Rezension Leonardi, Simona, Costa, Marcella, Koesters, Gensini, Sabine E. & Schettino, Valentina (Hrsg.). 2023. Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus. Rom: Istituto Italiano di Studi Germanici. 456 S., € 35,00, ISBN 978-88-95868-60-8.
Nicht erst, aber spätestens seit Kants apriorischen Bestimmungen von Raum und Zeit als „notwendige Vorstellung [...], die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt" ([
Auch der von Simona Leonardi, Marcella Costa, Sabine E. Koesters Gensini und Valentina Schettino herausgegebene Sammelband Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus des ebenso benannten Projektes (gefördert vom IISG unter der Leitung von Simona Leonardi) beschäftigt sich mit diesen Kontexten bzw. begreift Raum, Zeit sowie Erinnerung und z. T. Emotionalität als interdependente Größen, anhand derer die narrativen biographischen Interviews des „Israelkorpus, das zwischen 1989 und 2019 von der Sprachwissenschaftlerin Anne Betten und ihren Mitarbeiterinnen in Israel gesammelt wurde" (S. 8–9) erschlossen werden sollen.
Inklusive der Einleitung wird diesen Zusammenhängen in 17 Beiträgen von 19 Autor*innen nachgegangen. Ziel des Projektes wie Sammelbandes wird schon auf der ersten Seite der Einleitung explizit gesetzt: „eine Kartografie der Orte aus den mündlichen Erzählungen [...] nachzuzeichnen" (S. 8). Da die Erzählungen aus dem verwendeten Korpus mehrere Jahrzehnte an Lebensgeschichte der interviewten Personen umfassen, lassen sich unterschiedliche Raumbezüge potenziell aufgreifen und analysieren; angefangen von Orten der früheren Heimat vor der Auswanderung, den verschiedenen ‚Transit-Orten' während Auswanderung und Flucht, den Orten des Ankommens und Einlebens in Israel und zuletzt den z. T. wiedererfahrenen Orten der Rückkehr an frühere Heimatorte (vgl. S. 17). Anhand dieser geographischen ‚Routen' sollen die unterschiedlich erfahrenen, wiederaufgerufenen und so rekonstruierten Erinnerungsorte bzw. -räume erschlossen werden, wobei die Herausgeberinnen ebenfalls einleitend ihr konstruktivistisches Raumverständnis deutlich machen, aus dem heraus „Orte [...] in sozialen Interaktionen hergestellt und dementsprechend ‚elastisch' [sind]" (S. 14).
Die damit verbundenen Analyseziele versuchen die Herausgeberinnen sowie Autor*innen aus einer explizit ausgewiesenen „inter- und transdisziplinär[en]" (S. 20) Perspektive heraus zu erreichen, wobei von den 17 Beiträgen lediglich zwei Texte als genuin geschichts- (von Patrick Farges) sowie literaturwissenschaftlich (von Sebastian Schirrmeister) gewertet werden können, während die anderen 15 sprachwissenschaftlich ausgerichtet sind. Anhand von nahezu ausschließlichen qualitativen Analysen (dies wird auch von den Autor*innen z. T. explizit gemacht; vgl. etwa S. 168) wird die Produktivität geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens mit diesem Korpus deutlich, sind doch die geführten Interviews „mit Israelis, die vorwiegend in den 1930er Jahren aus Deutschland und anderen deutschsprachigen, nach und nach annektierten Gebieten aus rassistischen bzw. aus politischen Gründen zur Auswanderung gezwungen wurden" (S. 8) eindrucksvolle Zeugnisse der politischen Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zugleich bleibt aber der Eindruck zurück, dass insbesondere die Konstruiertheit von Raum bzw. Räumen im Rahmen von erinnerten Aufrufen hätte umfassender in den Mittelpunkt gestellt werden können, um das gesetzte Ziel der Kartografie der erinnert-(re-)konstruierten Räume und Orte zu erreichen. Aus einer solchen konstruktivistischen Perspektive bleibt der Band etwas hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Abseits der schon angesprochenen, konzisen Einleitung lässt sich der Sammelband in vier größere Abschnitte einteilen bzw. evoziert die Reihenfolge eine solche Wahrnehmung:
Ein erster Abschnitt umfasst die beiden nichtsprachwissenschaftlichen Beiträge von Farges und S chirrmeister, die in ihren „Reflexionen" (S. 26) produktiv aufzeigen, inwiefern auch andere geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen an der Aufarbeitung dieses zunächst rein sprachwissenschaftlich anmutenden Korpus mitwirken können. Farges geht es aus einem archivwissenschaftlich-historiographischen Blickwinkel um die Bestimmung des Israelkorpus als kulturhistorisches Archiv. Er verweist nicht nur auf die sensorisch-materielle Dimension des Korpus, bei dem man „auf eine spezifische Art und Weise (mit)hören, (mit)fühlen und (mit)empfinden" (S. 29) kann, sondern ebenso auf Beziehungen des Korpus zur Shoa-Forschung (vgl. S. 34). Es ist interessant, dass dieser wichtige Bezugspunkt in den anderen Beiträgen weniger stark im Vordergrund steht (z. B. aber bei Schwitalla). Auch der Text Schirrmeisters weist eine methodische Ungewöhnlichkeit auf, finden sich doch, im Rahmen seiner Überlegungen zu Selbsterzählungen des Israelkorpus und des zionistischen Mythos, Ansätze quantitativen Arbeitens, da er „Wüstenmetapher[n]" (S. 51) auswertet, indem er in den „in der DGD verfügbaren Transkripten [...] nach der Verwendung des Wortes ‚Wüste'" (S. 49) sucht. Es ist geradezu auffällig, dass ein Literaturwissenschaftler hier mit (im weiten Sinne) quantitativen Zugängen arbeitet, während die anderen sprachwissenschaftlichen Beiträge sich auf qualitative Analysen zumeist einiger weniger Interviews beschränken. Er nutzt diesen Analyseteilschritt dann nachvollziehbar, um „narrative Interferenzen zwischen den aufgezeichneten Selbsterzählungen und dem sogenannten ‚zionistischen Mythos' als übergeordnetem Erzählschema insbesondere in Bezug auf die Bewertung von Orten und der Bewegung im Raum aufzuzeigen" (S. 43).
