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Sechs Kurzfilme -- Exposés.

In: Musik und Bildung, 2010-10-01, Heft 4, S. 55-57
Online review

Sechs Kurzfilme -- Exposés 

ARBEITSBLATTER

Welche musikalischen Ausschnitte der Symphonie fantasique wurden von den Filmemachern ausgewählt und welche Bedeutung haben sie für den Handlungsverlauf? WIE DIE ZEIT VERGEHT!?

3'23" zum Thema Wahrnehmung

Es ist der morgendliche Trott, in den das Mädchen verfallen ist: Wecker, Gähnen, Aufstehen, Zähneputzen, Anziehen, Essen, raus, zur Schule - und das alles möglichst schnell, weil sie, wie immer, viel zu spät dran ist. Doch diesen Morgen wird sie vor ihrer Haustür vom strahlenden Neuschnee überrascht und für einen kleinen Augenblick läuft alles etwas anders ab …

Der Film Wie die Zeit vergeht!? visualisiert, was man nur selten erlebt: Die unmittelbare Konfrontation von Zeit und Dauer. Zeit als strukturierter, vorhersehbarer und schneller Ablauf von Episoden, dessen Funktionen klar sind (z. B. zuerst duschen, dann anziehen). Dauer hingegen als erlebter Moment von „langer Weile" - im ursprünglichen Sinn (z. B. das kurze, aber als lang empfundene Träumen beim Anblick des Neuschnees).

Dasselbe Thema entdeckt man auch in der Symphonie fantastique von Berlioz. So ist der 2. Satz geprägt von musikalischen Abschnitten, dessen Funktionen und Bedeutungen eindeutig sind. Es gibt eine Einleitung, einen Mittelteil und schon mehrere Takte vor Schluss bemerkt man, dass der Satz gleich zu Ende geht. Der zeitliche Ablauf ist somit klar und lässt keine Fragen offen.

Im 3. Satz hingegen wird die Zeit zur Dauer. Richtung und Intention von Melodien werden undeutlich, und man hört keine klare Form. Der Zuhörer verliert sich in der Freiheit „auf dem Lande". Die Filmmusik bedient sich an entsprechenden Stellen des 2. und 3. Satzes. Durch geschickte Schnitte zu passenden Harmonie-und Melodiewechseln werden die auditive und die visuelle Ebene miteinander vereint. So entspricht die Zeit der Wirklichkeit und die Dauer dem Traum.

Raphael Legrand

SEELENKLANG 3'25"

Der Komponist Hector Berlioz macht in seiner Symphoniefantastiquedeutlich, wie ihn die unglückliche und unerfüllte Liebe zu einer Frau in die hoffnungslose Verzweiflung treibt. Die anfänglich verspürte Liebe schlägt um in Hass. Diese Entwicklung vertont Berlioz eindrucksvoll in fünf Sätzen und gewährt dem Zuhörer Einblicke in seine innersten Seelenzustände.

Der Film Seelenklang stellt in ähnlicher Weise eine Art Psychogramm dar. Was geht in diesem Mann vor, der zunächst im Rausch der Liebe ein unendliches Glücksgefühl erlebt und dann mit ansehen muss, wie sich seine Angebetete von ihm abwendet und sich mit einem anderen Mann verlobt? Er ist zutiefst gekränkt, machtlos, verzweifelt und versinkt in Selbstmitleid. Sogar die mahnenden Versuche seines LJnterbewusstseins, sich gegen diese Demütigung und Kränkung zur Wehr zu setzen und sich dafür zu rächen, können den Protagonisten nicht aus seiner tiefen Verzweiflung hervorholen. Mit Tabletten und Alkohol betäubt und ertränkt Berlioz seinen Schmerz und sein kaum noch vorhandenes Selbstwertgefühl. Zurück bleibt ein einsamer, kranker und zerstörter Mensch.

Der Bildschirm ist in drei Teile eingeteilt, in denen parallel jeweils eine Ebene der Handlung gezeigt wird. Die unterschiedlichen Ebenen stehen nicht nur in einem inhaltlichen Bezug zueinander, sondern reagieren aufeinander und kommunizieren sogar miteinander - eine besondere Herausforderung für die technische Umsetzung, da z. B. die Darstellerinnen beim Sprechen in die richtige Richtung schauen und zu bestimmten Zeitpunkten mimisch und gestisch agieren müssen. Die musikalische Unterlegung bilden passende Themen aus der Symphonie fantastique, die sich zum Ende hin überlagern. In der Musik vereinen sich schließlich collageartig die drei Ebenen des Films.

Ole Oltmann

TANZEN IST TRÄUMEN MIT DEN FÜSSEN 3'51"

Eine leere Buchseite wird durch die Geschichte einer Tänzerin zum Leben erweckt. Das Buch erzählt die Erlebnisse einer Frau, deren Erscheinungsbild und Charakter sich von einer schönen, anziehenden und doch unnahbaren Person in eine angsteinflößende, aufdringliche Hexe verwandeln. Verwaschene Konturen und farblose Bilder gewinnen mit der Zeit an Schärfe. Musik und Tanz bilden eine symbiotische Einheit.

