese Gelassenheit unverändert bestehen bleibt angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine und der unverhohlenen rhetorischen Drohungen der russischen Führung, Kernwaffen einzusetzen.
Graph: Russische Rakete vom Typ 9M723K (ISKANDER-M/SS-26 Stone)
Angesichts der existierenden Disparitäten im nuklearen Kräfteverhältnis NATO-Russland auf nicht-strategischer Ebene vertreten manche die Auffassung, dass die amerikanischen strategischen Streitkräfte ausreichen, um Russland vom Einsatz nicht-strategischer Kernwaffen abzuschrecken (sei es durch Verlegung strategischer Bomber nach Europa oder durch Ausstattung strategischer Unterseeboote mit Sprengköpfen geringerer Sprengkraft). Andere argumentieren, es bedürfe einer Anpassung, zum Beispiel durch land- oder luftgestützte Marschflugkörper in Europa. Allerdings meinen alle, ein Gleichgewicht mittels Aufrüstung auf ein dem russischen ähnliches Niveau sei nicht erforderlich. Wichtig sei darüber hinaus, zu wissen und zu verstehen, wie die russische Führung über die Bedeutung von Disparitäten im nuklearen Kräfteverhältnis denkt.
Wie immer solche Dispute ausgehen werden, verglichen mit dem Kalten Krieg ist offenbar eine veränderte Relevanz des nuklearen Kräfteverhältnisses festzustellen. Die Kopplung zwischen der Nuklearstrategie der NATO und der Entwicklung des nuklearen Kräfteverhältnisses von NATO und Russland war im Kalten Krieg jedenfalls viel enger als danach.
Im Kalten Krieg war der strukturelle Druck auf die NATO hoch, sich auf einen selektiven Ersteinsatz von Atomwaffen als strategische Antwortoption bei nicht-nuklearen Angriffen des Warschauer Pakts vorzubereiten. Die erweiterte nukleare Abschreckung der USA galt weithin als unvereinbar mit einer politischen Nichtersteinsatz-Doktrin, auch wenn manche Stimmen in der westlichen Debatte – etwa in den frühen 1980er-Jahren – eine entsprechende Reform der NATO-Strategie forderten, was andere wiederum scharf ablehnten.
Die NATO im Ganzen und insbesondere britische und europäische Regierungen, speziell auch die der Bundesrepublik Deutschland, blieben bei der Auffassung, im Interesse glaubwürdiger Abschreckung müsse die Androhung eines selektiven Ersteinsatzes von Kernwaffen aufrechterhalten werden, damit der Sowjetführung im Idealfall das Risiko irgendeines Angriffs als „unkalkulierbar" erscheine. Für die USA war es stets von größter Bedeutung, die europäischen Verbündeten, speziell auch die Bundesrepublik, von ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zu überzeugen, und dies auf eine Art und Weise, die für die Verbündeten zumindest nicht inakzeptabel wäre.
Nach dem Kalten Krieg war die entfernte NATO-Reaktionsoption, unter extremen Umständen im Rahmen der Selbstverteidigung initiativ und selektiv Kernwaffen zur Wiederherstellung der Abschreckung einzusetzen, nicht ausgeschlossen, wie die „strategischen Konzepte" der NATO von 1991, 1999, 2010 und 2022 implizierten. Offenbar hat die strategische Relevanz der Ersteinsatzandrohung im Vergleich zum Kalten Krieg strukturell stark abgenommen; dafür könnten unterschiedliche Einflussfaktoren ausschlaggebend sein, darunter neben der bereits erwähnten strategischen Tiefe der NATO ihre Überlegenheit gegenüber Russland im konventionellen militärischen Kräfteverhältnis, insbesondere bei konventionellen Luftstreitkräften.
Die tatsächlichen NATO-internen Diskussionen zur Nuklearstrategie nach dem Kalten Krieg sind selbstverständlich unbekannt, auch dem Autor. Sie können hier logischerweise nicht wiedergegeben oder insinuiert werden. Sollten die vorangehenden Vermutungen tendenziell zutreffen, läge es nahe, dass die begrenzten nuklearen Einsatzoptionen der NATO oder auch nur der USA vor allem der Abschreckung eines selektiven russischen Ersteinsatzes von Kernwaffen dienen, selbst wenn Russland einen begrenzten nicht-nuklearen Angriff auf die NATO gewagt und sich dabei verkalkuliert hätte.
