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Leonardi, Simona, Marcella Costa, Sabine E. Koesters Gensini & Valentina Schettino (Hrsg.). 2023. Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus. Rom: Istituto Italiano di Studi Germanici. 456 S., € 35,00, ISBN 978-88-95868-60-8.

Markewitz, Friedrich
In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Jg. 2024 (2024-04-01), Heft 80, S. 223-229
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Leonardi, Simona, Marcella Costa, Sabine E. Koesters Gensini & Valentina Schettino (Hrsg.). 2023. Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus. Rom: Istituto Italiano di Studi Germanici. 456 S., € 35,00, ISBN 978-88-95868-60-8 

Rezension Leonardi, Simona, Costa, Marcella, Koesters, Gensini, Sabine E. & Schettino, Valentina (Hrsg.). 2023. Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus. Rom: Istituto Italiano di Studi Germanici. 456 S., € 35,00, ISBN 978-88-95868-60-8.

Einstieg

Nicht erst, aber spätestens seit Kants apriorischen Bestimmungen von Raum und Zeit als „notwendige Vorstellung [...], die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt" ([5] 1998 [1787]: 98) ist ihre Relevanz als strukturierende Phänomene menschlicher Erkenntnis gesetzt. Abseits dieser erkenntnistheoretisch-philosophischen Bestimmungen haben die verschiedenen Geistes- und Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte versucht, die Phänomene Raum und Zeit umfassend zu erschließen. Zentrale Bedeutung kommt dabei Raum in narratologischer Hinsicht zu; darauf hat z. B. Vladimir Nabokov in seiner Vorlesung zur Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur hingewiesen, in der er die Bedeutung der Beschreibung von Raum für literarische Texte hervorgehoben sowie an verschiedenen Texten (u. a. Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde; vgl. 1982: 238–241) exemplifiziert hat. Eben diese Bedeutsamkeit von Raum wie Zeit als Strukturierungselemente von Narration hat die Literaturwissenschaft, u. a. ausgehend von dem von Michail M. Bachtin entwickelten Konzept des Chronotopos (2008 [1937-1938]), lange Zeit beschäftigt, bis im Rahmen des spacial turns der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften Ende der 1980er Jahre auch die Linguistik zunehmend Raum und Zeit in den Fokus ihrer Analysen sprachlicher Zusammenhänge gerückt hat. Insbesondere der medial vermittelten Konstruiertheit von Raum ist in den letzten Jahren u. a. aus diskurs-, polito- und kulturlinguistischer Perspektive Beachtung zugekommen (vgl. lediglich exemplarisch die Arbeiten Dang-Anhs [2019] sowie Bendls [2021]).

Auch der von Simona Leonardi, Marcella Costa, Sabine E. Koesters Gensini und Valentina Schettino herausgegebene Sammelband Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus des ebenso benannten Projektes (gefördert vom IISG unter der Leitung von Simona Leonardi) beschäftigt sich mit diesen Kontexten bzw. begreift Raum, Zeit sowie Erinnerung und z. T. Emotionalität als interdependente Größen, anhand derer die narrativen biographischen Interviews des „Israelkorpus, das zwischen 1989 und 2019 von der Sprachwissenschaftlerin Anne Betten und ihren Mitarbeiterinnen in Israel gesammelt wurde" (S. 8–9) erschlossen werden sollen.

Inklusive der Einleitung wird diesen Zusammenhängen in 17 Beiträgen von 19 Autor*innen nachgegangen. Ziel des Projektes wie Sammelbandes wird schon auf der ersten Seite der Einleitung explizit gesetzt: „eine Kartografie der Orte aus den mündlichen Erzählungen [...] nachzuzeichnen" (S. 8). Da die Erzählungen aus dem verwendeten Korpus mehrere Jahrzehnte an Lebensgeschichte der interviewten Personen umfassen, lassen sich unterschiedliche Raumbezüge potenziell aufgreifen und analysieren; angefangen von Orten der früheren Heimat vor der Auswanderung, den verschiedenen ‚Transit-Orten' während Auswanderung und Flucht, den Orten des Ankommens und Einlebens in Israel und zuletzt den z. T. wiedererfahrenen Orten der Rückkehr an frühere Heimatorte (vgl. S. 17). Anhand dieser geographischen ‚Routen' sollen die unterschiedlich erfahrenen, wiederaufgerufenen und so rekonstruierten Erinnerungsorte bzw. -räume erschlossen werden, wobei die Herausgeberinnen ebenfalls einleitend ihr konstruktivistisches Raumverständnis deutlich machen, aus dem heraus „Orte [...] in sozialen Interaktionen hergestellt und dementsprechend ‚elastisch' [sind]" (S. 14).

