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Wenn auch die Kräfte versagen….

KOPERSKI, WOLFGANG
In: Musik und Bildung, 2011-04-01, Heft 2, S. 20-22
Online serialPeriodical

Wenn auch die Kräfte versagen… 

THEMA: MUSIK-GESCHICHTEN

Bänkelsangals Übermittler von Geschichten und Nachrichten am Beispiel des Lieds „Der Schneider von Ulm"

BÄNKELSANG

Bänkelsänger und ihre Vorträge waren seit dem 17. und teilweise noch bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein eine wichtige Informationsquelle für viele Menschen. Die Bänkelsänger stellten sich in Gassen oder auf Märkten auf eine kleine Bank (Bänkel), um besser gesehen und verstanden zu werden, und trugen ihrem neugierigen Publikum allein oder oft auch als Paar vor, was sich in der Welt an Spektakulärem ereignet hatte. Nach einem improvisierten Instrumentalvorspiel auf der Laute, der Harfe, Violine oder später der Drehorgel sangen sie 4-, 8- oder 16- zeilige, instrumental begleitete Liedstrophen auf bekannte Melodien und wiesen dabei mit einem Stab auf naiv gemalte Bildtafeln, auf denen dargestellt war, wovon sie sangen. Es folgten ein Prosavortrag der Geschehnisse und darauf weitere Liedstrophen moralisch belehrenden Inhalts und schließlich ein instrumentales Nachspiel.1

DAS LIED

Das Bänkellied Der Schneider von Ulm ist vermutlich ein Volkslied, das kurze Zeit nach dem historisch verbürgten Flugversuch des Schneiders Albrecht Ludwig Berblinger im Jahr 1811 entstanden ist. Dievierzeiligen Strophen sind einer symmetrisch gegliederten, achttaktigen Melodie unterlegt, deren zweite Viertaktgruppe wiederholt wird. Diese refrainartige Wiederholung transportiert im Text die wichtige Aussage, in diesem Fall das Vorhaben des Schneiders, seine Bruchlandung und die „Moral von der Geschieht'". Der jeweils erste, nicht wiederholte Teil hat eher einleitenden Charakter. Die rhythmische Gestalt der Melodie mit ihren Punktierungen, Pausen und längeren Notenwerten am Zeilenende entspricht dem marktschreierisch-pathetischen Sprech-rhythmus. Die Melodik weist Dreiklangsbrechungen und Sekundgänge auf, und das harmonische Geschehen beschränkt sich auf die Hauptfunktionen mit einem „Fall in die Subdominante" am Beginn der zweiten Viertaktgruppe.

Die Übereinstimmung der ersten beiden Takte mit dem bekannten Gassenhauer Hamburg ist ein schönes Städtchen2 ist möglicherweise zufällig, da der vorliegende Melodieverlauf mit von der Quinte ausgehendem Dreiklang abwärts wenig originell ist und quasi „in der Luft liegt". So einprägsam und einfach die Melodie ist, so schlicht ist auch der Text mit seinen fehlenden oder erzwungenen Reimen und der gegenüber den historischen Ereignissen verkürzten, knappen Darstellung. In Bezug auf den Ort, von dem aus der Schneider von Ulm sich herabstürzte, liegt sogar ein Fehler vor: Startpunkt war nicht der Turm des Münsters sondern ein Gerüst auf der Adlerbastei. Die Geschichte des Schneiders von Ulm und seines Flugversuchs mit einem selbst konstruierten Flugapparat wird auf dem Arbeitsblatt „Die Geschichte vom Schneider von Ulm" nacherzählt.3

Es gibt übrigens auch ein kurzes Gedicht von Bertolt Brecht mit dem Titel Der Schneider von Ulm (Ulm 1592), worin der Autor das Geschehen zeitlich weit vorverlegt und dem Schneider einen Bischof als Widerpart entgegenstellt. Der Schneider zerschellt auf dem Kirchplatz und liefert damit scheinbar den Beweis für die fortschritts-feindliche Überzeugung des Bischofs, niemals werde ein Mensch fliegen können. Im Folgenden soll aber Brechts Gedicht nicht weiter berücksichtigt werden, weil es didaktisch eher im Deutschunterricht anzusiedeln ist.