Eine zentrale Folgerung wäre: Im Unterschied zum Kalten Krieg, in dem die USA große Anstrengungen anstellen mussten, um die strategisch so wichtige Androhung des selektiven Ersteinsatzes zu Abschreckungszwecken glaubwürdig aufrechtzuerhalten, haben die Anforderungen an die US extended nuclear deterrence seit den frühen 1990er-Jahren speziell in dieser Hinsicht stark abgenommen. Im 21. Jahrhundert wird es für die USA weniger schwierig sein als im Kalten Krieg, Europa glaubwürdigen nuklearen Schutz zu bieten. Dieses Europa schließt selbstredend Verbündete ein, die an Russland oder Weißrussland grenzen und tiefes Misstrauen gegenüber den Absichten gleich welcher russischen Führung hegen.
„Leicht" wäre erweiterte nukleare Abschreckung deswegen allerdings nicht. Fehlperzeptionen und -kalkulationen der russischen Regierung sind nicht auszuschließen. Russland könnte einen begrenzten Angriff auf die NATO starten und die Verteidigungsfähigkeiten der NATO falsch einschätzen, sodass Moskau einen Kernwaffeneinsatz erwägen könnte, „to avoid defeat if it was in danger of losing a conventional war." Und Russlands Ukraine-Krieg seit 2022 macht es notwendig, Russland von einem selektiven Kernwaffeneinsatz bzw. der Androhung eines derartigen Angriffs abzuschrecken. Auch wenn man solche Drohungen nicht mit der Risikobereitschaft der russischen Führung, sie umzusetzen, verwechseln oder gar gleichsetzen darf, fordern prominente Kreml-nahe Stichwortgeber in Moskau, Russland solle erwägen, Kernwaffen einzusetzen gegen „Länder, die dem Marionettenregime in Kiew direkte Unterstützung zukommen lassen," um diese zu einer „Katharsis" zu bewegen und den „kollektiven Westen zu zwingen, sich strategisch zurückzuziehen".
Die Frage, welche Bedeutung die Entwicklung des globalen nuklearen Bedrohungsumfelds für die künftigen militärstrategischen Anforderungen an die erweiterte nukleare Abschreckung der USA hat, war zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der NATO abstrakt, theoretisch oder faktisch unbedeutend. Vor allem die USA mussten konkrete, kostspielige und mitunter kontrovers diskutierte Entscheidungen über Erwerb, Größe und Struktur der Nuklearstreitkräfte, Nuklearstrategie und Beteiligung ihrer Verbündeten unter Annahmen über künftige strategische Entwicklungen treffen. In erster Linie ging es stets um strategische Nuklearstreitkräfte, in zweiter Linie um die zusätzlich in „NATO-Europa" gebrauchten nicht-strategischen Nuklearstreitkräfte, einschließlich nuklearer Teilhabe. Ihre Entscheidungen hatten wiederum großen Einfluss auf einschlägige Entscheidungsprozesse der Verbündeten. Und sie waren regelmäßig auf die eine oder andere Weise zukunftsgerichtet.
Wie schon im Kalten Krieg deutlich wurde, konnten strategische Zukunftsanalysen wichtig, sogar herausragend wichtig sein, gerade wenn ihre Informationsgrundlage sensibel war. Das konnte insbesondere der Fall sein bei integrierten Analysen, die die Intelligence-Perspektive mit der Perspektive der eigenen Militärstrategie verbanden. Um ein profundes Beispiel der späten 1950er-bis mittleren 1960er-Jahre zu nennen: Es war das Thema, ob angesichts der Entwicklung der nuklearen Bedrohungslage die Einführung ballistischer Mittelstreckenraketen in Europa unter NATO-Befehl eine Voraussetzung sei für glaubwürdigen nuklearen Schutz der USA in der Zukunft. Für die europäischen NATO-Staaten war es so bedeutend, dass US-Entscheider zum Schluss gelangten: „(...) there was evidence that the Germans would, sooner or later, seek to have a nuclear capacity of their own unless they were offered some alternative arrangement such as the multilateral force. (...) It was primarily for this reason that the United States Government wished to keep open the discussion of a multilateral M.R.B.M. force: it might be the only means of satisfying German nuclear aspirations."