Die damit verbundenen Analyseziele versuchen die Herausgeberinnen sowie Autor*innen aus einer explizit ausgewiesenen „inter- und transdisziplinär[en]" (S. 20) Perspektive heraus zu erreichen, wobei von den 17 Beiträgen lediglich zwei Texte als genuin geschichts- (von Patrick Farges) sowie literaturwissenschaftlich (von Sebastian Schirrmeister) gewertet werden können, während die anderen 15 sprachwissenschaftlich ausgerichtet sind. Anhand von nahezu ausschließlichen qualitativen Analysen (dies wird auch von den Autor*innen z. T. explizit gemacht; vgl. etwa S. 168) wird die Produktivität geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens mit diesem Korpus deutlich, sind doch die geführten Interviews „mit Israelis, die vorwiegend in den 1930er Jahren aus Deutschland und anderen deutschsprachigen, nach und nach annektierten Gebieten aus rassistischen bzw. aus politischen Gründen zur Auswanderung gezwungen wurden" (S. 8) eindrucksvolle Zeugnisse der politischen Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zugleich bleibt aber der Eindruck zurück, dass insbesondere die Konstruiertheit von Raum bzw. Räumen im Rahmen von erinnerten Aufrufen hätte umfassender in den Mittelpunkt gestellt werden können, um das gesetzte Ziel der Kartografie der erinnert-(re-)konstruierten Räume und Orte zu erreichen. Aus einer solchen konstruktivistischen Perspektive bleibt der Band etwas hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Durchgang

Abseits der schon angesprochenen, konzisen Einleitung lässt sich der Sammelband in vier größere Abschnitte einteilen bzw. evoziert die Reihenfolge eine solche Wahrnehmung:

Ein erster Abschnitt umfasst die beiden nichtsprachwissenschaftlichen Beiträge von Farges und S chirrmeister, die in ihren „Reflexionen" (S. 26) produktiv aufzeigen, inwiefern auch andere geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplinen an der Aufarbeitung dieses zunächst rein sprachwissenschaftlich anmutenden Korpus mitwirken können. Farges geht es aus einem archivwissenschaftlich-historiographischen Blickwinkel um die Bestimmung des Israelkorpus als kulturhistorisches Archiv. Er verweist nicht nur auf die sensorisch-materielle Dimension des Korpus, bei dem man „auf eine spezifische Art und Weise (mit)hören, (mit)fühlen und (mit)empfinden" (S. 29) kann, sondern ebenso auf Beziehungen des Korpus zur Shoa-Forschung (vgl. S. 34). Es ist interessant, dass dieser wichtige Bezugspunkt in den anderen Beiträgen weniger stark im Vordergrund steht (z. B. aber bei Schwitalla). Auch der Text Schirrmeisters weist eine methodische Ungewöhnlichkeit auf, finden sich doch, im Rahmen seiner Überlegungen zu Selbsterzählungen des Israelkorpus und des zionistischen Mythos, Ansätze quantitativen Arbeitens, da er „Wüstenmetapher[n]" (S. 51) auswertet, indem er in den „in der DGD verfügbaren Transkripten [...] nach der Verwendung des Wortes ‚Wüste'" (S. 49) sucht. Es ist geradezu auffällig, dass ein Literaturwissenschaftler hier mit (im weiten Sinne) quantitativen Zugängen arbeitet, während die anderen sprachwissenschaftlichen Beiträge sich auf qualitative Analysen zumeist einiger weniger Interviews beschränken. Er nutzt diesen Analyseteilschritt dann nachvollziehbar, um „narrative Interferenzen zwischen den aufgezeichneten Selbsterzählungen und dem sogenannten ‚zionistischen Mythos' als übergeordnetem Erzählschema insbesondere in Bezug auf die Bewertung von Orten und der Bewegung im Raum aufzuzeigen" (S. 43).

