Zum Hauptinhalt springen

Zukunft der Musik -- Zukunftsmusik.

NIMCZIK, ORTWIN
In: Musik und Bildung, 2012-07-01, Heft 3, S. 10-17
Online serialPeriodical

Zukunft der Musik -- Zukunftsmusik 

* Welche Zeitdimension ist wohl die bedeutsamste? Die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft? Über diese Frage ließe sich sicherlich extensiv diskutieren, möglicherweise gar streiten. Für die einzelnen Argumentationsmuster wären ohne Zweifel zunächst einmal individuelle Erfahrungen bestimmend. Aber auch geläufige und verallgemeinernde Denkmuster könnten die Auseinandersetzung beflügeln, z. B.: Wir müssen endlich aus der Vergangenheit lernen; wir dürfen die Gegenwart nicht einer Ungewissen Zukunft opfern; oder: wir sollten für eine bessere Zukunft kämpfen.

„Vergegenkunft" - so nennt Günter Grass eine weitere Zeitdimension, die für sein literarisches Schaffen eine wesentliche Bedeutung gewonnen hat. Sie hebt die vertraute Strukturierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichsam auf und signalisiert das wechselseitige Durchdringen der Dimensionen. Zugleich stellt diese vierte Dimension unsere Vorstellung einer vermeintlich unproblematischen Chronologie bewusst in Frage. Glauben wir uns einerseits im regelhaften Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gefangen, so verdeutlicht schon das Nachdenken über allgemeine Alltagserfahrungen, dass der Zwang zur Chronologie gerade nicht absolut ist. Das reversible Durchdringen bis hin zur fundamentalen Gleichzeitigkeit leuchtet dann auf.

Blickt man auf die Musik, so ist ihr, als so genannter Zeitkunst, die Referenz auf die traditionellen Zeitdimensionen per se eigen. Hinzu kommt, dass im Verlauf der Historie und in ganz unterschiedlichen Proportionierungen die Musik der Vergangenheit gepflegt oder schlicht vergessen, die der Gegenwart weitaus mehr verachtet als geliebt und die Musik der Zukunft zwar häufig intensiv beschworen, aber in letzter Konsequenz für nicht gewollt erklärt wurde. (Ein Rezeptions-Phänomen, das auf andere Künste leicht übertragbar ist.) Gerade nun im Blick auf Musik und Zukunft liefert uns unsere Sprache eine Zusammenfügung, die den gemeinten Kontext überaus aspektreich ausdrückt: Zukunftsmusik. Etabliert im engen Sinne hat sich der Begriff zunächst in den polemischen Reaktionen der Gegner Richard Wagners, vor allem bezogen auf seine Schrift Kunstwerk der Zukunft von 1850.1 Im Laufe der Zeit bezeichnet er im übertragenen Sinne Pläne, Dinge, Ereignisse etc., die schlicht noch in weiter Ferne liegen und möglicherweise nie erreicht oder in Erscheinung treten werden.

Die Frage nach dem, was nun die Zukunft der Musik, was Zukunftsmusik ist, stellt sich im existenziellen Sinne für die Musik, zumindest für bestimmte Sektoren, bezogen auf ihre Nutzung, ihre Verbreitung oder Nichtverbreitung und unter ökonomischen Aspekten, sehr dringlich. Hier steht vieles auf dem Spiel! Zugleich ist das Stichwort Zukunftsmusik auch eine Triebfeder künstlerisch ästhetischer Entwicklung. Interessant dabei sind besonders die Kontexte, z. B. im Blick nach vorne oder im Blick zurück: Welche Momente der Gegenwart und der Vergangenheit sind bestimmend für diese Zukunftsvision? Was ist in Rückschau aus einer Zukunftsidee geworden? etc. In diesem angedeuteten Sinne lebt Zukunftsmusik also aus der Wechselwirkung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hierüber nachzudenken soll im Folgenden anhand von vier thematischen Impulsen angeregt werden. Ausgangspunkt dafür ist im Allgemeinen das Stichwort Zukunftsmusik, musikbezogen jeweils ein spezifischer Aspekt, eine Perspektive oder eine Vision von Zukunft, die im Sinne der Rückschau eröffnet und im Blick auf Gegenwart und Zukunft ausgeleuchtet werden kann. Der ständige Wechsel der Perspektiven dabei führt (möglicherweise) zu einer Annäherung an das, was sich als „Vergegenkunft" der Musik bezeichnen ließe.

IMPULS 1 - DER „ANBRUCH EINES NEUEN MUSIKALISCHEN ZEITALTERS"!?

