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Zum Potenzial der digitalen Erfassung zur Analyse der Schreibmotorik.

Marquardt, Christian
In: Lernen und Lernstörungen, Jg. 13 (2024-04-01), Heft 2, S. 89-95
Online academicJournal

Zum Potenzial der digitalen Erfassung zur Analyse der Schreibmotorik  On the Potential of Digital Recording for Analyzing Writing Motor Skills 

Zusammenfassung:Hintergrund: Die seit langem diskutierten gravierenden Schreibprobleme von Kindern in der Schule scheinen sich in neuerer Zeit sogar zu verschärfen. Die Kinder schreiben zu langsam, verwenden einen erhöhten Schreibdruck, haben eine schlechte Schreibhaltung und ermüden rasch. Bei einer bundesweiten Umfrage des Schreibmotorik Instituts zusammen mit dem deutschen Lehrerverband (2019) an mehr als 2.000 Grundschulen und weiterführenden Schulen in Deutschland (Wiederholung 2022 bei 841 Befragten) gaben die befragten Lehrer an, dass 32% (2022: 30%) der Mädchen und sogar 51% (2022: 51%) der Jungen Probleme mit der Entwicklung einer lesbaren und flüssigen Handschrift haben. Fast zwei Drittel könnten nicht länger als 30 Minuten beschwerdefrei schreiben. Als Ursache wurde vor allem ein Mangel an motorischen Kompetenzen genannt. Diskussion: In der Regel reichen Schriftproben auf Papier oder die direkte Beobachtung der Schreibbewegung nicht aus, um Probleme der Schreibmotorik korrekt zu erfassen. Die Beurteilung von Schreibbewegungen, auch bei langsameren Schreibbewegungen, ist stark eingeschränkt, weil das Auge schnelleren Wechselbewegungen nicht folgen kann. Bis heute stehen für die Diagnostik von Schreibproblemen keine allgemein akzeptierten Beobachtungskriterien zur Verfügung. Zur objektiven Analyse von Schreibbewegungen stehen aber technische Registrierungssysteme zur Verfügung, die konsequenter eingesetzt werden sollten.

Abstract: Background: Serious writing problems of children at school have been discussed for a long time. Nevertheless, they seem to be getting worse in recent times. The children write too slowly, press the pencil very hard, have a bad writing posture and get tired quickly. In a nationwide survey of more than 2,000 primary and secondary schools in Germany conducted by the Institute Schreibmotorik together with the German Teachers' Association (2019) , the teachers surveyed indicated that 32% of girls and as many as 51% of boys had problems developing legible and fluent handwriting. Almost two-thirds could not write for more than 30 minutes without complaining about tiredness. A lack of motor skills was named as the main cause. A repeat of the survey in 2022 with a smaller sample found problems in 30% of girls and 51% of boys. Discussion: As a rule, writing samples on paper or direct observation of writing movements are not sufficient to correctly detect writing movement problems. The assessment of writing movements, even of slower writing movements, is severely limited because the eye cannot follow faster alternating movements. To date, no generally accepted observation criteria are available for the diagnosis of writing problems. However, technical registration systems are available for the objective analysis of writing movements and should be implemented.

Keywords: Handschreiben; Schreibmotorik; Automatisierung; Bewegungsanalyse; Schule; handwriting; writing movements; automaticity; movement analysis; school

Einleitung

Gerade im digitalen Zeitalter kommt dem Gelingen des Handschrifterwerbs eine besondere Bedeutung zu. So wird bereits diskutiert, ob das Schreiben von Hand überhaupt noch zeitgemäß ist. Tatsächlich nimmt aber das Schreiben einen großen Teil der feinmotorischen Tätigkeit von Kindern ein, auf den man nicht unbedingt verzichten will, wenn der Bewegungsmangel insgesamt weiter zunimmt. Darüber konnte in mehreren Studien nachgewiesen werden, dass sich das Schreiben mit der Hand nicht nur positiv auf den Schriftspracherwerb auswirkt (vgl. [6]), sondern auch auf die kognitive Entwicklung der Kinder insgesamt ([4]). Von daher sind die Berichte über die zunehmenden Schreibprobleme in der Schule alarmierend. Ein besseres Verständnis dieser schreibmotorischen Probleme erscheint als dringend notwendig, um dieser Entwicklung entgegenzusteuern.

