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Das Ringen mit Gott um die Zukunft der Musik.

NIEMEYER, ALEXANDER
In: Musik und Bildung, 2012-07-01, Heft 3, S. 22-29
Online serialPeriodical

Das Ringen mit Gott um die Zukunft der Musik  Das Scherzo der 3. Sinfonie „Kaddisch" von Leonard Bernstein

Die „Kaddisch"-Sinfonie von Leonard Bernstein ist eine musikalische Auseinandersetzung mit den großen Krisen des 20. Jahrhunderts: dem Holocaust, der Atombombe und dem Kalten Krieg. Die kritische künstlerische Stellungnahme zu Gewalt, Krieg und Vernichtung wird in Bernsteins Sinfonie auf der Grundlage des jüdischen Totengebets Kaddisch und in Anlehnung an chassidisch-kabbalistische Traditionen als ein Streit zwischen Mensch und Gott um die Zukunft des Glaubens bzw. der Musik inszeniert.

* „I have a deep suspicion that every work I write, for whatever medium, is really theater music in some way …"1 - dieser von Leonard Bernstein (1918-1990) stammende Satz erweckt zunächst den Anschein, als sei alle Musik des Schöpfers der berühmten West Side Story populäre Broadway- und Showmusik.

Verbindet man diese Aussage jedoch mit dem folgenden Zitat des Komponisten: „The work I have been writing all my life is about the struggle that is born of the crisis of our Century, a crisis of faith",2 wird offenkundig, dass eine vorschnelle Schubladisierung Leonard Bernsteins als Sunnyboy und Showman zu kurz greift. Jede seiner Kompositionen ist sowohl Theatermusik als auch eine programmatisch-musikalische Thematisierung der „Glaubenskrise" des 20. Jahrhunderts, und das heißt im Falle des jüdisch-amerikanischen Künstlers Bernstein sowohl eine politische Auseinandersetzung mit den Erschütterungen des Holocausts, der Atombombe und des Kalten Kriegs als auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Ästhetik abstrakter, atonaler und aleatorischer Musik.

In seiner 3. Sinfonie für Orchester, gemischten Chor, Knabenchor, Sprecher und Sopransolo, die den Namen des jüdischen Totengebets Kaddisch als Titel trägt, hat Bernstein eine Antwort auf diese „Glaubenskrise" zu geben versucht und damit gleichzeitig eine Vision zur Zukunft der Musik entworfen.

DIE „KADDISCH"-SINFONIE ALS ANKLAGENDE AUSEINANDER-SETZUNG MIT GOTT

Im Zentrum der 1960-63 entstandenen, 1977 revidierten Kaddisch-Sinfonie steht eine der großen religiösen Grundfragen der Menschheit: das Theodizee-Problem, die Frage, wie Gott das Böse in der Welt zulassen kann. Diese existenzielle Frage wird bei Bernstein eng mit dem jüdischen Kaddisch-Gebet verknüpft - das Kaddisch erklingt innerhalb der Satzfolge der Sinfonie dreimal: Invocation - Kaddisch 1 - Din Torah - Kad - disch 2 - Scherzo - Kaddisch 3 - Finale (Fuga) - und wird in Anlehnung an die chassidische Tradition des sogenannten „Din Toyre mit Got"3 zu einer Art Rechtsstreit mit Gott ausgebaut, in dem Gott angeklagt wird, sein eigenes Gesetz und den damit verbundenen Bund mit den Menschen gebrochen zu haben (s. Arbeitsblatt „Bernsteins Kaddisch-Sinfonie: Worum geht es?").

Einen weiteren kulturgeschichtlichen Hintergrund der Kaddisch-Sinfonie bildet die jüdische Mystik der Kabbala. Ein kabbalistischer Schöpfungsmythos besagt, dass Gott die Welt noch gar nicht perfekt geschaffen habe, und erst der Mensch es vermöge, durch seinen göttlichen Auftrag die Auseinandersetzung mit dem Bösen zu suchen und dieses schließlich zu besiegen. Erst in der Symbiose von Gott und Mensch kann also die Schöpfung vollendet werden und somit das Göttliche entstehen (s. Arbeitsblatt „Theodizee und Kabbala" auf der Heft-DVD).