Im Blick auf die Zukunft spiel(t)en technische Entwicklungen, z. B. von Maschinen, eine wichtige Rolle. Das Nachdenken hierüber zeitigt häufig eine Janusköpfigkeit, die sich in den Extremen von uneingeschränkter Begeisterung bzw. skeptischer Ablehnung artikuliert. Vergessen die einen, dass technischer Fortschritt, fokussiert auf mechanische Präzision oder höchste Geschwindigkeit, nicht per se segensreich, sondern zugleich immer auch Verhängnis ist oder werden kann, so blenden die intensiven Kassandra-Rufe der anderen, die beispielsweise vor dem Verlust des menschlichen Faktors warnen, die Perspektiven potenzieller Verbesserungen vollends aus. Zu bedenken bleibt, dass Maschinen nicht ausschließlich instrumentellen Status haben und sich so oder so handhaben lassen. Sie sind immer auch auf die Selbstentwürfe der Menschen bezogen, deren Vorstellungen sie gleichsam spiegeln.2 Das beginnende 20. Jahrhundert ist ein Zeitabschnitt, in dem Fragen nach der Zukunft in allen Lebensbereichen besonders virulent wurden. Das betraf die allgemeinen menschlichen Lebensbedingungen und Gegebenheiten ebenso wie die technische Weiterentwicklung, aber auch die kunsttheoretische Diskussion. Erste avantgardistische Bewegungen, wie beispielsweise der italienische Futurismus, zirkulierten und fanden Widerhall auch bei verschiedenen Komponisten in Deutschland. Die Relation zwischen Technik und Musik wurde dabei zu einer zweifachen Herausforderung: „zum einen bezogen auf das allgemein Neue, das in Form von technischen Apparaten und Verfahren das Leben veränderte; zum anderen wird gefragt, wie die Komponisten ihrerseits die Technik in ihren neuen Möglichkeiten herausgefordert haben".3 Volker Scherliess weist in diesem Kontext auf ein Gedicht Rainer Maria Rilkes aus dem Jahr 1922 hin (vgl. Kasten und HB 1). Es entstammt dem ersten Teil der Sonette an Orpheus (XVIII) und thematisiert als eines der so genannten „Maschinen-Sonette" (vgl. auch Teil II Sonett Nr. 10 sowie partiell I 24) Rilkes Skepsis gegenüber dem Technischen und Maschinellen. Das „Neue" kommt bedrohlich nahe, es „dröhnt" und „bebt", ein „heil(es) Hören" ist schier unmöglich. Die Maschine „entstellt und schwächt" den Menschen. Zwar fungiert dieser als Macher und es scheint, „„„als habe der menschliche Wille die Maschine installiert, es steht aber zu befürchten, dass der menschliche Wille allein nicht imstande sein wird, ihren Herrschaftsanspruch einzudämmen".4 Die Interpretation und Diskussion des Gedichts kann den Problemhorizont öffnen und im Wechselbezug der Zeitdimensionen wie bezogen auf jeden Einzelnen deutlich werden lassen.

Was sich bei Rilke im literarischen Medium als Skepsis gegenüber der Technik artikuliert, zeigt sich nahezu zeitgleich im Bereich der Komposition eher als explizite Begeisterung für die Möglichkeiten einer Musik, die mittels mechanischer Reproduktion spezifische Möglichkeiten eröffnete. Im Zusammenhang mit der Programmerstellung für die Donaueschinger Musiktage5 im Jahr 1926 entwickelte eine Gruppe junger Komponisten ihre Zukunftsvision und plante Stücke für mechanische Musikinstrumente. Dazu zählten u. a. Paul Hindemith und Ernst Toch, die von der Idee einer eigenständigen mechanischen Musik besonders fasziniert waren. In Grundlagentexten versuchten sie, die Spezifika und Qualitäten dieser durchaus umstrittenen „Zukunftsmusik" herauszuarbeiten, aber zugleich die Grenzen und Probleme mit zu benennen. Im Zentrum dabei stand, zumindest aus der Sicht Hindemiths, die Qualität des musikalischen Inhalts. Diesem werden jedoch durch die erweiterten Dimensionen der Präzision, die über die menschlichen Fähigkeiten hinausgehen, und der tendenziell objektivierten Wiedergabemöglichkeiten der Musik neue Spielräume geöffnet (vgl. blauer Kasten und Arbeitsblatt „Mechanische Musik").

Toch schuf für das Festival in Donaueschingen Drei Originalstücke für das elektrische Welte-Mignon-Klavier. Am zweiten Stück dieser Reihe lässt sich sein Umgang mit den Möglichkeiten des mechanischen Instruments gut verdeutlichen und zeigen, wie menschliche Klavierspielmöglichkeiten übersteigert werden (vgl. Arbeitsblatt „Mechanische Musik" und HB 2). Das Stück ist dreiteilig angelegt (A - B - A'), der Ablauf kann hörend leicht nachvollzogen werden. Toch komponiert in einem stark chromatisierten Duktus und es kommt vielfach zu polytonalen Überlagerungen. Der erste Abschnitt (A) ist durch ein anfänglich unisono exponiertes und rhythmisch prägnantes Thema bestimmt. Die einzelnen thematischen Elemente verdichten sich durch klangliche wie rhythmische Schichtungen. Einige ragtime-artige Begleitmuster schimmern auf. In einem markanten Abschlussteil kommen verschiedene Akkordschichtungen zusammen, und es erfolgt ein zweimaliger Abfall in tiefere klangliche Regionen. Im direkt anschließenden zweiten Teil (B) wird in dichten Ostinato-Figuren in den Unterstimmen (u. a. in Terz-, Quart- oder Akkordmixturen) die Basis für ein zweites Thema (zunächst in Oktaven) und seine zweimalige variative Verarbeitung gelegt. Der Reprisenteil (A') greift das erste Thema unverändert auf, erweitert aber zunehmend die Begleitung hin zu einer auskomponierten Steigerung, die in ihrer internen rhythmischen Gegenläufigkeit und Schichtung das Mechanische typisiert. Die Steigerung mündet in einem markanten Repetitionsabschnitt, dem Toch eine knappe Coda mit einem effektvollen Abgang anschließt.6

Tochs Stück ist ein faszinierendes Beispiel für eine musikalische Adaption einer Maschinenästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es eröffnen sich u. a. Fragen nach dem Stellenwert von Mechanik, Technik etc. in der Musik, nach ihren Auswirkungen auf die Rezeption, nach dem „menschlichen Faktor" bei der Interpretation, nach Gründen für die Begeisterung bzw. Ablehnung derartig mechanischer Musik und nach ihrer „Zukunftstauglichkeit". Von dem Toch'schen Stück ausgehend zeichnet sich zudem eine direkte Linie ab, die im weiteren Unterrichtsverlauf z. B. zu den Aspekten des Mechanischen im Schaffens György Ligetis, zu den Studies for Player Piano von Conlon Nancarrow oder zu Vergleichen mit Musiken aus dem Techno-Bereich führen kann.