Ein zweiter, wesentlich umfassender Abschnitt beinhaltet die (nun allesamt sprachwissenschaftlichen) Texte von Ferron, Leonardi, Larroy-Wunder, Schwitalla, Costa und Flinz sowie Brambilla und Crestani. Zwar eher lose eint die sechs Beiträge aber eine Orientierung auf Orte bzw. Räume als Mittel der Narration; dabei zeigen sich auch in diesen Texten z. T. Ansätze interdisziplinären Arbeitens; insbesondere auf das schon erwähnte Konzept des Chronotopos wird Bezug genommen (siehe etwa bei Leonardi [vgl. S. 96] oder Larroy-Wunder [vgl. S. 117]). Die Zielrichtung vieler Analysen ähnelt sich, ebenso wie die verwendete Methodik: Es geht darum, „kulturelle Räume in den Interviews des Israelkorpus zu untersuchen" (S. 63 aus dem Text von Ferron), um „narratologisch-sprachwissenschaftliche Analyse[n] von (erinnerten) Räumen in Erzählungen" (S. 98 aus dem Text von Leonardi), die Erfassung von „Konstruktionen räumlicher Vorstellungen" (S. 111 aus dem Text von Larroy-Wunder) sowie die Strukturierung von Rauminformationen (so im Text von Brambilla und Crestani). Zumeist werden einige wenige Interviews mittels close-reading-Verfahren ausgewertet. Neben diesen methodischen wie analytischen Ähnlichkeiten zeigt sich aber auch die Vielfalt möglicher Zugänge, wenn etwa Schwitalla auf „prekäre Situationen" (S. 129) Bezug nimmt und Versprachlichungen verschiedener Gefahren- oder Angsträume (darunter den Eisenbahnwaggon [vgl. S. 132–134], das KZ [vgl. S. 134–138] oder das Versteck [vgl. S. 139–142]) analysiert. Dabei kommt es auch zu konzeptionellen Erweiterungen, wenn er darauf hinweist (S. 149), dass der „gängige[...] Raumbegriff der Linguistik [...] für die Wiedergabe und den Nachvollzug der geschilderten Szenen nicht aus[reicht]" und dahingehend vorschlägt, dass der „Begriff der Atmosphäre ein Ansatzpunkt sein könnte". Auch das Medium des Interviews gerät z. T. in den Blick: So untersuchen Costa und Flinz, „welche Rolle die Erzähler-Hörerin-Interaktion für die Raumsituierung einnimmt" (S. 154) und kommen zu dem Schluss, dass die Interviewerin wichtige Funktionen übernimmt, da sie „nicht nur als erste bei der Intervieweröffnung den Raum konstituiert [...], sondern auch während des ganzen Interviews mit den Gesprächspartnern aktiv diesbezüglich interagiert" (S. 168).