DIE MUSIKALISCHE VEREINIGUNG DES MENSCHEN MIT GOTT

Überträgt man ein musikästhetisches Modell, das Bernstein im Rahmen seiner Arbeit an dem Ballett Dybbuk (1974) entworfen hat,4 auf die Kaddish-Sinfonie, so ergibt sich eine verblüffende musikalische Analogie. In dem Ballett, dem eine kabbalistische Legende zugrunde liegt, hat Bernstein die göttliche und menschliche Sphäre des oben dargestellten Schöpfungsmythos auf musikalische Stile übertragen. Der Welt der unvollendeten, mystisch-göttlichen Ordnung teilt er hier das Idiom der „abstrakten Musik" zu, während der menschlichen Sphäre, die sich nach der Vollendung der Schöpfung sehnt, das Idiom der Popularmusik zugeordnet wird.

Eine ähnliche musikstilistische Zuordnung zeigt sich im dritten Satz der Kaddisch-Sinfonie, Scherzo. Darin nimmt der Sprecher seinen Schöpfer mit auf eine Traumreise zu dessen „favorite star", dem himmlischen Reich, wo alles in perfekter Ordnung, dadurch aber auch steril und ohne Platz für Träume ist. Diese perfekt-sterile Ordnung wird von Bernstein musikalisch mitdodekafonen Mitteln gestaltet. Zurück auf der Erde, dem „star of regret", führt nun der Mensch Gott seine menschlichen Wunder vor, an die in Umkehrung der Verhältnisse nun Gott zu glauben habe. Der Text kulminiert in dem blasphemisch abgewandelten Zitat der ersten Zeile des Kaddisch-Gebets „Magnified … and sanctified … be the great name of man". Danach setzt eine Metamorphose der dodekafonen Musik ein (HB 14), die sich langsam in eine eingängige, an Musical-Melodien erinnernde Kantilene verwandelt, zu der zu Beginn des „Kaddisch 3" auch noch ein engelsgleicher Knabenchor tritt (s. Arbeitsblätter „Bernsteins Kaddisch-Sinfonie: Worum geht es?" und „Musikalische Metamorphosen in der Kaddisch-Sinfonie"). Im letzten Satz „Finale", in dem atonal-göttliche und tonal-menschliche Sphäre gleichberechtigt nebeneinandergestellt werden, entwickelt Bernstein - gleichsam als Antwort auf die besagte „Glaubenskrise" des 20. Jahrhunderts - eine musikalische Zukunftsvision der gegenseitigen Rekreation von Gott und Mensch.

Eine solche Form von Polystilistik entspricht auch Bernsteins künstlerischem Credo einer eklektizistischen Zukunftsmusik, wie er es am Ende einer 1973 in Harvard gehaltenen Vorlesung mit dem Titel „The Poetry of Earth" entworfen hat. Die Versöhnung von göttlich-abstrakter und irdisch-populärer Musik verdichtet Bernstein hier zu der Idee einer auf der Obertonreihe und dem Bedürfnis nach Symmetrie fußenden universalen Phonologie und Syntax der Musik, der „Poetry of Earth". Darin haben sowohl abstrakte als auch populäre Musik ihren Platz, sofern sie auf diese Wurzeln der „Poetry of Earth" rekurrieren (s. Arbeitsblatt „Die Zukunft der Musik: Die Poesie der Erde"). Bernsteins Antwort auf das kosmische Drama der göttlichen Schöpfung ist somit ein im Irdischen fußendes, human-poetisches Welttheater, mit dem er ganz im Sinne des kabbalistischen Schöpfungsmythos versucht, das Böse in der Welt zu besiegen. So gesehen ist auch Leonard Bernsteins Kaddisch-Sinfonie in der Tat ein Stück „theater music in some way".