Ein zweiter, wesentlich umfassender Abschnitt beinhaltet die (nun allesamt sprachwissenschaftlichen) Texte von Ferron, Leonardi, Larroy-Wunder, Schwitalla, Costa und Flinz sowie Brambilla und Crestani. Zwar eher lose eint die sechs Beiträge aber eine Orientierung auf Orte bzw. Räume als Mittel der Narration; dabei zeigen sich auch in diesen Texten z. T. Ansätze interdisziplinären Arbeitens; insbesondere auf das schon erwähnte Konzept des Chronotopos wird Bezug genommen (siehe etwa bei Leonardi [vgl. S. 96] oder Larroy-Wunder [vgl. S. 117]). Die Zielrichtung vieler Analysen ähnelt sich, ebenso wie die verwendete Methodik: Es geht darum, „kulturelle Räume in den Interviews des Israelkorpus zu untersuchen" (S. 63 aus dem Text von Ferron), um „narratologisch-sprachwissenschaftliche Analyse[n] von (erinnerten) Räumen in Erzählungen" (S. 98 aus dem Text von Leonardi), die Erfassung von „Konstruktionen räumlicher Vorstellungen" (S. 111 aus dem Text von Larroy-Wunder) sowie die Strukturierung von Rauminformationen (so im Text von Brambilla und Crestani). Zumeist werden einige wenige Interviews mittels close-reading-Verfahren ausgewertet. Neben diesen methodischen wie analytischen Ähnlichkeiten zeigt sich aber auch die Vielfalt möglicher Zugänge, wenn etwa Schwitalla auf „prekäre Situationen" (S. 129) Bezug nimmt und Versprachlichungen verschiedener Gefahren- oder Angsträume (darunter den Eisenbahnwaggon [vgl. S. 132–134], das KZ [vgl. S. 134–138] oder das Versteck [vgl. S. 139–142]) analysiert. Dabei kommt es auch zu konzeptionellen Erweiterungen, wenn er darauf hinweist (S. 149), dass der „gängige[...] Raumbegriff der Linguistik [...] für die Wiedergabe und den Nachvollzug der geschilderten Szenen nicht aus[reicht]" und dahingehend vorschlägt, dass der „Begriff der Atmosphäre ein Ansatzpunkt sein könnte". Auch das Medium des Interviews gerät z. T. in den Blick: So untersuchen Costa und Flinz, „welche Rolle die Erzähler-Hörerin-Interaktion für die Raumsituierung einnimmt" (S. 154) und kommen zu dem Schluss, dass die Interviewerin wichtige Funktionen übernimmt, da sie „nicht nur als erste bei der Intervieweröffnung den Raum konstituiert [...], sondern auch während des ganzen Interviews mit den Gesprächspartnern aktiv diesbezüglich interagiert" (S. 168).

Während der zweite Abschnitt einen eher losen Zusammenhang anhand von Fragen um die narrative Raum(aus)gestaltung, -strukturierung und –bewertung aufweist, stehen die sechs Texte des dritten Abschnittes, von Häußinger, Ponzi, Koesters Gensini und Schettino, Stieber und Schettino, Schneider sowie Cinato in einem wesentlich engeren Beziehungsverhältnis und sind geeint über die Erweiterung des bestehenden Analysefokus um den Aspekt des Verhältnisses von Sprache und Emotion. Dies zeigt sich schon anhand einer ähnlichen Ausrichtung an konstitutiver Forschungsliteratur (vor allem auf die Arbeiten von [9] (2013) sowie [9] (2013) wird Bezug genommen; z. B. bei Ponzi oder Koesters Gensini und Schettino). Zusätzliche Fokusse gliedern die Beiträge weiter: So wird ebenfalls auf Formen des indirekten bzw. figurativen Sprechens rekurriert (neben Ponzis Text zur Funktion figurativer Sprache in Ortsdarstellungen z. B. in den Beiträgen von Gensini und Schettino oder Stieber und Schettino, in denen etwa auf die rhetorische Figur der Ironie [vgl. S. 222 im Text von Ponzi] sowie den auffälligen Metapherngebrauch im Korpus Bezug genommen wird [vgl. z. B. S. 262 ff. im Text von Gensini und Schettino ]). Ein weiterer Fokus ist anhand von Analysen von Partikelverben (Stieber und Schettino) und Verbpartikeln (Schneider) erkennbar. Die verschiedenen Perspektiven auf Raum und Ort kulminieren im Beitrag von Lucia Cinato, die zwar mit einem anderen Korpus arbeitet (siehe dazu die Fußnote weiter oben), aber dennoch eine Vielzahl der im Sammelband aufgerufenen Perspektiven zusammenführt und in ihrer Grundsätzlichkeit bestimmt: „Die Raumdimension ist grundlegend, um sich der Realität bewusst zu werden, aber gleichzeitig ist sie komplex, weil ihre Konstruktion und Orientierung immer subjektiv ist und unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven beinhaltet" (S. 367). Es ist gerade dieser Abschnitt, der auch die Komplexität der Bezüge der unterschiedlichen Konzepte verdeutlicht. Allerdings hätte man sich manchmal eine etwas genauere Bestimmung dieser gewünscht. So geht es z. B. Häußinger darum, den Zusammenhang zwischen Emotionalität und Raumerfahrung zu erfassen, aber ihr Konzept von Emotionalität erscheint relativ vage bzw. un(ter)bestimmt – dahingehend erfasst sie sowohl genuine Emotionen wie Angst (vgl. S. 203), rekurriert aber auch auf anders gelagerte Phänomene, wenn sie auf erlebte Zugehörigkeiten (vgl. S. 209) oder Stigmatisierung- und Ausgrenzungsprozesse (vgl. S. 212) Bezug nimmt. Zudem zeigt sich an einigen Beiträgen dieses Abschnitts bzw. vor allem denen Stiebers und Schettinos und Schneiders eine ansonsten im Sammelband nicht auszumachende Tendenz, die Interviews nicht als Zweck an sich, sondern als Mittel zum Zweck zu betrachten, um Fragen zur Produktivität von Partikelverben sowie Verbpartikeln anhand des Korpus zu klären (vgl. zur ethischen Problematisierbarkeit eines solchen Vorgehens [6] 2022: 131).