IMPULS 2 - EINE MUSIKALISCHE ZUKUNFT OHNE TONART?

Die Musik von Franz Liszt ist im Rahmen ihrer allgemeinen musikgeschichtlichen Relevanz durch zwei extreme Ausschläge gekennzeichnet: Das „revolutionäre Frühwerk" und das frappierende Spätwerk. Ist Ersteres bereits durch „ein überschwängliches romantisches Bekenntnis zur individuellen Freiheit der ästhetischen Mitteilung, losgelöst von den gängelnden musiktheoretisch kodifizierten Regelsystemen"7 gekennzeichnet, so erschien Letzteres - vor allem repräsentiert durch die späten minimalistischen Klavierstücke der 1880er-Jahre - geradezu unerklärlich, visionär, abstrakt und selbst dem Liszt'schen Schülerkreis sehr schwer zugänglich (vgl. Arbeitsblatt „Franz Liszt: 'Bagatelle ohne Tonart‚"). In den späten Klavierstücken verbinden sich programmatische Inspirationen mit konstruktiv intervallischem Denken in konzentrierter Form, mit gleichsam experimentellen Kompositionsideen (z. B. im Gestalten von Quartenakkorden, schroffen einstimmigen Linien oder haIMg dumpfen Tremoli) und dem Austarieren der Grenzen zur Atonalität. Von daher erscheint es kaum verwunderlich, dass Liszt vielfach als „Musiker der Zukunft" (Lajos Bärdos) gesehen oder seine Bedeutung für die „Weiterentwicklung der Musik größer als die Wagners" (Bela Bartök) eingeschätzt wurde. Es gibt Hinweise, dass Liszt in seiner Spätphase an einer Schrift mit dem Titel Skizzen für eine Harmonik der Zukunft gearbeitet hat. Sicherlich darf man die späten Kompositionen Liszts nicht isoliert betrachten, denn vieles kann (und muss) als Konsequenz der vorangegangenen Schaffensperioden gesehen werden.8 Dennoch hat für Michael Stegemann kaum ein anderer Komponist „je so weit über seine Zeit hinausgeschaut wie Liszt: ,Zukunftsmusik' im wahrsten Sinne des Wortes".9 In diesem Kontext lässt ein Werktitel von Liszt besonders aufhorchen, indem er gleichsam die Zukunftsperspektive provokativ vorgreifend mit benennt: Seine Bagatelle ohne Tonart aus dem Jahre 1885 (vgl. Arbeitsblatt „Franz Liszt: ‚Bagatelle ohne Tonart'" und HB 3). Arnfried Edler wertet die Bagatelle in formaler Hinsichtals „unsymmetrisch proportioniert". Das Werk lässt zwar eine konventionelle reprisenhafte Dreiteiligkeit erkennen: „a (T. 1-56) - b (T. 57-86, mit einer Art figurativer Schlusskadenz) - a' (T. 87-183, mit einer Coda ab T. 177), - fixiert jedoch gleichzeitig keinerlei tonale Beziehungen mehr, sondern umkreist über weite Strecken den eingangs exponierten Tritonus sowie die darauf bezogene reine bzw. verminderte Quart als klangliche Grundbausteine".10 Das melodisch kreisende Moment und die harmonische Offenheit lassen sich ergänzend auch am Notentext festmachen (vgl. Arbeitsblatt „Franz Liszt: ‚Bagatelle ohne Tonart'").

Über die Beschäftigung mit der Bagatelle ohne Tonart kann auf die Geschichte der Tonalität und ihre Entwicklung unter verschiedenen Leitfragen geblickt werden. Wie verlief der weitere Weg der Aufhebung von Tonalität? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Rezeption atonaler Musik? Was ist aus der Zukunftsvision von atonaler Musik geworden? Welchen Stellenwert hat atonale Musik heute?

IMPULS 3 - ZUKUNFTS-TRIP AUF DEN MOND

In den Zukunftsträumen der Menschen spielte eine Reise zum Mond sicherlich schon immer eine exponierte Rolle. So ist es kaum verwunderlich, dass dieses Sujet auch in einem der ersten Science-Fiction-Filme aufgegriffen wird: Im Rekurs auf die Romane De la Terre à la Lune (Von der Erde zum Mond) von Jules Verne aus dem Jahr 1865 und The First Men in the Moon (Die ersten Menschen auf dem Mond) von H. G. Wells aus dem Jahr 1901 drehte Georges Méliès (1861-1938) im Jahr 1902 seinen gut 15-minütigen Film Le Voyage dans la lune, der heute zu den Klassikern der Filmkunst zählt (vgl. Film auf DVD). 2002 wurde in Frankreich eine kolorierte Fassung entdeckt. Diese wiederum regte die französische Gruppe Air an, eine Filmmusik zur Reise auf den Mond zu komponieren und ein gleichnamiges Album zu produzieren, das im Frühjahr 2012 erschienen ist.