ZUM UNTERRICHTSMATERIAL

Das im Folgenden präsentierte Material zur Kaddisch-Sinfonie ist als Anregung für eine kulturerschließende Unterrichtsreihe im Oberstufenunterricht gedacht, die neben musikalischen Aspekten auch für interkulturelle und philosophische, ethische, religiöse sowie geschichtlich-politische Fragestellungen sensibilisieren soll. Daher sei ausdrücklich eine entsprechend fachübergreifende Herangehensweise an das Material empfohlen.

Das Arbeitsblatt „Bernsteins Kaddisch-Sinfonie: Worum geht es?" bietet den SchülerInnen mit einem übersetzten Auszug aus dem Sprechertext des „Scherzo" der Kaddisch-Sinfonie sowie kurzen Infoboxen zum Kaddisch-Gebet und der Din-Tora-Tradition des Chassidismus die Möglichkeit, den kulturgeschichtlichen Hintergrund von Bernsteins Sinfonie zu erschließen. Ergänzend dazu findet sich eine deutsche Übersetzung des Kaddisch-Gebets auf dem Arbeitsblatt „Das Kaddisch-Gebet" auf der Heft-DVD.

Des Weiteren sollten sich die SchülerInnen überblicksartig mit der Geschichte und Kultur des Judentums auseinandersetzen. Dazu dienen u.a. die Verweise auf einige Bibelstellen in der zweiten Aufgabe vom Arbeitsblatt „Bernsteins Kaddisch-Sinfonie: Worum geht es?". Diese Bibelstellen, die zumeist mit göttlichen Wundern in Verbindung stehen, sollten den SchülerInnen für den kulturell-religiösen Hintergrund der Kaddisch-Sinfonie vertraut gemacht werden, zumal sie als direkte Anspielungen im Sprechertext des „Scherzo" wieder auftauchen und von Bernstein hier zu „menschlichen Wundern" umgemünzt werden. Vor allem die letzte Bibelstelle (4. Mose 20, 2-13) bietet darüber hinaus die Möglichkeit, im Sinne der Theodizee-Frage grundlegende Überlegungen zur Gerechtigkeit Gottes angesichts des Leids in der Welt anzustellen. Dies kann ggf. vertieft werden durch das Materialblatt zur Theodizee-Frage und zum kabbalistischen Schöpfungsmythos (Arbeitsblatt „Exkurs: Theodizee und Kabbala" auf der Heft-DVD).

Die Arbeitsblätter „Kreativwerkstatt I: Wortmetamorphosen" und „Kreativwerkstatt II: Musikmetamorphosen" wählen einen produktionsorientierten Zugang, der auf eine der zentralen kompositorischen Techniken in Bernsteins Kaddisch-Sinfonie abzielt: die entwickelnde Variation. Ausgehend vom Begriff der „Metamorphose" kann durch die Beschäftigung mit den Wortmetamorphose-Rätseln auf spielerische Weise der „Tüfteltrieb" der SchülerInnen aktiviert werden (Arbeitsblatt „Kreativwerkstatt I: Wortmetamorphosen"). Musterlösungen der Rätsel finden sich auf dem Lösungsblatt auf der Heft-DVD.

Das Arbeitsblatt „Kreativwerkstatt II: Musikmetamorphosen" enthält eine Anleitung zum eigenen kreativen Umgang (sowohl kompositorisch als auch musizierend) mit dem Phänomen der entwickelnden Variation. Als Anregungsimpulse für die musikalische Gestaltung sind womöglich Hinweise zu Kompositionstechniken wie Abspaltung, Fortspinnung, Umkehrung, Krebs, Symmetrie etc. hilfreich. Besonders reiz- und anspruchsvolle musikalische Ergebnisse lassen sich erzielen, wenn mehrere Tonreihen miteinander kombiniert werden, indem z. B. mehrere Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Reihen gleichzeitig musizieren und so zu einer Art Mehrchörigkeit finden. Die Aufgabe ist mit unterschiedlichstem Instrumentarium realisierbar (z. B. Stabspiele, Boomwhackers, Keyboards, Orchesterinstrumente etc.) und bietet daher vielfältige klangliche Gestaltungsmöglichkeiten.