Es ist die Geschichte der Symphonie fantastique von Hector Berlioz. In den Träumen des Komponisten verwandelt sich seine bezaubernde Geliebte in eine für ihn bedrohliche Hexe. Die Geliebte erscheint dem Zuhörer als personifizierte Melodie, die wie eine fixe Idee in jedem Satz der Sinfonie in veränderter Form auftritt. Im Film wird diese Idee fixe durch eine Balletttänzerin dargestellt. Durch sie erfahren die musikalischen Emotionen eine visuelle Darstellung und Unterstützung. Die ausgewählte Filmmusik beruht daher ausschließlich auf der immer anders anmutenden Idee fixe aus den fünf Sätzen der Sinfonie.

Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sind in der Sinfonie fließend. Während die personifizierte Melodie einerseits immer gefährlicher und realer erscheint, rückt die Handlung des Programms in immer abstrusere Gefilde ab. Von Drogen berauscht träumt der Protagonist, seine Geliebte zu ermorden und anschließend von ihr auf seiner eigenen Hinrichtung als Hexe verfolgt zu werden. Ähnlich wie in der Sinfonie sind die Übergänge zwischen Realität und Traum im Film verwaschen. Die Verwandlung der Idee fixe in Berlioz' Sinfonie und damit die entsprechende Verwandlung der Beziehung zwischen zwei Personen ist eine Thematik, die den Bezug zur Lebenswelt der SchülerInnen unterstreicht und die Motivation zur Auseinandersetzung mit der Musik fördert.

Kaja Fischer

L'ENFER, OU NON? 4'21"

Das „Dies Irae" der Symphonie fantastique bildet die Grundlage für den Handyfilm, und zwar einerseits als eindeutige Darstellung der Situation einer Totenmesse, andererseits aber als Hinführung zu den Themen Jüngstes Gericht, Fegefeuer, Himmel oder Hölle.

Das „klassische" Dies Irae in Verbindung mit den Aufnahmen der Kirchendecke zu Beginn, verdeutlicht die Situation einer Trauerfeier, anschließend erklingt das DiesIrae-Thema aus dem fünften Satz im Freien. Der marschartige Blechbläserklang unterstützt die Gedanken an das immer zügigere Näherrücken des Endes. Durch seine verfremdete Art wird der Bezug zu Fegefeuer und Jüngstem Gericht immer stärker, der Glaube und das Vertrauen in Gottes Erbarmen und die kirchlichen Gebete sind hier im Freien verloren. Diese erste Andeutung der Frage „Was geschieht mit mir nach dem Tod?" schlägt einen Bogen zu dem Ansehen von Musikern zur Zeit Berlioz'. Das unter anderem durch die französische Revolution geprägte negative Image von Musikern zur damaligen Zeit soll vor allem durch die Stimme von Berlioz' Mutter zum Ausdruck kommen. Ausgerechnet diese hochreligiöse Frau bezeichnete ihren Sohn als Sünder, verfluchte ihn und wünschte diese verworfene Kreatur in die Hölle. Dies lässt natürlich daraufschließen, dass der Tote Berlioz selber ist. Zum Ende schließt sich selbst das kleinste Loch, und die Angst vor der Entscheidung über das Leben nach dem Tod wird spürbar. Hoffnungen an Erbarmen und die Kraft des Glaubens vermischen sich mit dem Gedanken an den brutalen Ausruf der Mutter: „Du verworfene Kreatur bist für die Hölle bestimmt". Die Meinung der Mutter umrahmt den Film. Es scheint so, als würden die Verfluchungen der Mutter wahr werden. Schließlich wird der Weg durch die allerletzte Tür angetreten …

Die prägenden Elemente des Films, wie z. B. das zweifarbige Kreuz, das sich während des Films verwandelt, oder das dreimalige Glockenläuten, wurden mit bestimmten Intentionen und Verbindungen zur Musik eingesetzt, die den Zuschauer zum Denken und Interpretieren anregen könnten.

Vor allem das Filmen per Handy eröffnete bestimmte Methoden, wie z. B. das in eine Plastiktüte eingewickelte Handy mit Erde zu bedecken. So entstanden während des Films unbeabsichtigte Effekte (z. B. die ins Himmelreich führende Tür), die im Film genutzt werden konnten und somit immer mehr und andere Ideen hervorriefen.

Johanna Reh

IN (E) MOTION

Zwischen Licht und Schatten. 4'07"

Zwei Männer umgarnen eine schöne Tänzerin auf unterschiedliche Art und Weise. Sie scheinen Konkurrenten zu sein, der eine glücklich, der andere unglücklich. So viel verraten die englischen Untertitel über die Handlung des Kurzfilms In (E) motion. Nach einem kurzen Innehalten verschärft sich das Hin und Her und eskaliert schließlich. Der Zuschauer verliert den Überblick, welche tänzerische Bewegung welchem Charakter zuzuordnen ist. Die Bildwechsel erfolgen in rasantem Tempo. Es wird geschubst, gezogen, gedreht, es kommen neue Schatten dazu, jemand ist ohnmächtig. Die schöne Tänzerin wirkt plötzlich hexenhaft, angsteinflößend, nahezu aggressiv.

