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Singen in der Schule als existenzielles Kulturgut.

In: Musik und Bildung, 2012-04-01, Heft 2, S. 52-53
Online serialPeriodical

Singen in der Schule als existenzielles Kulturgut  Magnus Gaul für MUSIK & BILDUNG im Gespräch mit Robert Göstl

Frühkindliche (Vor-) Singerfahrungen, die ein natürliches Verhältnis zur eigenen Stimme begünstigen, können nicht ersetzt werden. Dennoch sollten alle ErzieherInnen und Lehrerinnen grundlegend im Singen mit Kindern ausgebildet werden - einerseits, um ein Wissen um die Kinderstimme zu vermitteln und so stimmschädigende Fehler zu vermeiden, andererseits, um die Wertschätzung des Singens zu fördern.

* MUSIK & BILDUNG: Das Singen in Freizeit und schulischem Unterricht hat in der Erziehung unserer Kinder wieder einen hohen Stellenwert. Warum ist dieser Sachverhalt so entscheidend?

* Robert Göstl: Singen müsste aus verschiedenen Gründen einen höheren Stellenwert in der Schule haben, und mehr Kinder müssten in Chören singen, in denen sich der Stellenwert ja von selbst ergibt.

Noch wichtiger scheint mir die Differenzierung, wie mit Kindern gesungen wird. Singen per se ist nicht gut oder schlecht, genauso wie Sport per se nicht gut oder schlecht ist. Wenn gemeinschaftliches Singen sich in jeder Beziehung am Wohl des Kindes orientiert, ist es für die körperliche, geistige und seelische Entwicklung förderlich und damit wertvoll. Viele engagierte und verantwortungsvolle Musiklehrerlnnen und Chorleiterlnnen arbeiten nach diesen Grunderkenntnissen und sind so ein Segen für die ihnen anvertrauten Kinder.

Aber Gegenbeispiele lassen sich zahllos anführen: stimmschädigende Singlagen und -lautstarken, banale und an der Grenze zum sprachlichen Nonsens lavierende Texte, gefühlloser Drill zu technischer Perfektion - die Liste könnte lang werden! Wie gesungen wird, ist in Chor und Schule von der Qualifikation des Leiters abhängig. Da geschieht schon sehr viel, es muss aber noch viel mehr geschehen.

* MUSIK & BILDUNG: Beleuchten wir das Singen doch einmal in der Erziehung der Kinder. Da haben wir zunächst das Elternhaus und die Begegnung im Kindergarten.

* Göstl: Ohne ausführlich die mittlerweile vorliegenden Studien zitieren zu müssen, leuchtet jedem ein: Die frühesten Begegnungen sind in jedem pädagogischen Zusammenhang und auf jedem Lernfeld die wichtigsten. Das gilt für die Sprache genauso wie für die Bewegung und auch für das Singen. Liebevoll von Eltern oder Großeltern gesungene Schlaflieder, Geschwister aus der Schule heimkommend mit einem Lied auf den Lippen, Spaßlieder oder gesungene Geschichten als Zeitvertreib auf langen Autofahrten oder bleibende Eindrücke am Lagerfeuer im Urlaub - solche Erlebnisse können, wenn sie fehlen, durch keine Sing- und Chorpädagogik der Welt ersetzt werden, denn Singen wird dadurch als völlig selbstverständlich und dem Leben zugehörig erfahren. Natürlich sind der Kindergarten und die dortigen Singerfahrungen sehr wichtig, aber genau genommen muten wir den Erzieherlnnen wie auf vielen Feldern eine Reparaturmaßnahme zu, die bereits im Kleinkindalter entstandenen Defizite auszugleichen. Wenn nun diese Erzieherlnnen zusätzlich unsicher im Umgang mit der eigenen Stimme sind und für die Anleitung nicht oder kaum ausgebildet wurden, ist die Übernahme dieser Verantwortung kaum durchführbar. Hier möchte ich bewusst eine Lanze für die Kindergärtnerlnnen brechen: Viele spüren und erkennen deutlich, wie wichtig das Singen ist, und bilden sich teilweise auf eigene Kosten fort. Viele Einrichtungen setzen in ihrem Profil bewusst auf die musischmusikalische Komponente und werden auf verschiedenste Weise zertifiziert. Hier tut sich viel und wir sollten alle ermutigen und unterstützen, die sich diesen Herausforderungen zu stellen.