Derart für musikalische Metamorphosen sensibilisiert ist es den SchülerInnen möglich, sich analytisch (sowohl lesend als auch hörend, HB 14) der oben skizzierten entwickelnden Variation im „Scherzo" zu nähern. Bei der Bearbeitung der Notenbeispiele (Arbeitsblatt „Musikalische Metamorphosen in der KaddIsch-Sinfonie") sollten neben den melodiebezogenen Aspekten entwickelnder Variation auch Wandlungsprozesse bei anderen musikalischen Parametern (z. B. Dynamik, Artikulation, Instrumentation) zur Sprache kommen. Insbesondere der Einsatz des engelsgleichen Knabenchors zu Beginn von „Kaddisch 3", der die neu gewonnene tonal-mensch liche Sphäre bis an die Grenze des Kitsches ironisch / blasphemisch (?) „überzuckert", bietet anregende Impulse für ein Unterrichtsgespräch. Das „Scherzo" ist als komplettes Hörbeispiel (HB 13/14) auf der Heft-CD. Unter Einbeziehung der bereits gewonnenen Erkenntnisse zum kulturgeschichtlichen Hintergrund kann an dieser Stelle ein erster allgemeiner Interpretationsansatz für Bernsteins Kaddisch-Sinfonie gefunden werden. Die auf dem letzten Arbeitsblatt „Die Zukunft der Musik: Die Poesie der Erde" angeregte Recherchearbeit der SchülerInnen zum politischen Kontext der 1940er- bis 1960er-Jahre (Zweiter Weltkrieg, Holocaust, Kalter Krieg etc.) sowie zu zentralen musikästhetischen Diskursen im 20. Jahrhundert (Dodekafonie, Serialismus, Aleatorik etc.) dient der weiteren Aufbereitung des kulturgeschichtlichen Hintergrunds der Kaddisch-Sinfonie und ist auch für die abschließende textinterpretatorische Beschäftigung mit dem Schluss der Harvard-Vorlesung „The Poetry of Earth" hilfreich, mit der Bernstein seine Vision einer Zukunftsmusik in Form eines musikästhetischen Credos auf den Punkt bringt5 (Arbeitsblatt „Die Zukunft der Musik: Die Poesie der Erde"). Musikalisch verdeutlichen lässt sich dies gut anhand der Finalfuge aus der Kaddisch-Sinfonie, die als Hörbeispiel auf der CD zu finden ist (HB 15). Hier kulminiert der allen Sätzen des Werks zugrundeliegende Stilpluralismus, sodass dieser Schluss, in dem Mensch und Gott in einem neuen Bund wieder zusammenfinden, ein anschauliches Beispiel für Bernsteins eklektizistische Zukunftsmusik darstellt.