Während der zweite Abschnitt einen eher losen Zusammenhang anhand von Fragen um die narrative Raum(aus)gestaltung, -strukturierung und –bewertung aufweist, stehen die sechs Texte des dritten Abschnittes, von Häußinger, Ponzi, Koesters Gensini und Schettino, Stieber und Schettino, Schneider sowie Cinato in einem wesentlich engeren Beziehungsverhältnis und sind geeint über die Erweiterung des bestehenden Analysefokus um den Aspekt des Verhältnisses von Sprache und Emotion. Dies zeigt sich schon anhand einer ähnlichen Ausrichtung an konstitutiver Forschungsliteratur (vor allem auf die Arbeiten von [
Der Sammelband schließt mit einem letzten Abschnitt, bestehend aus zwei Beiträgen von Thüne und Betten, die aber in sich keine geschlossene thematische Einheit bilden, sondern wahrscheinlich aus anderen Gründen ans Ende gesetzt wurden. Bei Thüne mag dies an dem flankierend hinzugezogenen anderen Korpus liegen (siehe dazu die Fußnote weiter oben) und bei Betten an ihrer Rolle als (Mit-)Begründerin des Israelkorpus, der so sozusagen das letzte Wort zusteht. Dabei hätte man den Beitrag Thünes durchaus auch Abschnitt 2 zuordnen können, befasst sie sich ebenfalls damit, „wie die Wahrnehmung eines Raumes und dessen Bedeutung für die Sprechenden seine narrative Darstellung beeinflussen" (S. 385). Auch schließt sie an vorangegangene Perspektiven, z. B. hinsichtlich des metaphorischen Sprachgebrauchs an (vgl. S. 389) und zeigt anhand des Stilelements des Zoom-Verfahrens, wie erinnerte Räume „als Wahrnehmungs- und Handlungsräume konstruiert [werden]" (S. 400). Betten endet den Sammelband mit einer Analyse erinnerter Reisebeschreibungen von Interviewten der zweiten Generation in das Herkunftsland ihrer Eltern. Sie kann ein breites Spektrum an erinnerten Gefühlen herausarbeiten (vgl. S. 409–412), ebenso wie unterschiedliche Bezüge auf das Erleben der entsprechenden Orte. Als korpuscharakteristisch bestimmt sie, „dass besonders bei Berichten über den Besuch der Herkunftsstadt der Eltern kaum je eine anschauliche Ortsbeschreibung erfolgt" (S. 444). Sie hält zudem die Konstruktivität und Fluidität erinnerter Orte fest, die „kein statisch-bleibendes Bild" (S. 445) ergeben. „Die eher punktuellen Eindrücke, die die neue mentale Ortskarte konstituieren, unterliegen in der Folge vielmehr weiteren Veränderungen" (S. 445). Diese Veränderungen werden z. T. von den Interviewten selbst benannt und reflektiert (vgl. S. 443). Mit ihren Beschreibungen greift Betten zudem den einleitend zentral gesetzten Aspekt des konstruktivistischen Erinnerns von Orten bzw. Räumen auf und kann damit verbundene Leser*innenerwartungen produktiv einlösen.
Anhand der im Sammelband ausgewerteten Interviews wird eindrücklich deutlich, zu wie großem Dank die Forschungscommunity Anne Betten und ihren Mitarbeiterinnen für Aufbau, Ausbau und Weiterführung des Israelkorpus verpflichtet ist. Das sprachliche Weiterleben der Geflüchteten und Vertriebenen in diesen Texten mahnt nachfolgende Generationen ebenso, wie es zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen auffordert. Aus einem spezifischeren Blickwinkel um Fragen der Möglichkeiten, Grenzen sowie Veränderungen erlebter sowie nachträglich beschriebener Räume und Orte nähern sich die 19 Autor*innen diesen Zusammenhängen an; flankierend werden weitere Aspekte wie die Rolle der Emotionalität und des indirekten Sprechens aufgezeigt. So zeigt sich ein facettenreiches Bild möglicher Analyseperspektiven und Interpretationen. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass der Sammelband bis zu einem gewissen Grad, dies ist sicherlich auch der Vielfältigkeit der einzelnen Beiträge geschuldet, hinter den in der Einleitung aufgerufenen Möglichkeiten zurückbleibt. Insbesondere sei auf den Aspekt der Konstruktivität der erinnerten und dadurch re-imaginierten Orte und Räume bzw. den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Konstruktion verwiesen, der sich zwar in vielen Beiträgen andeutet, aber noch stärker aus einer auch erkenntnistheoretischen Perspektive hätte beleuchtet werden können (z. B. im Sinne des Sammelbandes von Felder und Gardt [2018] zu sprachkonstruktivistischen Zusammenhängen). Auch die politischen Dimensionen des Korpus als Shoa-Zeugnissammlung finden sich selten thematisiert (lediglich in den Aufsätzen von Farges und Schwitalla sind umfassendere Analysebewegungen auszumachen). Methodisch überraschend mag zudem die qualitative Ausrichtung sein, die lediglich z. T. vom literaturwissenschaftlichen Beitrag Schirrmeisters um quantitative Elemente erweitert wird. Dabei wären quantitative Erhebungen ja durchaus vorstellbar gewesen, um das Korpus umfassender zu ‚durchmessen'. Trotz kritischer Hinweise veranschaulicht der Sammelband an einem so relevanten wie spannenden Quellenmetarial die Produktivität linguistischer Analysen und Reflexionen von Räumlichkeit wie Örtlichkeit im Rahmen narrativer biographischer Interviews und damit auch konstruktivistischer Erinnerungsprozesse. Der Sammelband bietet auch dahingehend vielfache Hinweise auf weiterführende Forschungsmöglichkeiten.
By Friedrich Markewitz
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