* MUSIK & BILDUNG: Im Kern liegt doch in der schulischen Ganztagsbetreuung von Schülerlnnen eine gute Chance zur Bildung von Chören und anderen musikalischen Aktivitäten. Wie müsste Ihrer Einschätzung nach eine effektive Gestaltung aussehen?

* Göstl: Vor allem müssen die Leiterlnnen solcher Angebote möglichst gut qualifiziert sein. Ob das schuleigene Kräfte sind oder ob man diese Aufgaben delegiert, ist eine zweite Frage. Dann haben allgemein bildende Schulen den speziellen Auftrag, ihre Angebote allen Kindern zugänglich zu machen. Wenn in AGs wieder diejenigen mitwirken, die ihre Freizeitaktivitäten kaum ohne „Chauffeur" und „Sekretärin" bewältigen können, fördern wir die falschen Kinder. Und dann liegt in der Chance auch eine große Gefahr, denn durch die Entwicklung hin zur Ganztagsschule ringen bestehende außerschulische Angebote, die teilweise jahrzehntelang eine tolle Breitenoder auch Spitzenarbeit geleistet haben, um ihre Existenz, weil die Kinder einfach keine Zeit mehr haben. Das halte ich für eine absolut fatale Entwicklung! Einfachste Maßnahmen, wie z. ß. die Anerkennung außerschulischer Aktivitäten als AG, lassen auf sich warten. Der erste Schritt sollte doch die Unterstützung unserer vorhandenen Kulturträger sein! Der Erhalt gesunder Substanz und deren Integration in neue schulische und damit gesellschaftliche Strukturen sind sträflich vernachlässigte staatliche Aufgaben.

* MUSIK & BILDUNG: Das Fach Musik unterliegt aufgrund der Überbetonung vermeintlicher „Hauptfächer" im Kontext Schule massiven Einschnitten. Die Konsequenzen sind nicht nur im zeitlichen Engagement der Kinder spürbar.

* Göstl: Wertschätzung teilt sich Kindern und Jugendlichen im Positiven wie im Negativen auf teils sehr subtile Weise mit: ungeliebte Randstunden im Stundenplan, frustrierte Künstler, die eigentlich nie Lehrer werden wollten, aber auch die latent durchschimmernde Angst mancher Pädagogen, ob denn Musik und Singen heute überhaupt noch vermittelbar seien. Die Probleme liegen wahrlich nicht nur in der Anzahl verfügbarer Stunden. Aber natürlich liegen sie auch hier: Wer den ganzen Menschen bilden und nicht nur ausbilden will und dabei alles Musische in eine Stunde pro Woche „pfercht", wird diese existenziellen Bedürfnisse des Menschen weiter in einen exotischen, nur für wenige dauerhaft zugänglichen Bereich verbannen.

* MUSIK & BILDUNG: Einige Kinder sind besonders in ihrer Freizeit von neuen Medienangeboten angetan und erleben einen spielerischen Zugang auch zum Singen und zur Musik. Wie ist diese Beschäftigung aus der Sicht des Kinderchorleiters zu bewerten?

* Göstl: Alles, was einen echt spielerischen Zugang zur eigenen Stimme anregt, ist zu begrüßen. „Spielen" bedeutet das Ausloten eigener Fähigkeiten, nicht aber das Imitieren faszinierender, außerhalb der eigenen Möglichkeiten liegender Idole. „Spielen" bedeutet gleichzeitig Freude, nicht ein in die Kindheit verlagertes Streben nach oberflächlicher Anerkennung. Die eigene Stimme zu finden, bedeutet auch, stimmlich gesund zu agieren, vor allem aber in die Tiefe der Seele vorzudringen. Dazu wiederum braucht es Anregungen, die dies fördern oder zumindest zulassen. Was kindgerecht ist, wird immer umstritten bleiben. Aber man muss die Akzeleration nicht in jeder Hinsicht und auf Äußerlichkeiten fokussiert vorantreiben. Insofern sollte man diese Modetendenzen fördern, wo sie gesund sind, man muss aber auch warnen, wenn Singen eigentlich nur Mittel zum Zweck ist. Das ist bei manchem Wettbewerbschor übrigens nicht besser als in den Medien.

* MUSIK & BILDUNG: Die Schule ist der Ort, an dem die Kinder interessiert und auch für eine weiterführende Chorarbeit begeistert werden müssten. Welche Voraussetzungen sind dazu erforderlich?