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Arbeitsblätt

* Bernsteins Kaddisch-Sinfonie: Worum geht es? - S. 25

* Kreativwerkstatt I: Wortmetamorphosen - S. 26

* Kreativwerkstatt II: Musikmetamorphosen - S. 27

* Musikalische Metamorphosen in der Kaddish-Sinfonie - S. 28

* Die Zukunft der Musik: Die Poesie der Erde - S. 29

Hörbeispiele - CD

* HB 13: Leonard Bernstein: Kaddisch-Sinfonie, Scherzo - Beginn

* HB 14: Forts. Scherzo (beginnt bei der „Metamorphose") und Beginn Kaddisch 3

* HB 15: Final-Fuge

Dateien - DVD

* Das Kaddisch-Gebet

* Exkurs: Theodizee und Kabbala

* Kreativwerkstatt I: Wortmetamorphosen - Lösung

* Ausgewählte weiterführende Literatur

schott-musikpädagogik.de

* Beitrag als PDF-Datei

Footnotes 1 Leonard Bernstein: Vorwort zu The Age of Anxiety, Sinfonie Nr. 2, rev. Fassung, Partitur, Leonard Bernstein Music Publishing Company LLC; Boosey & Hawkes 1993, S. II. 2 Leonard Bernstein während einer Pressekonferenz in Berlin (August 1977), zit. nach: Jack Gottlieb: CD-Booklet Bernstein conducts Bernstein, 7-CD Set, Deutsche Grammophon 469 829-2 (Hamburg 1978-1992). 3 Diese jiddische Formulierung entstammt dem Titel eines mehrfach vertonten volkstümlichen Textes des chassidischen Rabbis Levi Yitzchak von Berditschew (1740-1810). Der Text ist - mit englischer Übersetzung - im Internet u. a. unter der Adresse www.jewishfolksongs.com/en/a-din-toyre-mit-Got abrufbar (Abrufdatum 10.05.2012). 4 Alexandra Scheibler: „Ich glaube an den Menschen" - Leonard Bernsteins religiöse Haltung im Spiegel seiner Werke, Hildesheim, Zürich, New York 2001; speziell zur Kaddisch-Sinfonie und zum kabbalistischen Ballett Dybbuks. S. 81-137. 5 Bernsteins Harvard-Vorlesungen sind auch abgefilmt worden. Die Vorlesung „The Poetry of Earth" findet sich unter www.youtube.com > „The Unanswered Question 1973 6 The Poetry Of Earth Bernstein Norton" (Abrufdatum 10.05.2012).

Bernsteins „Kaddisch"-Sinfonie: Worum geht es?

KADDISH

Das Kaddisch (wörtl. „Heilig"), das der Kaddisch-Sinfonie (1963; revidiert 1977) von Leonard Bernstein (1918-1990) als Text zugrunde liegt, ist eines der wichtigsten und heiligsten Gebete im Judentum. Es preist Gott als Schöpfer der Welt und bittet ihn um Erneuerung seines Reiches auf Erden und ewigen Frieden. Das Kaddisch existiert in mehreren Formen mit unterschiedlichen gottesdienstlichen Funktionen, von denen diejenige des Totengebets die bekannteste und wichtigste ist.

DIN TORA

Im Sprechertext seiner Sinfonie verbindet Bernstein das Kaddisch-Gebet mit einer Anklage an Gott. Er wirft ihm vor, im Lauf der Geschichte immer wieder den biblischen Bund mit seinem auserwählten Volk Israel gebrochen zu haben. Dabei knüpft Bernstein an eine alte jüdische Tradition an. Zwar wird im Judentum der Mensch mit seinen Taten am göttlichen Gesetz, der Tora, gemessen - dieser Vorgang heißt auf hebräisch „Din Tora" (wörtl. „Prüfung durch das Gesetz") -, im Chassidismus hingegen, einer mystischen Strömung innerhalb des Judentums, gab es die Tradition „A Din Toyre mit Got" zu halten, also auch Gott für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Streiten mit Gott hat seinen Ursprung bereits in der Bibel, wo z. B. der Erzvater Jakob mit Gottes Engel ringt, um den göttlichen Segen zu erhalten (1. Mose 32, 23-33). Im „Din Torah" überschriebenen zweiten Satz der Kaddisch-Sinfonie kommt es zur zentralen Auseinandersetzung zwischen Sprecher und Gott. Dem schließt sich nach einem Intermezzo der dritte Satz, Scherzo, mit dem unten angegebenen Text an.

3. SATZ: SCHERZO

Ich führe dich zu deinem Lieblingsstern, zu einer Welt, die deiner Schöpfung wert ist. Und Hand in Hand schauen wir voll Staunen die Werke der Vervollkommnung.