Der Sammelband schließt mit einem letzten Abschnitt, bestehend aus zwei Beiträgen von Thüne und Betten, die aber in sich keine geschlossene thematische Einheit bilden, sondern wahrscheinlich aus anderen Gründen ans Ende gesetzt wurden. Bei Thüne mag dies an dem flankierend hinzugezogenen anderen Korpus liegen (siehe dazu die Fußnote weiter oben) und bei Betten an ihrer Rolle als (Mit-)Begründerin des Israelkorpus, der so sozusagen das letzte Wort zusteht. Dabei hätte man den Beitrag Thünes durchaus auch Abschnitt 2 zuordnen können, befasst sie sich ebenfalls damit, „wie die Wahrnehmung eines Raumes und dessen Bedeutung für die Sprechenden seine narrative Darstellung beeinflussen" (S. 385). Auch schließt sie an vorangegangene Perspektiven, z. B. hinsichtlich des metaphorischen Sprachgebrauchs an (vgl. S. 389) und zeigt anhand des Stilelements des Zoom-Verfahrens, wie erinnerte Räume „als Wahrnehmungs- und Handlungsräume konstruiert [werden]" (S. 400). Betten endet den Sammelband mit einer Analyse erinnerter Reisebeschreibungen von Interviewten der zweiten Generation in das Herkunftsland ihrer Eltern. Sie kann ein breites Spektrum an erinnerten Gefühlen herausarbeiten (vgl. S. 409–412), ebenso wie unterschiedliche Bezüge auf das Erleben der entsprechenden Orte. Als korpuscharakteristisch bestimmt sie, „dass besonders bei Berichten über den Besuch der Herkunftsstadt der Eltern kaum je eine anschauliche Ortsbeschreibung erfolgt" (S. 444). Sie hält zudem die Konstruktivität und Fluidität erinnerter Orte fest, die „kein statisch-bleibendes Bild" (S. 445) ergeben. „Die eher punktuellen Eindrücke, die die neue mentale Ortskarte konstituieren, unterliegen in der Folge vielmehr weiteren Veränderungen" (S. 445). Diese Veränderungen werden z. T. von den Interviewten selbst benannt und reflektiert (vgl. S. 443). Mit ihren Beschreibungen greift Betten zudem den einleitend zentral gesetzten Aspekt des konstruktivistischen Erinnerns von Orten bzw. Räumen auf und kann damit verbundene Leser*innenerwartungen produktiv einlösen.