Somit liegt eine Reihe von Materialien aus Vergangenheit und Gegenwart vor, denen ein spezieller Zukunftsbezug immanent ist. Setzt man die Materialien in Beziehung, so eröffnet sich eine Vielzahl von unterrichtlichen Arbeitsmöglichkeiten. Einige seien hier angedeutet (vgl. Arbeitsblatt „Le Voyage dans la Lune" auf der Heft-DVD). Zunächst kann der Méliès-Film (vgl. Film auf DVD) betrachtet und untersucht werden (Inhaltsangabe, Beschreibung der Szenen, Klärung der literarischen Bezüge, Geschichte des Films, filmtechnische Aspekte etc.). In diesem Zusammenhang sollte auch bereits besonders die zeitgeschichtliche Dimension berücksichtigt und der Blick auf die Handlungsweisen der Protagonisten gelenkt werden (z. B. Leitfrage: Wie gehen die Astronauten mit dem fremden Planeten / mit den Mondbewohnern, den Seleniten, um? Welche „Haltung" drückt sich in ihren Handlungen aus? Welche Bezüge gibt es zur Gegenwart? Welche Konsequenzen ergeben sich gegebenenfalls für die Zukunft?).

In einem weiteren Schritt kann eine eigene Musik zu einzelnen Szenen oder zum ganzen Film er funden und gestaltet werden (Welche Klänge, welche Musiken sind geeignet? Welche Rolle soll die Musik spielen? Hierbei ist eine Anknüpfung an die unterrichtliche Beschäftigung mit Filmmusik besonders sinnvoll.).

Auch mit der Musik der Gruppe Air lässt sich unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten arbeiten. Dabei ist der spezifische schwerpunktmäßige Umgang mit elektronischen Klängen bereits ein assoziatives Moment im Kontext von Zukunftsmusik. Der die CD eröffnende Titel Astronomie Club (vgl. HB 4) ist (in etwas gekürzter und veränderter Form) auch die Musik zur ersten Filmszene (Tagung der Astronomischen Gesellschaft, die, trotz heftiger Streitereien, den Entschluss zur Mondexkursion fasst). Die Bezüge zwischen Musik und Film lassen sich in den Grundzügen aus der Gegenüberstellung von Hörbeispiel und Schwarz-Weiß-Film erschließen.11 Diskussionswürdig ist sodann die Zusammenführung der „neuen" Musik von Air mit dem „alten" Film. Das neue Album der Gruppe Air ist im Internet und anderen Medien mehrfach besprochen worden und hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Im Rekurs auf einige ausgewählte Beispiele, die sich auch auf die anderen Titel der Air-CD beziehen (vgl. Arbeitsblatt „Internetdiskussion zu ‚Le Voyage dans la Lune' von Air" auf der Heft-DVD), kann den dort angesprochenen Punkten nachgegangen werden. Die jeweils vertretenen Meinungen regen zur Überprüfung und zu Diskussionen an, sie fordern zugleich eigene Stellungnahmen heraus.

IMPULS 4 - ZUR ZUKUNFT DER TONAUFZEICHNUNG

Der kanadische Pianist Glenn Gould ist nicht nur durch außergewöhnliche Interpretationen weltweit bekannt, sondern hat Zeit seines Lebens ebenso provokante wie bedenkenswerte Aussagen getroffen. So prophezeite er im Jahr 1966, dass das öffentliche Konzertleben, dem er sich selber ab 1964 bewusst entzogen hatte, zum Aussterben verurteilt sei und bald nicht mehr existieren werde. In seinem Aufsatz „Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung" sagte er voraus, „dass die Gewohnheit des Besuchs und Veranstaltens von Konzerten sowohl als soziale Institution wie als Hauptsymbol des musikalischen Krämergeistes im 21. Jahrhundert so erloschen sein wird wie hoffentlich der Vulkan von Tristan da Cunha".12 Gould spitzte seine Position noch zu, indem er herausstellte, dass „das Schicksal der öffentlichen Veranstaltung" Konzert für die „Zukunft der Musik" geradezu nebensächlich sei. Wichtig für ihn war vielmehr die Tonaufnahme und ihre mediale Präsentation. Folgerichtig kommunizierte er musikalisch mit seinen Hörern nur noch über Aufnahmen im Tonstudio (LP, CD, Radio und Fernsehen).

Im Zusammenhang mit Studioaufnahmen stellte sich damals zudem die Frage, ob sie die LiveSituation des Konzerte wiedergeben oder aber eine eigene Ästhetik entwickeln sollten, die z. B. Schnitte als kreative Möglichkeiten zulassen könne. Gould stellte einige Pro- und Kontra-Argumente dieser kontroversen Diskussion zusammen. Seine eigene Position unterfütterte er mit der Beschreibung der Entstehung seiner Einspielung der a-Moll-Fuge aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier Teil 1 (vgl. Arbeitsblatt „Glenn Goulds Einstellung zur Tonaufnahme" und HB 5).