Bei der Untersuchung dieser Probleme liefert eine direkte Beobachtung der Schreibbewegungen (des Schreibprozesses) mehr Informationen als die bloße Inspektion einer fertigen Schriftprobe (des Endprodukts). Im Methodenteil werden wichtige Aspekte des Schreibprozesses genauer aufgeführt. Bei schnelleren Schreibbewegungen ist das Verfolgen des Schreibstifts selbst aber kaum noch möglich, da das Auge aufgrund der physiologischen Voraussetzungen Wechselbewegungen von mehr als 2 Hz nicht mehr direkt verfolgen kann (vgl. [5]). Automatisiertes Schreiben ist mit 4.5–5 Hz mehr als doppelt so schnell. So muss sich die Beobachtung mehr auf die schreibende Hand (Griff, Handgelenkstellung, Druck auf Schreibunterlage) und den Arm (Auflage des Ellbogens, Armtransport) konzentrieren. Entsprechend ist das Wissen um die genauen Ursachen von Schreibproblemen bei Kindern oftmals wenig zufriedenstellend.

Bereits seit Mitte der 1970er-Jahre sind Aufzeichnungen von Schreibbewegungen mit graphischen Tabletts möglich. Geschrieben wird dabei unter natürlichen Bedingungen mit einem Kugelschreiber ähnlichem Stift auf Papier. Aus den registrierten Positionsdaten können kinematische Aspekte der Schreibbewegung, wie die Geschwindigkeit, die Schreibfrequenz, oder der Automationsgrad berechnet werden (vgl. [7]). Anhand der gewonnenen Informationen lässt sich der Schreibprozess objektiv und quantitativ beschreiben und die Systematik von routiniertem und gekonntem Handschreiben untersuchen. Es können aber auch die günstigen und ungünstigen Faktoren für flüssiges Handschreiben identifiziert ([8]) oder wichtige Entwicklungsaspekte des Schrifterwerbs untersucht werden ([13]; [14]). Des Weiteren können auch die verschiedenen Problemmuster voneinander abgegrenzt und Informationen für die Planung von zielgerichteten Trainingsprogrammen abgeleitet werden.

Trotz dieser seit langem verfügbaren umfangreichen Analysemöglichkeiten und der daraus gewonnenen Erkenntnisse finden sich kaum evidenzbasierte Konzepte oder Trainingsprogramme zum Schreibenlernen. Entsprechend einseitig wird bei auftretenden Schwierigkeiten im Schreiblernprozess reagiert. Oft wird vereinfachend ein Mangel an Übungszeit oder ein Mangel an feinmotorischen Kompetenzen wie der Beweglichkeit und Koordination der Finger oder Auge-Hand Koordination unterstellt. Motorisches Lernen läuft aber viel komplexer ab und ist beispielsweise auf erfolgreiche Selbstorganisationsprozesse durch Erfolg und Fehler angewiesen (vgl. [15]). Dabei spielen vor allem die motorischen Bewegungsaspekte eine zentrale Rolle und weniger die genaue Einhaltung einer vorgegebenen Schriftform ([11]). Allein durch häufiges Üben der Buchstaben lassen sich Schreibprobleme oftmals nicht überwinden.

Über die Kriterien, die über Erfolg oder Misserfolg beim Schreibenlernen entscheiden, ist noch wenig bekannt. Die kinematische Bewegungsanalyse kann genau diese Hintergründe ausleuchten und ermöglicht damit eine differenzierte Beurteilung der individuellen Schreibprobleme, kann auf der anderen Seite aber auch generelle Probleme der angewandten Schreiblernkonzepte aufdecken.

Analysemethoden

Kinematische Analyse

Um die Charakteristik routinierter Handschriften zu erforschen, wird zunächst das Schriftbild von Erwachsenen herangezogen. Der Vergleich verschiedener Handschriften zeigt, dass sich im Erwachsenenalter die Schriftformen weit von den Normvorgaben der Schulausgangsschriften entfernt haben und große individuelle Ausprägungen entwickelt haben. Einheitlicher erscheinen hingegen Merkmale, die sich eher auf den Prozess der Schriftgenerierung beziehen. Hierzu zählen beispielsweise die Vereinfachung der Großbuchstaben, die Flüssigkeit der Schreibbewegungen, eine relativ hohe Schreibgeschwindigkeit und häufiges Absetzen bei längeren Wörtern. Die Schreibbewegungen laufen automatisch ab und erfordern keine besondere Aufmerksamkeit oder gar bewusste Planung. Auch längeres Schreiben wird als nicht besonders anstrengend empfunden.