Dies ist dein himmlisches Königreich, Vater, genau, wie du es geplant hast. Jedes unsterbliche Klischee ist intakt. Lämmer hüpfen umher. Weizenfelder wogen. Sonnenstrahlen tanzen. Hier stimmt etwas nicht.

Das Licht: fahl. Die Luft: steril. Weißt du, was hier nicht stimmt? Es gibt nichts zu träumen. Nirgendwo hinzugehen. Nichts zu wissen. […]

Nun will ich dir einen Traum zum Erinnern zeigen! Komm zurück mit mir zum Stern des Bedauerns: Komm zurück, Vater, dorthin, wo Träume echt sind

und Schmerz möglich ist - so möglich, dass du an ihn glauben musst. Und im Schmerz wirst du endlich dein Ebenbild erkennen.

Nun betrachte mein irdisches Königreich! Wunder aus dem wirklichen Leben! Echte Wunder!

Blendende Wunder!… Sieh, ein brennender Busch! Sieh, ein Feuerrad! Ein Widder! Ein Fels! Soll ich ihn schlagen? Da! Er lässt Wasser sprudeIn! Wasser! Und ich habe das hervorgebracht! Ich erschaffe diesen Traum! Wirst du mn jetzt glauben?

Ich habe dich Vater, in meinem Traum gefangen, und du musst darin bleiben bis ganz zum Schluss …

Nun! Schau empor! In die Höhe! Was siehst du? Einen Regenbogen, den ich für dich erschaffen habe!

Mein Versprechen, mein Bund! Sieh ihn an, Vater: Glaube! Glaube! Betrachte meinen Regenbogen und sprich mir nach:

GEPRIESEN … UND GEHEILIGT … SEI DER GROSSE NAME DER MENSCHHEIT!

Die Farben meines Regenbogens blenden, Vater, und ich weiß, dass deine Augen schmerzen. Aber schließe sie jetzt nicht. Wende dich nicht ab.

Schau. Siehst du, wie einfach und friedlich alles wird, wenn du nur erst glaubst?

Glaube! Glaube!

Übersetzung: Anne Steeb und Bernd Müller

KADDISCH 3

Knabenchor: Gepriesen und geheiligt werde Sein großer Name, Amen.

Rembrandt van Rijn: Jakob ringt mit dem Engel (1659)

1. Informiere dich in Lexika oder im Internet über Kultur und Geschichte des Judentums.

2. Der Sprechertext des „Scherzo" steckt voller Anspielungen auf Textstellen des Alten Testaments. Lies 1. Mose 9, 1-17, 1. Mose 22, 1-19, 2. Mose 3, 1-22, 2. Mose 13, 17-22 und 4. Mose 20, 2-13, und überlege, in welcher Art und Weise Bernstein in seinem Text darauf Bezug nimmt.

Kreativwerkstatt I: Wortmetamorphosen

Das Wort „Metamorphose" stammt aus dem Griechischen und meint soviel wie „Umgestaltung" oder „Verwandlung". Der Begriff wird heute vor allem in der Zoologie zur Beschreibung des Gestaltwandels bestimmter Tierarten im Lauf ihrer Entwicklung benutzt, also z. B. der Larve zum Schmetterling oder der Kaulquappe zum Frosch. Der niederländische Grafiker und Künstler Mauritz C. Escher (1898-1972) hat dieses Prinzip zu einem zentralen Aspekt seiner Bilder und Grafiken gemacht. Der folgende Holzschnitt Eschers aus dem Jahr 1938 trägt den Titel Sky and Water.

1. Beschreibe Eschers Bild (rechts). Woran lässtsich hier das Metamorphose-Prinzip festmachen?

Metamorphosen lassen sich auch an Worten darstellen. Im folgenden Beispiel stellt sich die Frage: Wie kommt der HUND in den SACK (3 Zwischenschritte)?