DER HISTORISCHE HINTERGRUND

Textarbeit

Bevor das Lied kennengelernt und gesungen wird, sollten die SchülerInnen in die Zeit vor 200 Jahren „entführt" werden. Im Unterrichtsge-spräch wird die Frage erörtert, wie wir heute von wichtigen Ereignissen erfahren. Sicher werden die SchülerInnen Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet nennen. Über die Frage, seit wann es all diese Informationsmedien gibt, und seit wann sie einer großen Zahl von Menschen zugänglich sind, gelangt man schnell zu den Verbreitungskanälen früherer Zeiten. Hierbei muss die Lehrkraft das fehlende Wissen der SchülerInnen mit Informationen ergänzen und über die Bänkelsänger berichten. Eine Möglichkeit dabei ist, die verschiedenen Informationsmedien von den SchülerInnen an der Tafel notieren zu lassen und anschließend die ungefähren Daten, seit wann es das jeweilige Medium gibt, hinzuzufügen. Beim gedanklichen Zurückgehen beispielsweise um 200 Jahre wird nur noch die Zeitung als Medium übrig bleiben, ergänzt um die Information, dass nicht alle Menschen Zugang zu Zeitungen hatten bzw. des Lesens nicht kundig waren.

Die SchülerInnen werden nun darüber informiert, dass es um eine abenteuerliche Geschichte gehen soll, die sich vor 200 Jahren abgespielt hat, und sie erhalten den Text über den Schneider von Ulm (s. Arbeitsblatt „Die Geschichte vom Schneider von Ulm"). Sie sollen ihn in Gruppen erlesen und danach miteinander die Frage diskutieren, ob ihnen Albrecht Ludwig Berblinger leid tut oder nicht. Jede Gruppe soll sich hierzu eine Meinung bilden, diese später durch einen Gruppensprecher im Plenum vortragen und aus dem Erzähltext heraus begründen. Eine solche Begründung erfordert nicht nur sinnerfassendes Lesen, sondern auch das Gespräch und das wiederholte Nachlesen einzelner Textpassagen. Es ist übrigens durchaus nicht selbstverständlich, dass Berblinger von den SchülerInnen als tragischer Held Mitleid erfährt. Auch die Position, er sei selbst schuld an seinem Schicksal und habe sich einfach überschätzt, findet ihre Anhänger. Während der Gruppenarbeit sollte die Lehrkraft beratend herumgehen, Verständnishilfen geben und die Gruppen betreuen, ohne dabei auf die Meinungsbildung der Gruppe einzuwirken. Für den Fall, dass die Gruppen den Text noch nicht ganz selbstständig erlesen können, ist natürlich auch ein gemeinsames Lesen möglich. Das Erklären nicht verstandener Wörter oder Wendungen muss in jedem Fall der Gruppenarbeit vorgeschaltet werden.

Bei der abschließenden Diskussion geht es nicht darum, eine gemeinsame („richtige") Meinung der ganzen Klasse zu erreichen. Unterschiedliche Standpunkte sollen im Raum stehen bleiben. Eine Alternative zum oben beschriebenen Weg, mit dem Erzähltext zu arbeiten, ist, von einer Inschrift4 auf einer Ulmer Gedenktafel auszugehen. Sie lautet: „Schneiderlein! Heil deinem Mut! Wenn auch die Kräfte versagen, ist doch der Wille zu loben!" Die SchülerInnen sollen dann anhand des Erzähltextes erklären, wie es zu dieser Inschrift gekommen sein mag und ihre Aussagen aus dem Text heraus begründen.

DAS LIED ERLERNEN

Erarbeitung des Textes

Die SchülerInnen erhalten nun das Liedblatt (s. Arbeitsblatt „Der Schneider von Ulm") und vergleichen den Liedtext mit dem ihnen bekannten Erzähltext. Die Frage, was das Lied nicht berichtet, ist hierbei ertragreicher als die Frage danach, was es berichtet, weil die im Lied unerwähnten Fakten oder Mutmaßungen zahlenmäßig weit überwiegen. Zudem ergibt sich quasi en passant eine gute, den Inhalt vertiefende Wiederholung zum vorangegangenen Unterrichtsschritt. Natürlich muss an dieser Stelle auch der inhaltliche Fehler in der ersten Strophe (Münster statt Adlerbastei) gefunden werden.

Als Vorbereitung auf das Singen sollte der Text nun noch mehrfach strophenweise laut vorgelesen werden, nicht zuletzt, weil Textpassagen wie „… dass er wie ein, dass er wie ein Vogel fliegt" oder „… schnurstracks in den, schnurstracks in den Donaustrom" doch eine gewisse Zungenfertigkeit voraussetzen, die unter Umständen erst mit einer gewissen Übung erreicht wird. Wenn die Zeit es erlaubt, können die Strophen noch im Rhythmus des Lieds gesprochen werden, was die anstehende Erarbeitung der Melodie wesentlich vereinfachen wird.