Automatisierte Schreibbewegungen

Die kinematische Analyse zeigt, dass routinierte und automatisierte Schreibbewegungen prinzipiell durch

  • • gleichmäßige und gleichzeitige Auf- und Abbewegungen aus dem Handgelenk und
  • • Vor- und Zurückbewegungen des Stifts aus den Fingergelenken gekennzeichnet sind.

Die Analyse dieser überlagerten Bewegungseinheiten kann vereinfacht werden, wenn nur jeweils eine Auf- oder Abbewegung als Analyseeinheit betrachtet wird. Diese Vorgehensweise entspricht einem Modell der Handschriftgenerierung, in dem die Auf- und Abbewegung des Stifts als eine unabhängige Bewegungskomponente angesehen und analysiert wird ([3]).

In Abbildung 1 ist die typische Charakteristik einer automatisierten Schreibbewegung eines routinierten Schreibers am Beispiel der wiederholt geschriebenen Buchstaben „ll" dargestellt. Durch zwei Markierungen und roter Farbe ist in den Buchstaben (A) und der [y]-Komponente (B) ein Aufstrich gekennzeichnet. Die zu diesem Aufstrich zugehörige Geschwindigkeitskurve [vy] zeigt einen glatten und regelmäßigen Verlauf mit genau einem Geschwindigkeitsmaximum ungefähr in der Mitte der Bewegung (C). Eine solche Bewegungsausführung wird auch durch die Begriffe „glockenförmiger Geschwindigkeitsverlauf" oder „eingipfliges Geschwindigkeitsprofil" beschrieben. Die Beschleunigungskurve [ay], die dem Krafteinsatz entspricht, ist ebenfalls gleichmäßig und zeigt eine Beschleunigungsphase zu Beginn und eine Bremsphase am Ende des Bewegungsabschnitts (D).

Graph: Abbildung 1 Charakteristik automatisierter Bewegungen am Beispiel der wiederholt geschriebenen Buchstaben „ll".

Die automatisierte Bewegungsausführung mit einem glatten symmetrischen Geschwindigkeitsprofil, einem Maximum in der Mitte der Bewegung und einem ebenfalls gleichmäßigen Beschleunigungsverlauf entspricht genau den Prinzipien von ballistischen Pendelbewegungen ([2]). Findet sich hingegen eine mehrgipflige Geschwindigkeitskurve pro Bewegungsabschnitt, dann muss davon ausgegangen werden, dass die Bewegung nicht in einem Zug ausgeführt wurde und es sich nicht um eine automatisierte Bewegung handelt.

Wiederholgenauigkeit von Schreibbewegungen

Die Bewegungsverläufe von routinierten Schreibern fallen auch durch eine sehr hohe Wiederholgenauigkeit auf. Die in Abbildung 1 übereinander gezeichneten Geschwindigkeitsverläufe (C) und Beschleunigungsverläufe (D) zeigen, dass die charakteristische Ausführung der Schreibbewegung über die drei Durchläufe exakt erhalten bleibt. Dies gilt sowohl für den Verlauf der Kurven als auch für die zeitliche Struktur. Bei automatisierten Bewegungen wird immer dasselbe und hoch überlernte Bewegungsprogramm ausgeführt.

Die hier beschriebenen invarianten Charakteristika von routinierter Handschrift können zu einer generellen Definition von automatisierten Bewegungen herangezogen werden (vgl. [7]): Eine Bewegungsausführung wird als automatisiert bezeichnet, wenn glatte und pro Bewegungsabschnitt eingipflige (glockenförmige) Geschwindigkeitsprofile mit ebenfalls glatten Beschleunigungsprofilen vorliegen, und wenn eine hohe Wiederholgenauigkeit der Bewegungen demonstriert werden kann.

Feed-forward und Feedback Bewegungen

Automatisierte Bewegungen werden vermutlich bereits vor ihrer eigentlichen Ausführung vollständig geplant bzw. programmiert und unterliegen wegen ihrer hohen Geschwindigkeit während der Ausführung nicht mehr der willkürlichen Kontrolle. Eine solche, nur nach vorne gerichtete, Steuerung, bei der während der Bewegungsausführung kein Bewegungssignal mehr rückgekoppelt wird, wird als feed-forward Bewegung bezeichnet. Erst nach Bewegungsende kann das Bewegungsergebnis mit der intendierten Bewegung verglichen und auf eventuelle Abweichungen reagiert werden ([15]).