2. Verwandle durch Austausch jeweils eines Buchstaben Schritt für Schritt das Wort „HUND" in das Wort „SACK". Achte darauf, dass bei allen drei Zwischenstufen immer sinnvolle Wörter entstehen. Hinweis: Flexionsformen von Wörtern sind erlaubt (Beispiele: Substantiv „Baum" → dem „Baume", den „Bäumen" etc. oder Verb „haben" → ich „habe", ihr „hättet" etc.). 3. Die folgenden Wortmetamorphosen sind etwas kniffliger. Findest du trotzdem zu Lösungen? Die Zahl in Klammern gibt jeweils die Anzahl der nötigen Zwischenschritte (ohne Anfangs- und Zielwort) an. Hinweis: Womöglich führen mehrere Wege zum Ziel. Mit der hier angegebenen Anzahl funktioniert es in jedem Fall.

a. Aus KALT mach HEIß! (4) b. Die LINIE wird zur KURVE. (5) C. Wie schafft es MOSE auf den BERG? (6)

4. Erfinde weitere eigene Wortmetamorphosen! Viel Spaß beim Experimentieren!

M. C. Eschers Sky and Water © 2012 The M. C. Escher Company-Holland. All rights reserved. www.mcescher.com

Kreativwerkstatt II: Musikmetamorphosen

Auch musikalisch lassen sich Metamorphosen erzeugen, indem z. B. aus einem Motiv, einer Melodie, einem Rhythmus oder einer Harmonie kleine Bausteine nach und nach verändert werden und so mit der Zeit ein neues musikalisches Gebilde entsteht. Ihr könnt dies mit der folgenden Anleitung selbst einmal ausprobieren.

Anleitung:

  • Schreibe jeweils alle Buchstaben der einzelnen Wortmetamorphosen vom Aufgabenblatt „Kreativwerkstatt I: Wortmetamorphosen" (a. HUND → SACK; b. KALT → HEIß; c. LINIE → KURVE; d. MOSE → BERG) heraus. Für die erste Wortmetamorphose (HUND → SACK) sähe das z. B. so aus:
  • HUND → HAND → SAND → SANK → SACK = HUNDASKC

    Am Ende sollten vier solcher Buchstabenbündel - jeweils eines für jede Wortmetamorphose - vorliegen.

    2. Ordne jetzt bei jedem Buchstabenbündel dem einzelnen Buchstaben nach freier Wahl einen der zwölf Töne der chromatischen Tonleiter zu. Für die erste Wortmetamorphose könnte das z. B. wie folgt aussehen:

    Buchstabe H =Ton c Buchstabe U = Ton e Buchstabe N =Ton gis Buchstabe D = Ton dis Buchstabe A = Ton f Buchstabe S = Ton a Buchstabe K = Ton d Buchstabe C = Ton b

    3. Erstelle für alle vier Wortmetamorphosen entsprechende Buchstabe-Ton-Tabellen und schreibe der Reihe nach alle den Buchstaben der jeweiligen Wortmetamorphose zugeordneten Töne in Noten auf. Analog zu den Buchstaben wird auch im Notenbild pro neuem Wort immer nur eine Note verändert. Für das obige Beispiel sähe dies wie folgt aus (die sich ändernden Töne sind rot markiert):

    H-U-N-D H-A-N-D S-A-N-D S-A-N-K S-A-C-K

    • 4. Sind für alle vier Wortmetamorphosen entsprechende Tonreihen notiert, kannst du sie mit dir zur Verfügung stehenden Instrumenten spielen und hören, wie die Tonreihen klingen. Gefallen dir bestimmte Stellen nicht, schaue, wo du vielleicht eine Buchstabe-Ton-Kombination ändern kannst.
    • 5. Bist du mit deinen Tonreihen zufrieden, kannst du damit komponierend, musizierend und / oder improvisierend experimentieren. Vielleicht kombinierst du auch unterschiedliche Reihen miteinander?