Erarbeitung der Melodie

Nun soll das Lied gesungen werden. Hierzu schlage ich vor, nicht von vorn zu beginnen, sondern zunächst nur einzelne Motive mit dem dazugehörigen Text, z. B. die fallende Terz aus dem zweiten Takt („Donau") oder die letzten eineinhalb Takte („wie ein Vogel fliegt") von den SchülerInnen nachsingen zu lassen. Dann singt die Lehrkraft die ganze Melodie, lässt dabei aber die von der Klasse erlernten Motive aus und lässt sie von den SchülerInnen singen. Nach und nach übernehmen die SchülerInnen immer weitere Melodieteile, bis schließlich die ganze Melodie beherrscht wird.

Dieses Verfahren wandelt die altbekannte „Papageienmethode" ab. Es fordert von den SchülerInnen ein hohes Maß an Konzentration, weil sie aufpassen müssen, wann sie singen sollen und wann nicht. Zugleich wird die Melodie recht oft wiederholt, ohne dass dies als langweilig erlebt wird, wodurch sie zügig und sicher erlernt wird. Aus der Sicht von pubertierenden SchülerInnen ist eine Volksliedmelodie zunächst oft weniger attraktiv, und erst, wenn sie sie beherrschen, finden die SchülerInnen einen Zugang zu ihr. Die Gefahr spontaner Ablehnung und damit nur widerwilligen Mitsingens wird mit dem beschriebenen methodischen Weg ebenfalls elegant umschifft (s. auch HB 4).

DREHORGEL-BEGLEITUNG

Ein für den Bänkelsang typisches Begleitinstrument war die Drehorgel, auch Leierkasten genannt, die auch heute noch als nostalgisches Relikt von Straßenmusikanten gespielt wird. Es handelt sich dabei um eine fahr- oder tragbare kleine Orgel, deren Pfeifen durch eine Kurbel mit Luft versorgt werden. Gleichzeitig dreht die Kurbel eine Stiftwalze oder Lochscheibe, die die Ventile zu den Pfeifen öffnet und dadurch das auf der Walze oder Scheibe „vorprogrammierte" Stück abspielt.5

Der dem Lied beigefügte Begleitsatz versucht, den typischen, nicht immer sauber gestimmten Drehorgel-Sound durch einförmig nachschlagende, zum Teil „gemäßigt dissonante" Akkorde auf das Schulinstrumentarium (Stabspiele) zu übertragen. Das hier und da gewollt „unsaubere" Klangbild wird durch kleine Spielfehler sogar noch authentischer. Es ist also nicht so schlimm, wenn einmal ein Ton nicht getroffen wird. Wenn Metallofone dazukommen, sorgen sie durch ihr Nachklingen für ein trüberes Klangbild, was durchaus gewollt ist. Selbstverständlich kann auch ein Keyboard verwendet werden. Verblüffend authentisch klingt es auf dem Keyboard, wenn man mit Panflöten-Sound spielt (ersatzweise eine andere Flöte). Rhythmisch versiertere SchülerInnen könnten übrigens das jeweils erste nachschlagende Achtel in jedem Takt als zwei Sechzehntel spielen, was noch etwas „echter" klingt.

EINE BÄNKELSANG-SZENE GESTALTEN

Es liegt nahe, dass sich ein Schüler, wenn Lied, Hintergrund und der Begriff Bänkelsang bekannt sind, als Sängerin auf ein Bänkel stellt und singt. Eine weitere Person singt mit und assistiert, indem sie mit einem Zeigestock auf zuvor angefertigte Plakate oder an die Tafel gezeichnete Bilder - eins fürjede Liedstrophe - deutet. Die übrigen SchülerInnen sorgen entweder an Instrumenten für die Begleitung oder singen als „Volk" die Wiederholung am Ende jeder Strophe mit. All diese Spielelemente können die SchülerInnen problemlos selbst finden und Vorschläge für ihre Realisierung machen. Die Lehrkraft braucht nur einen kleinen Impuls als Initialzündung zu geben. Ein Beispiel: „Unser Musikraum ist ein Marktplatz und hier steht ein Bänkel. Was brauchen wir noch?"