Im Zentrum der Debatte um die Zukunft der Tonaufzeichnung stand für Gould ein neuer Typus von Hörer, „ein Hörer, der mehr an der musikalischen Erfahrung teilhat […] und auf dessen umfassendere Teilhabe die Zukunft der Musikkunst wartet".13 Er setzte auf Rezipienten, die nicht lediglich „Ein-" oder „Aus-Entscheidungen" treffen, sondern, je nach dem Stand der technischen Möglichkeiten, ihre eigenen Interpretationen zusammenstellen (vgl. Arbeitsblatt „Glenn Goulds Einstellung zur Tonaufnahme").

Goulds Positionen führen erfahrungsgemäß zu lebhaften Diskussionen. Dabei können u.a. folgende Leitfragen bearbeitet werden: Welche Rolle spielt die Aufzeichnung und mediale Präsentation von Musik im Wandel der Zeit und in verschiedenen Musikgenres? Wo liegen die „qualitativen" Unterschiede? Welche neuen technischen Möglichkeiten sind im Aufnahme- und Wiedergabebereich seit den 1960er-Jahren hinzugekommen? Was sind die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung aus heutiger Sicht? Bezogen auf die Einspielung der a-Moll-Fuge von Bach kann das Interpretationskonzept von Gould erarbeitet und mit zwei weiteren Einspielungen verglichen werden (vgl. Arbeitsblatt „J. S. Bach: Fuge a-Moll" auf der Heft-DVD, HB 6 und 7).14 Mit technisch versierten SchülerInnen lässt sich zudem (z. B. mithilfe der Open-Source-Software Audacity oder mit Sequel von Steinberg) ein Zusammenschnitt aus den verschiedenen Einspielungen im Sinne Goulds „produzieren" und bezogen auf seine Wirkung und Sinnhaftigkeit diskutieren.

NOCH EINE ZUKUNFTSMUSIK …

Der allgemeine Begriff Zukunftsmusik bleibt eigentümlich in der Schwebe. Das, was er möglicherweise meint, scheint sich uns allzu oft zu entziehen. Dennoch meinen wir, sie zu kennen: Zukunftsmusik, die es möglicherweise gar nicht gibt - genau diese Polyvalenz erklingt in Hans Magnus Enzensbergers gleichnamigem Gedicht, das mit den Zeilen endet: „War nicht,/ist nicht für uns da, / ist nie dagewesen, / ist nie da, / ist nie."15

Filmstills aus dem Stummfilm Le Voyage dans la Lune (1902)

Arbeitsblätter

* Mechanische Musik - S. 15

* Franz Liszt: Bagatelle ohne Tonart - S. 16

* Glenn Goulds Einstellung zur Tonaufnahme - S. 17

Hörbeispiele - CD

* HB 1: Rainer Maria Rilke: Sonette an Orpheus, XVIII

* HB 2: Ernst Toch: Drei Originalstücke für das elektrische Welte-Mignon-Klavier, Nr. 2

* HB 3: Franz Liszt: Bagatelle ohne Tonart

* HB 4: Air: Astronomic Club

* HB 5: Johann Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Klavier, Fuge a-Moll, BWV 865 (Gould)

* HB 6: J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier, Fuge a-Moll - Beginn (Pollini)

* HB 7: J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier, Fuge a-Moll - Schluss (Stadtfeld)

Dateien - DVD

* Film Le Voyage dans la Lune (s/w)

* Le Voyage dans la Lune

* Internetdiskussion zu Le Voyage dans la Lune von Air

* Noten: Johann Sebastian Bach: Fuge a-Moll BWV 865

schott-musikpädagogik.de

* Beitrag als PDF-Datei

RAINER MARIA RILKE: SONETTE AN ORPHEUS XVIII

Hörst du das Neue, Herr, dröhnen und beben? Kommen Verkündiger, die es erheben.

Zwar ist kein Hören heil in dem Durchtobtsein, doch der Maschinenteil will jetzt gelobt sein.

Sieh, die Maschine: wie sie sich wälzt und rächt und uns entstellt und schwächt.

Hat sie aus uns auch Kraft, sie, ohne Leidenschaft, treibe und diene.

Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt a. M. 2006, S. 729 f.

Kein Wunder, dass die Resultate noch spärlich, dass die Prinzipien der mechanischen Musik noch nicht ganz klar herausgearbeitet sind. Aber wir blicken in die Zukunft. Hinter uns steht eine junge Generation: die neue Menschheit.

Hans Heinz Stuckenschmidt (1926), zitiert nach Volker Scherliess: „Herausforderung der Technik - Experimentelle Musik in den Zwanziger Jahren", in: Der musikalische Futurismus, hg. von D. Kämper, Laaber 1999, S. 245

