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Erfahrungen mit dem Nachbarn.

EHRENFORTH, KARL HEINRICH
In: Musik und Bildung, 2011, Heft 1, S. 60-61
Online review

Erfahrungen mit dem Nachbarn  Reflexionen eines Musikpädagogen über ein erziehungswissenschaftliches Buch VORBEMERKUNGEN

1) Das Herausgeberteam von Musik & Bildung ließ mir den von Markus Brenk und Anton Salomon herausgegebenen Sammelband Schulportrötforschung und Schulentwicklung (Frankfurt/M. 2010) mit Bitte um Rezension zusenden. Ich stutzte. Sollte ein Außenseiter, noch dazu seit fast zwanzig Jahren emeritiert, ein Buch prüfen, das so weit außerhalb seines eigenen Forschungsbereichs liegt? Ich lehnte ab. Man fragte nach und wies darauf hin, dass ich nicht zufällig als Rezensent auserwählt sei. Hätte ich doch immer dafür plädiert, über den Tellerrand der eigenen Profession zu schauen. Das konnte ich nicht leugnen. Wir einigten uns. Es werde keine übliche Rezension auf fachlicher Augenhöhe sein, eher ein (nach-)fragender Reflex eines nachbarlichen Musikpädagogen, der immerhin ja sechzehn Jahre am Gymnasium, zwei Jahre in Schulministerium und Studienseminar und schließlich zwanzig Jahre in der Lehrerbildung (fast) alle Ebenen der (Musik-) erziehung von innen gesehen hat.

  • 2) Ein Grund meiner Zurückhaltung war, dass ich - offen gestanden - lange kein erziehungswissenschaftliches Buch mehr gelesen habe. Mein Vorurteil ist typisch für einen Gymnasiallehrer. Gemäß der allgemein akzeptierten Einsicht, dass der Unterrichtsgegenstand die Unterrichtsmethode bestimmt, glaube ich auch heute noch, dass eher die Fachdidaktik die Themen der Erziehungswissenschaft vorgeben sollte als umgekehrt. Dass die Grundschulpädagogik in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme beanspruchen kann, wusste ich. Und siehe da: Die Überzahl der Beiträge in diesem Buch befasst sich in der Tat mit der Grundschule.
  • 3) Beim ersten Durchblättern des Bands traf mich sehr bald eine durchschlagend-schlichte Einsicht, die meine selbstkritische Skepsis bestätigte. Es handelt sich um ein Zitat auf S. 152 und lautet: „Ich kann meine innere Realität nur entdecken, wenn ich zu unterscheiden lerne zwischen dem, was ich weiß, dem, was ich zu wissen glaube, und dem, was ich wirklich nicht weiß. Ich kann nicht entscheiden, was die aktuelle Wirkichkeit ist, wenn ich spüre, was mir über die Situation nicht bekannt ist, und ich nicht so weise bin, mich danach zu erkundigen." Das Zitat stammt nicht von Konfuzius, sondern von einem - wie ich vermute - Sozialpsychologen unserer Tage. Ich kenne ihn nicht.
HAUPTTEXT

Nun zu dem Buch selbst. Wie üblich liest man ein Buch gemäß der Nummerierung schön brav von links nach rechts. Ich hätte es umdrehen sollen. Denn am Ende fasst der Stammvater der Schulporträtforschung, Wilhelm Wittenbruch, in selbstkritisch-autobiografischer Offenheit und Lesbarkeit (fast) alle meine Anfragen, Einwände und auch Beunruhigungen des bis dahin Belesenen zusammen. Hier war eine seniorale Weisheit im autobiografischen Rückblick zu spüren, die gut tat. Unbefangene und dennoch am Thema interessierte Leserinnen sollten es also besser als ich machen und die Lektüre mit Wittenbruchs Finale beginnen, um gleich danach vielleicht den kritischen Beitrag von Wilhelm Lönz (S. 59 fr.) zu sich zu nehmen.

Was hatte mich bis dahin beunruhigt?