Wenn hingegen bei der Ausführung einer Bewegung die Rückmeldungen aus den Sinnesorganen als Kontrolle verwendet werden, so spricht man von Feedback gesteuerten Bewegungen. Bei diesen Nachführbewegungen wird während der Bewegungsausführung ständig die tatsächliche mit der intendierten Position verglichen. Abweichungen führen zu einer sofortigen Korrektur während der gerade ausgeführten Bewegung. Ein Bewegungsabschnitt wie eine Auf- oder Abbewegung bei einem Buchstaben wird dann mit mehreren Teilbewegungen ausgeführt. Mit dem häufigen Wechsel zwischen Beschleunigen und Abbremsen und der deutlich verlangsamten Ausführung lassen sich diese Bewegungen grundsätzlich von automatisierten Bewegungen unterscheiden. Feedback-Bewegungen werden normalerweise bei noch nicht gelernten Bewegungen oder bei Bewegungen unter sehr hohen Genauigkeitsanforderungen verwendet.

Kinematische Parameter

Die kinematische Analyse einer registrierten Schreibbewegung erlaubt eine genaue Beurteilung des zugrunde liegenden Bewegungsablaufs und damit eine Abgrenzung gelernter von ungelernten oder gestörten Bewegungen. Zur quantitativen Beschreibung einer Schreibleistung werden typischerweise folgende Parameter berechnet (vgl. [7]):

  • • Schreibdauer – Die Zeit vom ersten Aufsetzen des Stifts bis zum letzten Absetzen
  • • Schreibgeschwindigkeit – Die Geschwindigkeit des Stifts auf dem Papier, ist allerdings abhängig von der Schriftgröße
  • • Schreibfrequenz – Die Anzahl der Auf- und Abstriche pro Zeiteinheit
  • • Schreibdruck – Der vertikale Druck des Stiftes auf die Schreibunterlage
  • • Automationsgrad – Die Anzahl der Richtungsinversionen in dem Geschwindigkeitssignal bei jedem Auf- oder Abstrich (Number of Inversions in Velocity, „NIV"). Im optimalen Fall eines eingipfligen Geschwindigkeitsprofils ergibt sich ein Wert von NIV = 1, bei nicht automatisierten Bewegungen ein Wert von NIV > 1.5.
DTW-Analyse

Um auch die Konstanz in der Produktion von Buchstabenformen objektiv zu erfassen, bietet sich eine Analyse auf Basis der digitalen Zeitnormierung DTW (Dynamic Time Warping) an. Die DTW-Analyse für das Schreiben wurde erstmals von [18] veröffentlicht. [1] verwendeten DTW dann zum Formvergleich von geschriebenen Buchstaben, um die räumlichen Eigenschaften der Handschrift von Kindern mit Schreibproblemen zu analysieren.

Ein wichtiger Aspekt der DTW-Analyse ist, dass die Formkonstanz von wiederholt geschriebenen Spuren zueinander bewertet wird und nicht das Verhalten gegenüber einer Norm. Dafür wird für einen Schreiber zunächst ein individueller und normierter Prototyp, beispielsweise eines wiederholt geschriebenen Buchstabens, berechnet. Dann werden alle diese Buchstaben mit dem Prototyp verglichen, indem die räumlichen Abstände zueinander aufaddiert werden. Dabei muss jeder Datenpunkt der einen Kurve mit mindestens einem Datenpunkt der anderen Kurve verbunden werden. Abbildung 2 zeigt ein Beispiel der Berechnung der DTW-Abstände zweier Trajektorien des Buchstabens „i". Es werden nur Bewegungen auf dem Papier ausgewertet. Der resultierende mittlere DTW-Abstand ist dann ein Maß für die räumliche Ähnlichkeit der Schreibspuren.

Graph: Abbildung 2 Vergleich zweier Trajektorien des Buchstaben „i" mit dem DTW-Verfahren, gestrichelte Trajektorien sind in der Luft (aus [1]).