Footnotes 1 vgl. hierzu den ausführlichen Beitrag von Christa Jost / Peter Jost: „‚Zukunftsmusik'. Zur Geschichte eines Begriffs", in: Musiktheorie 10.2 (1995), S. 119-135. 2 vgl. Käte Meyer-Drawe: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen, München 1996. 3 Volker Scherliess: „Herausforderung der Technik - Experimentelle Musik in den Zwanziger Jahren", in: Der musikalische Futurismus, hg. von D. Kämper, Laaber 1999, S. 243-263, hier S. 243. 4 Zur weiteren Interpretation des Sonetts Nr. XVIII vgl. Thomas Krämer: Rilkes „Sonette an Orpheus". Erster Teil. Ein Interpretationsgang, Würzburg 1999, S. 126 ff.; Ernst Leisi: Rilkes Sonette an Orpheus. Interpretation, Kommentar, Glossar, Tübingen 1987, S. 109 ff.; Annette Gerok-Reiter: Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes „Sonette an Orpheus", Tübingen 1996; Manfred Engel (Hg.): Rilke-Handbuch, teben - Werk - Wirkung, Stuttgart 2004, S. 405 ff. 5 Im Jahr 1921 wurde diese Veranstaltung unter dem Namen „Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst" etabliert, sie gilt auch heute noch international als zentrales Festival für Neue Musik. 6 Analytische Details zu den Drei Originalstücken von Toch finden sich bei Heiko Schneider: Wahrhaftigkeit und Fortschritt: Ernst Toch in Deutschland 1919 -1933, Mainz 2007, S. 166 ff. 7 Norbert Nagler: „Die verspätete Zukunftsmusik", in: Franz Liszt, hg. von H.-K. Metzger / R. Riehn (= Musik-Konzepte Bd. 12), München 1980, S. 4-41, hier S. 12. 8 Nagler spricht in diesem Zusammenhang sogar von „verspäteter Zukunftsmusik". Er stellt heraus, dass man - ohne Rekurs auf den „realgeschichtlichen Widerspruchsprozess" - das Spätwerk Liszts nur vorsichtig als Zukunftsmusik titulieren solle (vgl. hierzu ausführlich Nagler 1980). 9 Michael Stegemann: Franz Liszt. Genie im Abseits, München 2011, S. 328. 10 Arnfried Edler: Geschichte der Klavier- und Orgelmusik, Laaber 2007 (Bd. 3), S. 1555. 11 Ideal für diese Erarbeitung ist selbstverständlich die Präsentation des kolorierten Films mit der Filmmusik. Dieser ist mit dem Musikalbum als zusätzliche DVD käuflich erwerbbar (Air: Le Voyage dans la Lune. Limited Edition including the DVD, EMI 5099995562421). 12 Glenn Gould: „Die Zukunft der Tonaufzeichnung", in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, hg. von T. Page, München 1987, S. 129-160, hier S. 131. 13 Gould 1987, S. 151. 14 Zur Verfügung stehen jeweils Anfang (bis T. 28) und Ende (ab T. 63) der Einspielungen von Mauricio Pollini und Martin Stadtfeld (HB 6 und 7) 15 Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik, Frankfurt a. M. 1993, S. 115. Mechanische Musik

Zitate

PAUL HINDEMITH

Man kann gar nicht genug vor der sinnlosen Häufung technischer Schwierigkeiten warnen. Wohl ist es verlockend, auf einem elektrischen Klavier ohne Mühe Stellen spielen zu lassen, die sechs Hände nicht bewältigen könnten, aber hier ist es gerade wie in der „anderen" Musik auch: Es ist vollkommen uninteressant, ob das Stück mehr oder weniger brillant geschrieben ist, wenn der musikalische Inhalt wertlos ist. Die Vorzüge des Apparates liegen lediglich in seiner absoluten Eindeutigkeit, seiner Klarheit, Sauberheit und in der Möglichkeit höchster Präzision - Eigenschaften, die das menschliche Spiel nicht besitzt, deren es auch nicht bedarf.

Paul Hindemith: „Zur mechanischen Musik", in: ders.: Aufsätze, Vorträge, Reden, hg. von Giselher Schubert, Zürich 1994, S. 19-214., hier S. 22

ERNST TOCH

Hier soll […] von jener Musik gesprochen werden, welche […] überhaupt nicht vom Menschen ausgeführt werden kann, sondern nur von mechanischen Instrumenten. Damit tritt diese Instrumentenart erst selbständig neben den anderen uns bekannten Instrumenten auf den Plan; und die Musik […] ist nicht irgendwelche Musik, […] sondern ist Musik für ein mechanisches Instrument, genauso wie Musik „für Violine und Klavier" […] wichtig genug ist zunächst die Möglichkeit, die ganze Tastatur gleichzeitig und hemmungslos, d.h. ohne Rücksicht auf die Bildung der menschlichen Hand, auszunutzen. […] Wenn ich das Wesen dieser Art von Musik beschreiben soll, […] so möchte ich den Ausdruck einer gewissen „Kühle" gebrauchen. […] es ist damit nicht ein Mangel an Wärme gemeint, sondern das Vorhandensein einer Nichtwärme; also nicht das Fehlen, sondern das Vorhandensein einer ganz bestimmten Eigenschaft, welche in ihrer Art in der gewohnten, auf gewohnte Weise exekutierten Musik nicht enthalten ist. Hand in Hand damit geht […] eine kristallene Klarheit, eine ungewohnte Überklarheit.

Ernst Toch: „Musik für mechanische Instrumente", in: Musik und Maschine (Sonderheft der Musikblääer des Anbruch, Oktober/November 1926), S. 346 ff.

1. Welche Vorzüge / Qualitäten sehen die Komponisten Paul Hindemith und Ernst Toch in den Möglichkeiten der mechanischen Musik?