1) Ich lese, dass die Schulporträtforschung seit zwanzig Jahren unterwegs ist. Dass sie ihren Ausgang mit der Bitte der Schulabteilung des Erzbistums Köln genommen hatte, ein Konzept für die zu errichtende Domsingschule zu entwickeln, ließ das Herz eines Musikpädagogen höher schlagen (Näheres siehe unten!). Erstaunt aber war ich zu lesen, dass die Autorinnen der ersten 80 von rund 200 Seiten sich ausnahmslos bemüßigt fühlten, ihren Beitrag mit einer ausführlichen Definition von Begriff und Aufgabe der Schulporträtforschung in je eigener Akzentuierung zu introduzieren. Spricht nicht diese Umrissschwäche gegen den Forschungsgegenstand? In aller Bescheidenheit: Sind es nicht drei selbstständige Forschungsbereiche, um die es hier geht? 1. Das Schulporträt in der Außensicht von Beobachtern, 2. das Schulprogramm aus der Innensicht der Beteiligten und 3. das Schulprofil als Ergebnis einer Verständigung zwischen 1. und 2.? Dem Buch entnehme ich jedoch, dass diese Unterscheidung offensichtlich nicht im Blick ist. Und natürlich ist mir auch bewusst, dass solche Scheidungen künstlicher Natur sind. Aber ist das nicht das Schicksal jeder Forschungsstrategie, Zusammenhänge nicht nur zu entdecken, sondern auch einmal zu zerschneiden, auf dass anderes sichtbar wird? Hier aber hat man jetzt den Eindruck, dass sich unter dem Titel „Schulporträtforschung" alles summieren lässt, was erziehungswissenschaftlich insgesamt bedenkenswert ist. Die Arme dieses unübersehbaren Segments reichen nun von der Begründung einer konfessionell-ldrchlichen Schule mitten in einem säkularen, allge meinen Staatsschulwesen bis zur pädagogisch angemessenen Gestaltung von Fachräumen, von der Unterrichtsforschung bis zum „Wohlbefinden" oder der Leseleistung von Schülerinnen. Ich gestehe - mir ist das etwas zu üppig.

  • 2) In durchaus selbstkritischer Perspektive steht meine zweite Frage. Welche Zielgruppe haben solche Publikationen? Wenn - was zu loben ist - die Schulporträtforschung erldärter- und erwiesenermaßen eine wichtige Brücke zwischen wissenschaftlicher Theoriebildung und (schul-) praktischer Realität im Auge hat, die ihre Fühler sogar noch in das Ausbildungscurriculum von Lehramtsstudiengängen ausstreckt (was man bei Brenk sehr schön nachlesen kann), dann wäre weiter zu fragen, ob diese Brücke nicht auch dem mehr praktisch ausgerichteten Lehrer und Schulleiter und vor allem auch den Beamten im Kultusministerium dienen müsste. Die oft recht prätentiöse Fachsprache und die angstbereitenden Literaturverweise und -listen strahlen eher Distanz aus. Aber wie angedeutet: Das betrifft auch die Musikpädagogik, ja vielleicht vieles in der (deutschen) Wissenschaftsproduktion überhaupt.
  • 3) Als ich den Titel des Buches las, hatte ich sofort eine politische Perspektive im Blick, die im Buch selbst - wenn ich recht sehe - nur bei Wittenbruch, und dort nebenbei, angesprochen wird. Es geht um die so genannte Schulautonomie. Das Wort verspricht gewiss zu viel und manche wollen es nicht mehr hören. Aber erkennbar ist meines Erachtens die Intention, dern blassen Bild von Schule als eine bessere Lernkaserne mehr Farbigkeit zu gönnen. Die eigentlich selbstverständliche Einsicht, dass ein solcher Korpus auch ein ansehnliches Profil und ein einladendes Gesicht haben sollte, um fruchtbare Identitäten zu erzeugen, ist im Wahn der Gleichheit oft vergraben worden. Dass man beispielsweise eine Schule mit dem Namen Gotthold Ephraim Lessing oder Carl Friedrich Gauß schmückt, ohne dass dies irgend, eine Konsequenz für ihre innere Gestaltung hat, kann nur verwundern. Wir alle wissen, wie wichtig die Identiflzierungschance bei Sportvereinen und anderen Großunternehmen ist. Identitäten wirken ja nicht nur nach außen, sondern schließen auch nach innen zusammen. Sie können stolz machen. Das fördert die Communio von Eltern, Schülerinnen und Lehrerinnen und macht die Schule „ansehnlich" im wörtlichen Verständnis des Begriffs. Sie ermutigt dazu, dass die Schule sich ihres eigenen Verstandes bedienen kann und muss, jenseits administrativer und manchmal ignoranter Vorgaben von außen.

So wäre es wünschenswert, die Schulporträtforschung auf das schwer überschaubare Gebiet der fachlichen Profilierungen von sportlich, musikalisch und naturwissenschaftlich akzentuierten Schulen auszudehnen.