Es ging um die Frage, welche Kernwaffensysteme unter Berücksichtigung der zukünftigen Entwicklung der nuklearen Bedrohungslage notwendig wären, um die Erfordernisse für glaubwürdigen nuklearen Schutz durch die USA auch zukünftig zu gewährleisten. Im 21. Jahrhundert ist der „traditionelle" zweiseitige Rahmen für Analysen zu kurz gegriffen oder anachronistisch. Eine aktuelle Studie bilanziert: Nukleare Bedrohungen und Risiken werden in einer Welt von zurzeit neun Atommächten auf komplexe Weise zunehmen. Möglicherweise kommt es zu weiterer Kernwaffenverbreitung. Es wird schwieriger, nukleare Krisendiplomatie basierend auf gegenseitig gesicherter Abschreckung zu managen. Die Volksrepublik China rüstet nuklear auf. Die Bedeutung der US-amerikanischen nuklearen Schutzzusagen für ihre Verbündeten in Ostasien nimmt zu. Die Rivalitäten zwischen den Großmächten USA, China und Russland verschärfen sich, wobei sich Russland und China gerade durch den Ukraine-Krieg weiter angenähert, ja sogar eine „Freundschaft (...) ohne Grenzen" beschworen haben. Und künftig können Krisen in Ostasien und Europa entstehen, die auf unterschiedliche Weise zusammenhängen, aber jeweils zur Nagelprobe für die US-Schutzzusagen werden könnten.
Graph: Die chinesische atomwaffenfähige Mittelstreckenrakete Dongfeng 26
In Anbetracht dieser Veränderungen und Umwälzungsprozesse fragt sich, inwiefern zukunftsorientierte Analysen der Entwicklung der globalen nuklearen Bedrohungslage möglich sind und sich daraus operative Schlussfolgerungen ziehen lassen für die Gestaltung der nuklearen Teilhabe in der NATO oder für die künftigen militärstrategischen Erfordernisse glaubwürdiger erweiterter nuklearer Abschreckung der USA.
Allerdings geht dem die Überlegung voraus, wie die NATO-Staaten solche Analyseprozesse überhaupt organisieren. Laut einer aktuellen rechtlichen Machbarkeitsstudie herrscht im Ist-Zustand im Fall der Bundesrepublik Deutschland ein Mangel an „wissensbasierter strategischer Voraussicht" einhergehend mit einem „Strategiedefizit" vor, sodass „man schlimmstenfalls über unpopuläre Sicherheitsrisiken lieber gar nicht erst (so genau) Bescheid wissen will".
Das Studium der Geschichte, gerade auch der Ära Adenauer, kann dies veranschaulichen. Wie wir jetzt besser als zuvor und in mancher Hinsicht erstmals solide verstehen können, nahmen die Adenauer-Regierung und insbesondere Bundeskanzler Konrad Adenauer persönlich das Thema der nuklearen Abschreckung sehr ernst. Sie entwickelten entscheidungsrelevante strategische Perspektiven, vor allem auch zur Zukunft der nuklearen Abschreckung in einer damals noch bipolaren Welt, in der Deutschland im Kreis seiner Verbündeten weiterhin nuklearen Bedrohungen ausgesetzt bliebe. Das Thema war viel zu ernst und zu entscheidend, um es zögernd, dilatorisch, zergliedert oder durch outsourcing eigenen Denkens an die verbündeten Atommächte behandeln oder gar umgehen zu dürfen. Auch durfte das existenziell wichtige Grundvertrauen in die USA nicht zu dem naiven Reflex führen, dass sich die eigene Rolle darin erschöpfen solle, „den atlantischen Musterknaben [zu] spielen." Es ging darum, einen tragfähigen, auch machtpolitisch verantwortlichen Ansatz zu finden. Das war eine Frage des Überlebens.
Die operationale Kontinuität bei der nuklearen Teilhabe nach dem Kalten Krieg – also zertifizierte Kampfflugzeuge von europäischen NATO-Verbündeten plus US-kontrollierte B-61-Bomben – erscheint häufig nicht gesteuert von strategischer Logik. Auf den ersten Blick mag die Entscheidungsfindung speziell Deutschlands im 21. Jahrhundert auf ein Bündel unterschiedlicher Einflüsse zurückzuführen sein, darunter: Bündnispolitik und NATO-Kohäsion, politisch-organisatorische Trägheit, Beharrungskräfte und Status-Quo-Voreingenommenheit, ein Grundmodus stufenweiser Anpassungen, innen-, koalitions- und parteipolitische Faktoren, wahlpolitisches Kalkül, die „öffentliche Meinung", Abrüstungsbemühungen, Rüstungskooperation in Europa, rüstungsindustrielle und rüstungsindustriepolitische Einflüsse, finanzielle Erwägungen angesichts begrenzter Ressourcen und nicht zuletzt, von Ende der 1990er-Jahre bis in das Jahr 2021 hinein, Rücksichtnahme auf Russland.