2. Welche Nachteile sehen sie in dieser Musikform?

DAS WELTE-MIGNON-KLAVIER

Die Firma M. Weite & Söhne (Freiburg) ließ im Jahre 1904 das Wiedergabeverfahren für das von ihr entwickelte Reproduktionsklavier patentieren. Es fand als so genanntes Welte-Mignon-Klavier Verbreitung. Das Instrument konnte aufgrund spezieller Steuerungsmechanismen auf Lochstreifen aufgezeichnete bzw. eingestanzte „Tonträger" einschließlich der Anschlagsdynamik wiedergeben. Die exakten mechanischen Abläufe dabei sind aufgrund der Geheimhaltung der Firma bis heute nicht restlos geklärt. Die Wiedergabe erfolgte mittels eines Flügels, in dem der Welte-Abspielapparat direkt eingebaut war, oder über einen „Vorsetzer", der mit diversen Hebeln die Klaviertasten eines vorhandenen Flügels bediente. Das Instrumentarium wurde zunächst zur Wiedergabe von Einspielungen bekannter Pianisten und Komponisten genutzt (z. B. A. Schnabel, F. Busoni, V. Horowitz, Cl. Debussy und M. Reger). Bis 1932 bot die Firma über 5000 Titel aus dem klassischen wie dem U-Musik-Bereich an. Später wurden Originalkompositionen für das Instrument geschrieben und produziert, die manuell nicht ausführbar waren. Heute dokumentieren die alten Lochbänder wichtige Stationen der Interpretationsgeschichte von Klaviermusik.

Nach: IMA Institut für Medienarchäologie (Hg.): Zauberhafte Klangmaschinen. Von der Sprechmaschine bis zur Soundkarte, Mainz 2008, S. 99 f.

Rollenabspielmechanismus eines Welte-Reproduktionsklaviers, 1927

1. Hört euch eine Komposition an, die Ernst Toch 1926 eigens für das Welte-Mignon-Klavier komponiert hat.

  • 2. Versucht, die Musik zu beschreiben. Wie ist der Verlauf angelegt?
  • 3. Welche Eigenschaften mechanischer Musik werden an diesem Stück deutlich?
Franz Liszt: „Bagatelle ohne Tonart"

In der Regel hielt Liszt diese späten Stücke selbst vor den neugierigen Augen seiner Schülerinnen und Schüler verborgen; wenn er ihnen dann und wann eines vorspielte, reagierten sie ohnehin zumeist […] rat- und verständnislos […] Hugo Mansfeldt hat berichtet, dass er einmal heimlich von der […] Bagatelle ohne Tonart eine Kopie anfertigte und das Stück am 10. Juli 1885 in seinem ersten Weimarer Klavierabend spielte, worauf sich Liszt tags darauf die Bagatellevon ihm vortragen ließ.

Michael Stegemann: Franz Liszt. Genie im Abseits, München 2011, S. 330

Franz Liszt (1811-1886) Fotografie aus den 188oer-Jahren

Bagatelle ohne Tonart- mit diesem Titel wollte Liszt den Umstand besonders hervorheben, dass er dieses Werk sowohl in melodischer als auch in harmonischer Beziehung völlig frei und unabhängig von den Gebundenheiten der Systeme der Dur- und Molltonarten komponiert hat. Es ist nicht möglich, die Melodie in den Rahmen einer einzigen bekannten Tonart zu zwängen; so kann auch keine einzige der Akkordverbindungen des Werkes durch die Harmonieordnung der Wiener Klassik erklärt werden.

Liszt hat beim Komponieren dieses Werkes - befreit von jeglicher Gebundenheit - […] neuartige musikalische Gesetzmäßigkeiten angewendet, die erst den Komponisten des 20. Jahrhunderts als Regeln des musikalischen Aufbaus dienten. Man kann also Liszt aufgrund dieses Werkes als bewussten Wegbereiter der Musik des 20. Jahrhunderts betrachten.

István Szelényi: Vorwort zur Notenausgabe 1956

1. Was wollte Liszt mit dem Titel der Bagatelle ohne Tonart ausdrücken?

  • 2. Welche Intervalle bilden die klanglichen Grundbausteine der Bagatelle ohne Tonart?
  • 3. Versucht, die Akkorde und ihre Bezüge zu bestimmen.
Glenn Goulds Einstellung zur Tonaufnahme

Oberflächlich betrachtet ist der Zweck des Klebens das Beheben von Aufführungsfehlern. Mit seiner Hilfe lässt sich die schwankende Phase ausbessern, der unsicher ausgeführte Triller […] Die Anti-Schall-platten-Lobby erklärt, das Kleben sei eine unredliche und entmenschende Technik, die absichtlich jene Glücks- und Zufallsbedingungen ausschaltet, auf die […] einige der eher faden Traditionen der westlichen Musik gegründet sind. Außerdem behaupten die Lobbyisten, das gewöhnliche Kleben sabotiere irgendeine einheitliche architektonische Konzeption, die der ausführende Künstler ihrer Meinung nach besitzt.