Screening der Schreibmotorik

Mit einem grafischen Tablett und der Analysesoftware CSWin ([12]) kann bei einer Untersuchungsdauer von nur ca. 5 Minuten ein Screening der Schreibleistung einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Aspekte einer individuellen Schreibleistung bieten. Ziel einer solchen Untersuchung ist vor allem die Beurteilung der Schreibmotorik. Durch die Variation der Komplexität der Schreibaufgaben kann die diagnostische Aussagekraft kinematischer Analysen gesteigert werden. Neben dem Schreiben von Wörtern oder Silben können auch die dem eigentlichen Schreiben zugrundeliegenden Bewegungen untersucht werden. Übereinander geschriebene Auf- und Abstriche werden mit alternierenden Bewegungen des Handgelenks erzeugt, wie sie z.B. auch beim Schraffieren eingesetzt werden. Werden nur die der Finger vor und zurückgefahren, ergeben sich Striche in annähernd rechtem Winkel zu den mit dem Handgelenk produzierten Strichen. Die Produktion von einfachen Schleifen in der kursiven Schrift (z.B. bei der Buchstabenkombination „ll") oder beim Übereinanderschreiben von Kringeln erfordert die Kombination dieser beider Grundkomponenten. Je nach Lage der Kringel werden z.B. bei den stark gekrümmten Abschnitten mehr die Finger eingesetzt, in den weniger gekrümmten Abschnitten mehr das Handgelenk. Durch den unterschiedlichen Komplexitätsgrad der Aufgaben sind auch Aussagen über motorische Basiskompetenzen des Schreibers möglich.

Untersuchung der Schreibleistung bei Kindern

Bei der Beurteilung der Schreibleistung von Kindern ist nicht nur von Interesse, an welchem Punkt des Schreiben Lernens sich das Kind gerade befindet und welche Hilfestellungen sich auf Grund der Ergebnisse ableiten lassen. Es ist auch von Interesse zu verstehen, welche Probleme eher feinmotorische Defizite als Ursache haben, und welche Probleme eher mit dem Schreibprozess selbst zu tun haben. In Abbildung 3 sind zwei repräsentative Beispiele für verschiedene Leistungsprofile von Kindern vier Monate nach Einschulung beim Schreiben des Namens und beim Schreiben von Kringeln dargestellt (vgl. [9]).

Graph: Abbildung 3 Verschiedene Leistungsmuster beim Schreiben des Namens und von Kringeln. Oben jeweils die Schriftprobe mit zugehörigem Geschwindigkeitsverlauf [vy] und Druckverlauf [z]. Unten jeweils die Kringel mit Geschwindigkeitsverlauf [vy] und Phasendiagramm [ay/vy].

Die in Abbildung 3 oben dargestellten Ergebnisse für Schüler „Andi" (A) zeigen ein gut lesbares und ausgeformtes Schriftbild, aber das zugehörige Geschwindigkeitssignal [vy] mit niedrigen Spitzengeschwindigkeiten erscheint als sehr unregelmäßig. Zum Schreiben seines Namens benötigt Andi 3.5 s pro Buchstaben und liegt damit im unteren Bereich seiner Altersgruppe. Der Schreibdruck [z] bewegt sich auf einem sehr hohen Niveau. Beim Schreiben von einfachen Kringeln zeigt Andi zwar etwas höhere Geschwindigkeitswerte, aber auch mit einer sehr geringen Frequenz von 1.5 Hz und einem geringen Automationsgrad mit NIV = 5. Das zugehörige Phasendiagramm [ay/ vy] ist durch zahlreiche Unregelmäßigkeiten geprägt.

In Abbildung 3 unten ist das Ergebnis für den Schüler „Marvin" (B) dargestellt. Das Schriftbild erscheint weniger versiert als bei Andi, allerdings setzt Marvin bereits automatisierte Bewegungskomponenten ein. Die Spitzengeschwindigkeiten sind mit 100 mm/s relativ hoch. Die Geschwindigkeitskurve ist insgesamt regelmäßig, zeigt jedoch noch längere Pausen (gepunktet) zwischen den Bewegungsabschnitten. Marvin benötigt 1s pro Buchstaben und ist damit mehr als 3 mal so schnell wie Andi. Der Verlauf des Schreibdrucks ist auf einem guten niedrigen Niveau. Das Geschwindigkeitssignal beim Kringeln ist sehr gleichmäßig mit einem optimalen Automationsgrad mit NIV = 1.