Abschluss

Anhand der im Sammelband ausgewerteten Interviews wird eindrücklich deutlich, zu wie großem Dank die Forschungscommunity Anne Betten und ihren Mitarbeiterinnen für Aufbau, Ausbau und Weiterführung des Israelkorpus verpflichtet ist. Das sprachliche Weiterleben der Geflüchteten und Vertriebenen in diesen Texten mahnt nachfolgende Generationen ebenso, wie es zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen auffordert. Aus einem spezifischeren Blickwinkel um Fragen der Möglichkeiten, Grenzen sowie Veränderungen erlebter sowie nachträglich beschriebener Räume und Orte nähern sich die 19 Autor*innen diesen Zusammenhängen an; flankierend werden weitere Aspekte wie die Rolle der Emotionalität und des indirekten Sprechens aufgezeigt. So zeigt sich ein facettenreiches Bild möglicher Analyseperspektiven und Interpretationen. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass der Sammelband bis zu einem gewissen Grad, dies ist sicherlich auch der Vielfältigkeit der einzelnen Beiträge geschuldet, hinter den in der Einleitung aufgerufenen Möglichkeiten zurückbleibt. Insbesondere sei auf den Aspekt der Konstruktivität der erinnerten und dadurch re-imaginierten Orte und Räume bzw. den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Konstruktion verwiesen, der sich zwar in vielen Beiträgen andeutet, aber noch stärker aus einer auch erkenntnistheoretischen Perspektive hätte beleuchtet werden können (z. B. im Sinne des Sammelbandes von Felder und Gardt [2018] zu sprachkonstruktivistischen Zusammenhängen). Auch die politischen Dimensionen des Korpus als Shoa-Zeugnissammlung finden sich selten thematisiert (lediglich in den Aufsätzen von Farges und Schwitalla sind umfassendere Analysebewegungen auszumachen). Methodisch überraschend mag zudem die qualitative Ausrichtung sein, die lediglich z. T. vom literaturwissenschaftlichen Beitrag Schirrmeisters um quantitative Elemente erweitert wird. Dabei wären quantitative Erhebungen ja durchaus vorstellbar gewesen, um das Korpus umfassender zu ‚durchmessen'. Trotz kritischer Hinweise veranschaulicht der Sammelband an einem so relevanten wie spannenden Quellenmetarial die Produktivität linguistischer Analysen und Reflexionen von Räumlichkeit wie Örtlichkeit im Rahmen narrativer biographischer Interviews und damit auch konstruktivistischer Erinnerungsprozesse. Der Sammelband bietet auch dahingehend vielfache Hinweise auf weiterführende Forschungsmöglichkeiten.

Literatur 1 Bachtin, Michael M. 2008 [1937-1938]. Chronotopos. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2 Bendl, Christian. 2021. Polyhistorizität im öffentlichen Raum. Zur Konzeptualität und Funktion semiotisch-diskursiver Raum-Zeit-Aneignungen am Wiener Heldenplatz. Berlin/Boston: Walter de Gruyter. 3 Dang-Anh, Mark. 2019. Protest twittern. Eine medienlinguistische Untersuchung von Straßenprotesten. Bielefeld: Transcript. 4 Felder, Ekkehard & Andreas Gardt. 2018. Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative. Berlin/Boston: Walter de Gruyter. 5 Kant, Immanuel. 1998 [1787]. Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Felix Meiner. 6 Markewitz, Friedrich. 2022. Rezension zu Szczepaniak, Renata, Dücker, Lisa & Hartmann, Stefan (Hrsg.). 2020. Hexenverhörprotokolle als sprachhistorisches Korpus. Fallstudien zur Erschließung der frühneuzeitlichen Schriftsprache. In Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Vol. 76, S. 130–138. 7 Nabokov, Vladimir. 1982. Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der europäischen Literatur. Frankfurt am Main: Fischer. 8 Schwarz-Friesel, Monika. 2013. Sprache und Emotion. Tübingen: Francke. 9 Schwarz-Friesel, Monika & Helge Skirl. 2013. Metapher. Heidelberg: Winter. Footnotes In zwei Beiträgen werden noch weitere Korpora hinzugezogen: So analysiertEva-Maria Thüne nicht nur Gespräche aus dem Israel- sondern auch aus dem von ihr erhobenen Korpus zu Flucht und Emigration nach Großbritannien (FEGB) undLucia Cinato wertet in ihrem Beitrag ausschließlich Daten aus ihrem selbsterstellten Korpus zu Fluchtgeschichten aus Ostpreußen (FGOP) aus (vgl. S. 11/359/385).

By Friedrich Markewitz

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Titel:
Leonardi, Simona, Marcella Costa, Sabine E. Koesters Gensini & Valentina Schettino (Hrsg.). 2023. Orte und Erinnerung. Eine Kartografie des Israelkorpus. Rom: Istituto Italiano di Studi Germanici. 456 S., € 35,00, ISBN 978-88-95868-60-8.
Autor/in / Beteiligte Person: Markewitz, Friedrich
Link:
Zeitschrift: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, Jg. 2024 (2024-04-01), Heft 80, S. 223-229
Veröffentlichung: 2024
Medientyp: academicJournal
ISSN: 1433-9889 (print)
DOI: 10.1515/zfal-2024-2009
Schlagwort:
  • CULTURAL studies
  • CARTOGRAPHY
  • MEMORY
  • CORPORA
  • ANTHOLOGIES
  • SPACE perception
  • ISRAEL
  • Subjects: CULTURAL studies CARTOGRAPHY MEMORY CORPORA ANTHOLOGIES SPACE perception
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  • Sprachen: German
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  • Geographic Terms: ISRAEL
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