Noch einige kleine kritische Anmerkungen zu Einzelbeiträgen

1) Als einer, der selbst in frühen Jahren mit anderen Idealisten zusammen ein evangelisches Gymnasium in der Nähe von Hamburg auf den Weg bringen wollte und der auch ein wenig Theologie studiert hat, möchte ich Oskar Dangl danken für seinen Beitrag zum Thema „Schulentwicldung und Religionspädagogik" (S. 71-82). Aber genügt es für eine christliche Schule in einem säkularisierten Umfeld, das christliche Menschenbild als Maßstab einer solchen Schule mit den Begriffen „Demokratisierung" und „Anerkennung der Menschenrechte" zu umschreiben? Ich kann den Kontext zwar von ferne nachvollziehen, aber seine eigentliche Herausforderung droht hier leider, ihren biblischen und theologischen Hintergrund zu verlieren. Vor allem scheint der Hinweis nicht überflüssig zu sein, dass die Überwindung von „Segregation" und „Hierarchisierung" (S. 80) als Ziel einer solchen Schule eigentlich erst einmal der Kirche selbst als Träger der Schule gelten müsste. Hier stoßen ideelle Zielgebung und institutionelle Trägerschaft als Geisterfahrer auf der kulturellen Autobahn zusammen. So gesehen wäre Dangls Satz, „Religionskritik könnte zur höchsten, bildungstheoretischen legitimierbaren Aufgabe von Theologie und Religionspädagogik werden" (S. 80), zu korrigieren. Hier geht es wohl kaum um „Religionskritik", sondern vor allem um Kritik an der Verfasstheit der römisch-katholischen Kirche selber. Das sage ich als Protestant ohne Häme. Aber ich vermute, dass Dangl das weiß. Aber er sagt es anders, als er es weiß.

  • 2) Mich hat gewundert, dass die Schulporträtforschung, die sich auf die Unverwechselbarkeit und Besonderheit der Schule konzentriert, noch den Begriff der „Ideografie" in Anspruch nehmen muss. Ist das nicht eine überflüssige Verdoppelung?
  • 3) Brenk berichtet von studentischen Exkursionen der Detmolder Hochschule in die Odenwaldschule. Deren Schulporträt ist gewiss reich an Anregungen auch für Lehrkandidaten, die später in der Staatsschule Dienst tun werden. Aber gehört nun nicht auch der morastige Untergrund dieser einst hochgelobten und immer noch nicht aus den Schlagzeilen geschwundenen Institution da zu? Vermutlich ist Brenks Manuskript schon vor den Ereignissen abgeschlossen gewesen. Aber was sagen uns diese Dunkelheiten des Missbrauchs? Vor allem wohl dies: Es geht in der Schulforschung wohl nicht nur um das wie auch immer attraktive „Wie" des Unterrichts, sondern vor allem um das „Wer" derer, die vor den Schülerinnen stehen und ihnen das Gesagte auch „vor-leben". Aber auch das ist nichts Neues.
SCHLUSS

Ich bekenne, dass es ein Wagnis war, manches zu kritisieren, obwohl die fachliche Legitimierung auf schwachen Beinen steht. Die Brisanz der Schulporträtforschung aber ist in mein Blickfeld gekommen. Wenn sie etwas verschlankt werden könnte, wäre mir wohler. So wäre es zum Beispiel wünschenswert und aus meiner Sicht lohnend, einmal Musikgymnasien bzw. Schulen mit erweitertem Musikunterricht in den Blick zu nehmen und ihre noch immer sehr unterschiedlichen Anforderungs- und Angebotsprofile zu sondieren. Das Thema scheint mir deshalb wichtig, weil es sich bei diesen Schulen um eine unverzichtbare, weil strategisch wichtige Rückzugslinie für den nicht mehr ganz auszuschließenden Fall handelt, dass die „Großfront" des Schulfachs Musik - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr zu halten sein wird. Eine Untersuchung zu diesem Thema müsste meines Erachtens auch eine Wertung der Binnen- und Außenwirkung wagen. Dabei wäre zu entdecken, welche Bedeutung das Musikprofil für das Image der ganzen Schule zu leisten vermag und welche Irritationen in der oft recht sensiblen Innenbalance des Kollegiums bei einer solchen Präferenz eines gängigen „Nebenlachs" zu erwarten sind.

By KARL HEINRICH EHRENFORTH

Titel:
Erfahrungen mit dem Nachbarn.
Autor/in / Beteiligte Person: EHRENFORTH, KARL HEINRICH
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2011, Heft 1, S. 60-61
Veröffentlichung: 2011
Medientyp: review
ISSN: 0027-4747 (print)
Schlagwort:
  • SCHULPORTRATFORSCHUNG und Schulentwicklung (Book)
  • BRENK, Markus
  • SALOMON, Anton
  • SCHOOLS
  • NONFICTION
  • GERMANY
  • Subjects: SCHULPORTRATFORSCHUNG und Schulentwicklung (Book) BRENK, Markus SALOMON, Anton SCHOOLS NONFICTION
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Experiences With the Neighbors.
  • Language: German
  • Document Type: Book Review
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Full Text Word Count: 1592

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