* Göstl: Wenn in den Elternhäusern keine Affinität zum Singen oder zumindest Interesse an einer fundierten musikalischen Ausbildung besteht, werden sich die Schulen schwertun. Je jünger die Kinder sind, desto größer sind die Chancen. Deshalb müssen alle Lehrkräfte an Grundschulen eine grundlegende Ausbildung im Singen mit Kindern bekommen, damit dies nicht in Spezial- oder Nischenstunden stattfindet, sondern in den Schulalltag und in alle anderen Fächer - besonders in die Sprachen - eingebettet wird. Darüber hinaus müssen bereits im elementaren Bereich hochqualifizierte Fachlehrerlnnen Musikunterricht geben und speziell ausgebildete Lehrkräfte Schulchöre in jeder Schule anbieten. Das wäre auch der Ort für Fachleute von außen. Die wichtigste Qualifikation ist dabei das Wissen um die Kinderstimme und deren unglaubliche Leistungsfähigkeit; gleich dahinter kommt meiner Meinung nach die Notwendigkeit, eine große Bandbreite an Liedern von alt bis neu usw. anzubieten. Kinder brauchen den Anreiz der Qualität, um sich später einer anspruchsvollen Chorarbeit öffnen zu können.

In den höheren Schulen kommt zu den eben geforderten Qualitäten der Leiterlnnen vor allem die soziopsychologische Komponente: Chorsingen braucht echte Anerkennung und Unterstützung im Schulleben und von allen Lehrkräften. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es meine wichtigste Aufgabe als Hochschullehrer ist, meinen Studierenden das Selbstbewusstsein zu vermitteln, das sie brauchen, um - den realen oder gefühlten Widerständen zum Trotz - das zu tun und zu vermitteln, was sie lieben.

* MUSIK & BILDUNG: Kann oder sollte man eine Prognose wagen, wie die Entwicklung des Singens in Zukunft aussieht? Welche konstruktiven Ansätze, welche Wege lassen sich von administrativer Seite vorgeben, um Singen mit Ideen zu besetzen und motivierend auf Kinder einzuwirken?

* Göstl: Eine Prognose vorzugeben, ist sicher ein schweres Unterfangen, zu vielfältig sind die nötigen Differenzierungen bezüglich der betroffenen Lebensalter, der jeweiligen soziokulturellen Umgebung, der Bandbreite zwischen Singanimation in der Klasse und semiprofessionellem Anspruch in herausragenden Kinder- und Jugendchören. Besonders um Letztere ist mir am wenigsten bange. Es werden sich immer Menschen finden, die mit gut vorgebildeten, womöglich ausgewählten und hoch motivierten jungen Menschen Spitzenleistungen erarbeiten wollen. Ob hingegen die Tendenz zur Banalisierung im Vor- und Grundschulbereich aufzuhalten oder zu modifizieren ist, vermag ich nicht zu sagen.

Aber welche Ansätze und Wege zu pflegen sind, liegt klar auf der Hand: Aus einer Wertschätzung des Singens als existenzieller Kulturfähigkeit heraus müssen die Verantwortlichen in der Bildungspolitik, der Schuladministration und in den Hochschulen der vokalen Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte breiteren Raum und Zeit geben. Eine zu große Spezialisierung von Lehrkräften an allgemein bildenden Schulen verhindert den Auftrag des voraussetzungsfreien Zugangs aller Kinder und Jugendlichen zum natürlichen und persönlichkeitsfördernden Singen. Solange wir jedoch um Selbstverständliches so sehr ringen müssen, so lange ist kein Normalzustand erreicht.

Robert Göstl ist Chorleiter, Autor, Referent und seit 2008 Professor an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Bekannt sind seine Publikationen Singen mit Kindern (ConBrio, 1996) sowie sein Lehrwerk Chorleitfaden (ConBrio, 2006/2008). Er ist Leiter des Deutschen Jugendkammerchors und Vorsitzender der Deutschen Chorjugend e. V.

Titel:
Singen in der Schule als existenzielles Kulturgut.
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2012-04-01, Heft 2, S. 52-53
Veröffentlichung: 2012
Medientyp: serialPeriodical
ISSN: 0027-4747 (print)
Schlagwort:
  • GOSTL, Robert
  • SINGING
  • MUSIC & children
  • MUSIC education
  • SCHOOL music instruction
  • GERMANY
  • Subjects: GOSTL, Robert SINGING MUSIC & children MUSIC education SCHOOL music instruction
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: Singing in School as an Existential Cultural Good.
  • Language: German
  • Document Type: Interview
  • Geographic Terms: GERMANY
  • Full Text Word Count: 1519

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