In welchem Maß auch strategische Logik die operationale Kontinuität bei der nuklearen Teilhabe beeinflusst hat, wird im Detail erst zu verstehen sein, wenn entsprechende Regierungsakten zugänglich werden. Jedenfalls wäre es voreilig und, so die Vermutung des Autors, wahrscheinlich falsch, von einem allzu geringen Einfluss strategischer Logik auszugehen. Das bedeutet nicht, dass „andere Logiken" bis hin zum offensichtlichen politischen Kuhhandel keine oder eine geringe Rolle spielten. Es ist auch gut möglich, dass der Einfluss strategischer Logik im Lauf der Zeit variierte und zuweilen insgesamt schwächer war als die Kombination anderer Faktoren. Dennoch wäre es naiv, nicht oder zu wenig von strategischer Logik her zu denken. Denn zunächst einmal ist die Vorstellung, eine Welt ohne Kernwaffen sei mit menschlichen Möglichkeiten realisierbar, Wunschdenken. Konkret wird auch Deutschland mit nuklearen Bedrohungen weiterleben müssen. Zudem bleibt eine glaubwürdige USextended nuclear deterrence auf absehbare Zeit von zentraler Bedeutung für die euro-atlantische Sicherheitsordnung. Das gilt für die Abschreckung ebenso wie für den Ausgang einer Krise, in der Russland sich wider Erwarten doch zu einer direkten militärischen Herausforderung der NATO entschließen sollte. Wichtig bleibt die Fähigkeit der NATO, Abschreckung gegen einen Angriff Russlands auf Mitgliedstaaten herstellen zu können. Auch muss Abschreckung gegen nukleare Drohungen oder einen russischen Ersteinsatz von Kernwaffen gesichert sein. Das Vertrauen europäischer NATO-Verbündeter in die nukleare Schutzzusage der USA bleibt strategisch relevant.
Im Bewusstsein des hohen Maßes an Unsicherheit bei öffentlich zugänglichen Informationen über die Entwicklungen nach dem Kalten Krieg und mit konzeptionellem Fokus auf strategische Logik ordnete dieser Artikel Deutschlands F-35-Entscheidung von 2022 in eine historische Perspektive ein. Es wurden zwei Hauptthesen vorgebracht und diskutiert, um die nicht selbstverständlichen Kontinuitätslinien der nuklearen Teilhabe in der NATO und Deutschlands entsprechender Mitwirkung besser verständlich zu machen.
Erstens argumentiert der Artikel, dass Deutschlands F-35-Entscheidung dokumentiert, dass nach wie vor fundamentale Elemente der strategischen Logik bestimmend sind, die der deutschen nuklearen Sicherheitspolitik im Kalten Krieg seit der Ära Adenauer zugrunde lagen. Zweitens haben sich, wie es scheint, europäische Wahrnehmungen der militärstrategischen Erfordernisse glaubwürdiger US extended nuclear deterrence in profunder Weise geändert, sodass es nach dem Kalten Krieg als weniger anspruchsvoll erscheint, die nuklearen Schutzzusagen der USA für Europa als glaubwürdig zu erachten.
Eine wichtige bekannte Unbekannte ist die Frage, welche Implikationen die zukünftige Entwicklung des globalen nuklearen Bedrohungsumfelds gerade auch auf die nuklearen Schutzzusagen der USA für Europa haben wird. Hier hinkt die Diskussion in Europa in Breite, Tiefe, Dynamik und Robustheit der intensiven Betrachtung in anderen Ländern, insbesondere den USA, hinterher. Es kommt also – wieder einmal – stark auf Antworten an, die US-Regierungen gegeben haben und geben werden. Zugleich müssen europäische Regierungen zu eigenständigen, auch im Sinn einer verantwortlichen Machtpolitik tragfähigen Schlüssen kommen, damit die euro-atlantische Ordnung Bestand haben wird. So lohnt auch der Blick zurück, speziell auf die Ära Adenauer, in der Deutschlands nukleare Sicherheitspolitik in ihrer transatlantischen Orientierung grundlegend verankert wurde.
By Andreas Lutsch
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