Die kinematische Analyse kann hier differenziert Informationen über die Schreibleistung und über die motorischen Grundfertigkeiten aufdecken, die bei Begutachtung von nur der Schreibprobe nicht möglich wären. Die Schreibleistung von Andi (Abb. 3A) ist ausgesprochen ansprechend, was das Schriftbild betrifft, die Bewegung muss aber in allen Bereichen als wenig koordiniert gewertet werden. Die Defizite bei der Produktion von Kringeln legen sogar ein Koordinationstraining nahe. Im Gegensatz dazu zeigt Marvin (Abb. 3B) trotz etwaiger Mängel im Schriftbild bei den Schreibbewegungen sehr gute Leistungen, auch die feinmotorische Koordination bei den Kringeln ist ausgezeichnet. Bei Marvin würde man sich sicherlich etwas mehr Sorgfalt bei der Produktion der Schriftform wünschen.

Diskussion

Angesichts der Schwierigkeiten, die individuelle Schreibleistung, gerade innerhalb des Schreiblernprozesses, und eventuell auftretende Schreibprobleme durch reine Beobachtung zu beurteilen, bieten die kinematischen Analysen eine große Hilfestellung. Die Schreibbewegungen können durch die Analysen im Detail untersucht und qualitativ und quantitativ beschrieben werden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, trotz der Vielfalt individueller Schriftformen die zugrunde liegenden Bewegungen direkt untersuchen zu können und automatisierte von nicht-automatisierten Bewegungskomponenten unterscheiden zu können.

Durch eine experimentelle Variation der Schreibbedingungen kann die diagnostische Aussagekraft kinematischer Analysen weiter gesteigert werden. Ein Beispiel ist die Analyse elementarer Bewegungen der Finger und des Handgelenks, die als Grundlage für die spätere Entwicklung von Schreibbewegungen angesehen werden (vgl. z.B. [9]). Liegen bereits auf der Ebene von Grundbewegungen Probleme vor, so sollten sich das Üben zunächst auf diesen Bereich der elementaren Hand- und Fingerbewegungen konzentrieren. Finden sich hingegen gute motorische Kompetenzen bei den Grundbewegungen, so können diese als Basis für den Transfer auf das Schreiben von ersten Buchstaben, Wörtern, und am Ende einer lesebaren und flüssigen kursiven Schrift dienen. Ein solcher Kompetenz orientierter Ansatz wurde von [10] bei der Entwicklung des umfangreichen Praxismaterials „Schreiben lernen leicht gemacht" umgesetzt.

Relevanz für die Praxis

Die kinematische Analyse der Bewegungsabläufe beim Schreiben stellt eine einfache Möglichkeit dar, individuelle schreibmotorische Kompetenzen detailliert zu erfassen, den individuellen Lernfortschritt zu dokumentieren und verschiedene Problemmuster voneinander zu unterscheiden. Übungen zur Förderung der motorischen Schreibkompetenz sollten kontinuierlich in den Anfangsunterricht einbezogen werden. Hierbei gilt es auch, die verwendeten Konzepte des Erstschreibunterrichts kritisch zu hinterfragen, empirisch begründete neue Konzepte zu entwickeln und diese anhand von kinematischen Analysen objektiv zu überprüfen. Gerade in der heutigen Zeit mit weiter zunehmenden Schreibproblemen in der Schule muss es das Ziel sein, den Kindern mehr Unterstützung auf dem Weg zu einer gut lesbaren und gleichzeitig effizienten, automatisierten Handschrift zu geben.

Graph

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By Christian Marquardt

Reported by Author

Titel:
Zum Potenzial der digitalen Erfassung zur Analyse der Schreibmotorik.
Autor/in / Beteiligte Person: Marquardt, Christian
Zeitschrift: Lernen und Lernstörungen, Jg. 13 (2024-04-01), Heft 2, S. 89-95
Veröffentlichung: 2024
Medientyp: academicJournal
ISSN: 2235-0977 (print)
DOI: 10.1024/2235-0977/a000445
Schlagwort:
  • TEACHER organizations
  • SCHOOL children
  • MOTOR ability
  • PRIMARY schools
  • SECONDARY schools
  • GERMANY
  • Subjects: TEACHER organizations SCHOOL children MOTOR ability PRIMARY schools SECONDARY schools
  • automaticity
  • handwriting
  • movement analysis
  • school
  • writing movements
  • Automatisierung
  • Bewegungsanalyse
  • Handschreiben
  • Schreibmotorik
  • Schule Language of Keywords: English; German
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: On the Potential of Digital Recording for Analyzing Writing Motor Skills.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Author Affiliations: 1 = Science&Motion GmbH, München, Deutschland
  • Full Text Word Count: 3210

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