Glenn Gould: „Die Zukunft der Tonaufzeichnung", in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, hg. von T. Page, München 1987, S. 138

Eine […] persönliche Erfahrung wird […] illustrieren, wie eine interpretative Überzeugung durch Abhören der Bandaufnahme gewonnen werden kann. Vor etwa einem Jahr, als ich die Schlussfugen von Band I des Wohltemperierten Klaviers aufnahm, kam ich zu einem von Bachs berühmten kontrapunktischen Hindernisläufen, der Fuge in a-Moll. […] Bei der Aufnahme […] versuchten wir acht Takes. Zwei davon wurden […] als befriedigend erachtet. Beide, Nummer 6 und Nummer 8, waren vollständige Takes, die keine Einfügung von Bandabschnitten erforderten. […] Wochen später jedoch, als die Takes 6 und 8 mehrere Male […] abgespielt wurden, zeigte sich, dass beide einen Fehler hatten […]: beide waren monoton. Jeder Take hatte in der Behandlung des […] Themas eine andere Phrasierung benutzt […] Take 6 war feierlich, mit Legate und auf recht pompöse Weise […], während in Take 8 das Fugenthema vorwiegend durch Staccato gestaltet war, was zu einem Gesamteindruck von Übermütigkeit führte. […] Nach höchst nüchterner Überlegung […] fiel […] auf, dass trotz der beträchtlichen Charakterunterschiede […] beide Takes mit beinahe identischem Tempo eingespielt waren […] und es wurde beschlossen, dies zum Vorteil zu wenden, indem man eine Einspielung schuf, die abwechselnd aus Take 6 und 8 bestehen sollte. […] Es war offensichtlich, dass […] Take 6 vollkommend passend war für die Exposition wie […] die Schlussaufstellung der Fuge, während […] Take 8 eine willkommene Erleichterung in den Modulationen der Zwischenspiele war, mit denen der Mittelteil der Fuge beschäftigt ist. Und so wurde […] zweimal geklebt, wobei sich einmal ein Sprung von Take 6 nach Take 8 in Takt 14 ergibt und ein weiterer, der bei der Rückkehr nach a-Moll (ich habe vergessen, in welchem Takt, aber der Leser ist eingeladen, danach zu suchen) ebenso nach Take 6 zurückkehrt. Erzielt wurde eine Aufführung dieser […] Fuge, die bei weitem allem überlegen war, was wir zu der Zeit im Studio hätten tun können.

Glenn Gould: „Die Zukunft der Tonaufzeichnung", in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, hg. von T. Page, München 1987, S. 139 f.

Nehmen wir zum Beispiel an, man findet Gefallen an Bruno Walters Aufführung der Exposition und der Reprise aus dem ersten Satz von Beethovens Fünfter Sinfonie, neigt aber zu Klemperers Behandlung des Durchführungsabschnitts, die ein merklich anderes Tempo verwendet. […] Indem man die Korrelation von Geschwindigkeit und Tonhöhe in der Schwebe lässt, könnte man diese Takte aus der Klemperer-Veröffentlichung herausschneiden und sie in die Walter-Aufführung einkleben, ohne dass es durch das Kleben zu einer Veränderung des Tempos oder zu einer Schwankung der Tonhöhe kommt. Dieses Verfahren könnte theoretisch ohne Einschränkung zur Rekonstruktion musikalischer Aufführungen angewandt werden. Es gibt in der Tat nichts, das einen Kenner, der sich seiner Sache ganz verschrieben hat, daran hindern kann, als sein eigener Cutter zu agieren und mit diesen Kunstgriffen jene interpretativen Vorlieben umzusetzen, die ihm erlauben werden, seine eigene Idealaufführung zu schaffen.

Glenn Gould: „Die Zukunft der Tonaufzeichnung", in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, hg. von T. Page, München 1987, S. 153

1. Welchen Vorteil sieht der Pianist Glenn Gould in der Aufzeichnung von Musik?

  • 2. Welche Einstellung hat er zu seinen eigenen Aufnahmen?
  • 3. Welche neuen technischen Möglichkeiten sind im Aufnahme- und Wiedergabebereich seit den 1960er-Jahren hinzugekommen?
  • 4. Welche Rolle spielt die Aufzeichnung und mediale Präsentation von Musik im Wandel der Zeit und in den verschiedenen Musikgenres?

By ORTWIN NIMCZIK

Titel:
Zukunft der Musik -- Zukunftsmusik.
Autor/in / Beteiligte Person: NIMCZIK, ORTWIN
Zeitschrift: Musik und Bildung, 2012-07-01, Heft 3, S. 10-17
Veröffentlichung: 2012
Medientyp: serialPeriodical
ISSN: 0027-4747 (print)
Schlagwort:
  • MUSIC & technology
  • FUTURE, The
  • LISZT, Franz, 1811-1886
  • MUSIC history
  • 20TH century music
  • AIR (Performer)
  • GOULD, Glenn, 1932-1982
  • Subjects: MUSIC & technology FUTURE, The LISZT, Franz, 1811-1886 MUSIC history 20TH century music AIR (Performer) GOULD, Glenn, 1932-1982
Sonstiges:
  • Nachgewiesen in: DACH Information
  • Sprachen: German
  • Alternate Title: The Future of Music -- Music of the Future.
  • Language: German
  • Document Type: Article
  • Full Text Word Count: 4871

Klicken Sie ein Format an und speichern Sie dann die Daten oder geben Sie eine Empfänger-Adresse ein und lassen Sie sich per Email zusenden.

oder
oder

Wählen Sie das für Sie passende Zitationsformat und kopieren Sie es dann in die Zwischenablage, lassen es sich per Mail zusenden oder speichern es als PDF-Datei.

oder
oder

Bitte prüfen Sie, ob die Zitation formal korrekt ist, bevor Sie sie in einer Arbeit verwenden. Benutzen Sie gegebenenfalls den "Exportieren"-Dialog, wenn Sie ein Literaturverwaltungsprogramm verwenden und die Zitat-Angaben selbst formatieren wollen.

xs 0 - 576
sm 576 - 768
md 768 - 992
lg 992 - 1200
xl 1200 - 1366
xxl 1366 -