Sollten sich die SchülerInnen in Bezug auf das Solo-Singen zu Beginn einer Strophe zieren, so singen eben alle alles. Wenn die SchülerInnen engagiert bei der Sache sind und vielleicht selbst noch weitere Ideen für die Gestaltung des Spiels beitragen, kann man das Ergebnis bestimmt auch außerhalb des Unterrichts, z. B. bei einer schulischen Veranstaltung, vorführen.

ALLERLEI KÜNSTLERISCHES

Wenn genügend Zeit für eine breiter angelegte Unterrichtseinheit zum Lied Der Schneider von Ulm zur Verfügung steht, könnten noch die folgenden Vorschläge, die die Verbindung zum Nachbarfach Kunst herstellen, berücksichtigt werden:

* Der Erzähltext zur Geschichte des Schneiders von Ulm liefert die Vorlage für einen (ausführlichen) Comicstrip. Um keinen zu überfordern, sollte diese Aufgabe die Gemeinschaftsleistung einer Gruppe sein.

* Zu den vier Liedstrophen wird eine Bilderfolge bzw. ein Comicstrip gestaltet und entweder für das szenische Spiel verwendet (s. o.) oder im Musikraum oder an anderen Orten im Schulgebäude ausgestellt.

* Zu jeder Liedstrophe oder zu den Handlungsstationen im Erzähltext werden Szenen in Kartons - wie in einem Schaufenster - gestaltet. Hierbei können Papierpuppen und -kulissen, geeignete Spielzeugfiguren, Bastelmaterialien aller Art, erklärende Schilder usw. Verwendung finden. Solche „Schaukästen" können die Geschichte des Schneiders von Ulm, aber auch andere Lerninhalte des Musikunterrichts anschaulich wiedergeben. Sie dienen zugleich der Wiederholung von Inhalten sowie der Dokumentation des Unterrichts, und sie können, wenn sie öffentlich zugänglich gemacht werden, bei den BetrachterInnen Interesse und Neugier gegenüber dem Musikunterricht wecken.

Albrecht Ludwig Berblinger hieß der Mann, der durch seine Begeisterung für das Fliegen und einen missglückten Flugversuch im Jahr 1811 als „Schneider von Ulm" in die Geschichte einging. Am Beispel des Lieds „Der Schneider von Ulm" können die SchülerInnen im Muskunterricht einen Blick zurück in jene Zeit werfen, als es die modernen Kommukikationsmittel noch nicht gag.

1 vgl. den Artikel „Bänkelsang", in: Willibald Gurlitt und Hans Heinrich Eggebrecht: Riemonn Musiklexikon, Sachteil, Mainz 1967, S. 71 f.

  • 2 vgl. Gustav Schulten (Hg.): Der große Kilometerstein, Wolfenbüttel und Zürich / Bad Godesberg7 1962, S. 74 ff.
  • 3 vgl. Johannes Holzmeister: Carmina historica, Boppard/ Rhein 1965, S. 52, die Wikipedia-Artikel „Albrecht Ludwig Berblinger" und „Jakob Degen (Erfinder)" sowie die Internetseite http://tourismus.ulm.de > Ulm/Neu-Ulm Infos > Persönlichkeiten > Aibrecht Ludwig Berblinger.
  • 4 zit. nach Holzmeister: Cormina historica, a. a. 0., S. 52.
  • 5 vgl. den Artikel „Drehorgel", in: Willibald Gurlitt und Hans Heinrich Eggebrecht: Riemann Musiklexikon, Sachteil, Mainz 1967, S. 242.

Arbeitsblätter

Die Geschichte vom Schneider von Ulm - S. 23

Der Schneider von Ulm - S. 24

Hörbeispiele - CD

HB 4: Der Schneider von Ulm - Playback

schott-musikpädagogik.de

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By WOLFGANG KOPERSKI

Titel:
Wenn auch die Kräfte versagen….
Autor/in / Beteiligte Person: KOPERSKI, WOLFGANG
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2011-04-01, Heft 2, S. 20-22
Veröffentlichung: 2011
Medientyp: serialPeriodical
ISSN: 0027-4747 (print)
Schlagwort:
  • LESSON planning
  • FOLK songs
  • DER Schneider von Ulm (Music)
  • HISTORY
  • Subjects: LESSON planning FOLK songs DER Schneider von Ulm (Music) HISTORY
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: When Strength Fails...
  • Language: German
  • Document Type: Lesson Plan
  • Full Text Word Count: 1992

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