Ebenso wie Berlioz spielt dieser Film mit dem Ausbruch aus der Verständlichkeit, der Übersichtlichkeit und der eindeutigen Interpretation. Es ist eben nicht (nur) eine melodramatische Liebesgeschichte, die hier zum Programm gemacht wird; der Film drückt in erster Linie innere Konflikte ein und derselben Person aus: Der Protagonist ringt mit sich selbst, seinen Gefühlen und begehrt Widersprüchliches.

Auch in der Sinfonie wird der Konflikt offenkundig: Der 2. Satz hat einen geregelten Ablauf, die Interpretation fällt dadurch leicht. Der 5. Satz bricht mit der Konvention, ist instabil und sperrig, verschiedene Motive verstricken sich, es gibt keine klare Linie, kein Schwarz-Weiß.

Fiona Wöbking

AMULETT DER ERINNERUNG 4'08"

Jeder von uns kennt dieses Phänomen: es genügt ein Geruch, ein Lied, die Stimmung des Lichts zu einer bestimmten Tageszeit. Und plötzlich arbeiten die Synapsen unseres Gehirns auf Hochtouren und die Erinnerung bricht ganz unvermittelt in unseren Alltag ein. Vergangene Bilder und Emotionen überlagern die Wirklichkeit und lassen uns wie in einem Tagtraum noch einmal in die Vergangenheit eintauchen. Der Film erzählt auf eine sehr anrührende Weise von dieser Erfahrung: Ein Mädchen findet ein Amulett. Dieses Amulett ist der Auslöser für eine Folge von Erinnerungssequenzen, die sich alle um ein zentrales Motiv drehen: die beste Freundin des Mädchens und schöne Erlebnisse mit ihr.

Der Wechsel von harmonischer Erinnerung und Wirklichkeit verdichtet sich im Verlauf des Films immer weiter, bis zu dem Punkt, wo die Handlung und damit die Erwartung des Zuschauers auf den Kopf gestellt wird. Der Film kommt zum Stillstand, und wie in Zeitlupe sieht man das Mädchen durch die Pforte eines Friedhofs gehen. Der Film endet am Grab der besten Freundin, wo das Mädchen das „Amulett der Erinnerung" niederlegt. Erinnerung und Wirklichkeit sind die beiden Konstituenten der Handlung dieses Films. Diese beiden Ebenen sind in der filmischen Umsetzung in zweifacher Hinsicht präsent. Auf der Bildebene sind alle Erinnerungssequenzen durch einem Aquarellfilter gekennzeichnet, um sie deutlich von den realen Sequenzen zu unterscheiden. Das eigentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Wirklichkeit und Erinnerung aber liegt in der Tonspur. Hier haben die SchülerInnen einen melancholischen Song von Damien Rice (9 Crimes) mit einer träumerisch schwelgenden Passage aus dem ersten Satz der Symphonie fantastique von Berlioz kombiniert. Allen Erinnerungssequenzen liegt die Berlioz-Musik zugrunde. Durch die weit gespannte Melodie der Hörner bekommen die harmonischen Bilder eine noch größere Ruhe und Tiefe. In den realen Passagen erklingt hingegen der Song von Rice, der durch seine Melancholie für den Zuschauer anfangs in gewisser Diskrepanz zu den Bildern steht. Durch diesen Kunstgriff gelingt es, dass sich der Bruch in der Mitte des Films (die Pforte des Friedhofs) unbewusst bereits ankündigt, weil die melancholische Musik den eigentlich neutralen Bildern der Wirklichkeit eine Richtung auf das Ende des Films hin gibt.

Abgesehen von den technischen Kompetenzen (Film- und Tonschnitt), die die SchülerInnen erworben haben, hat sich aus musikpädagogischer Sicht ein Erfolg eingestellt, der sonst nur selten wirklich erreicht werden kann: Auf der Suche nach geeigneter Musik, die in überzeugender Weise die eigene filmische Idee musikalisch stützen kann, haben die SchülerInnen die gesamte Symphonie fantastique unzählige Male gehört und sich mit dieser Musik in besonderer Weise verbunden.

Daniel Derscheid

Titel:
Sechs Kurzfilme -- Exposés.
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2010-10-01, Heft 4, S. 55-57
Veröffentlichung: 2010
Medientyp: review
ISSN: 0027-4747 (print)
Schlagwort:
  • FILM reviewing
  • SHORT films
  • STUDENT projects
  • BERLIOZ, Hector, 1803-1869. Symphonie Fantastique
  • Subjects: FILM reviewing SHORT films STUDENT projects BERLIOZ, Hector, 1803-1869. Symphonie Fantastique
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Six Short Films -- Reports.
  • Language: German
  • Document Type: Entertainment Review
  • Full Text Word Count: 1769

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