    Tipp:

    Je komplizierter und komplexer deine Experimente mit den Tonreihen werden, desto unübersichtlicher und schwerer gerät vermutlich das Musizieren. Wenn du bestimmte Dinge aus dem Stegreif nicht mehr musizieren kannst, skizziere sie grafisch oder in Noten bzw. in Stichpunkten.

    Musikalische Metamorphosen in der „Kaddisch"-Sinfonie

    Auch Leonard Bernstein hat in seiner Kaddisch-Sinfonie das Prinzip der musikalischen Metamorphose eingesetzt. Einen wichtigen musikalischen Grundbaustein der gesamten Sinfonie bildet eine Zwölftonreihe (d. h. alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter), die folgender Melodie zugrundeliegt:

    Auch der Beginn des dritten Satzes „Scherzo" ist von dieser Zwölftonreihe dominiert. Nachdem sie in unzähligen Varianten, Abspaltungen, Umkehrungen usw. erklungen ist, tritt bei Buchstabe R die Reihe wieder in Originalgestalt (hier vom Anfangston H ausgehend) im gesamten Orchester auf. Bei Buchstabe S beginnt nun die im Folgenden zu sehende Metamorphose der ersten sechs Töne der Reihe, nochmals transponiert und nun vom Ton B ausgehend. Anmerkung: Zur besseren Orientierung ist zu Beginn die Transposition der ersten sechs Töne der Reihe vom Ton B aus als Modell aufgeführt.

    1. Schau dir den melodischen Verlauf der Notenbeispiele an. Markiere jeweils die Töne, die die Metamorphose fortführen.

    • 2. Welche weiteren musikalischen Parameter werden einer Wandlung unterzogen?
    • 3. Höre dir das gesamte Scherzo bis zum Anfang des „Kaddisch 3" an, wo ein Knabenchor mit dem Kaddisch-Gebet einsetzt. Beschreibe die musikalischen Effekte, die mit der Metamorphose einhergehen. Hinweis: Die Metamorphosen-Passage beginnt im Anschluss an die Textzeile „Magnified …… and sanctified … be the great name of man!" („Gelobt … und geheiligt … sei der große Name der Menschheit!").
    • 4. Lies dir den gesamten Auszug des Sprechertextes, der im Scherzo vorgetragen wird, durch. Inwieweit hängen Textinhalt und musikalische Metamorphose an dieser Stelle zusammen? Welche Rolle spielt der Knabenchor im „Kaddisch 3"?

    Die ersten sechs Töne der ersten Zwölftonreihe (transponiert nach B)

    • 3. Satz, Scherzo, Buchstabe S Posaunen
    • 3. Satz, Scherzo, Buchstabe T Alt-Saxofon und Fagott
    • 3. Satz, Scherzo, 2 Takte nach Buchstabe U Englischhorn, Alt-Saxofon, Harfe; 1 Takt später 1. Flöte, 1. Oboe, Celesta
    • 3. Satz, Scherzo, Buchstabe V

    Englischhorn, Bratsche (Melodie)

    Violoncello, Kontrabass (Bassstimme)

    Die Zukunft der Musik: Die Poesie der Erde

    Leonard Bernstein hat im Zusammenhang mit der Kaddisch-Sinfonie einmal folgenden Satz geäußert: The crisis in faith through which we are living is not unlike the musical crisis.

    Leonard Bernstein: The Infinite Variety of Music, New York (1966) 2007, S. 13

    1. Informiere dich in Lexika oder im Internet über Tendenzen der Musikgeschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts und recherchiere wichtige politisch-historische Ereignisse, die die Welt vor und während der Entstehungszeit der Kaddisch-Sinfonie geprägt haben. Konzentriere dich dabei auf den Zeitraum zwischen dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 und der Uraufführung von Bernsteins Sinfonie im Jahr 1963. Worauf könnte Bernstein anspielen, wenn er im obigen Zitat von Glaubenskrise bzw. musikalischer Krise spricht?

    Im Jahr 1973 hielt Bernstein Vorlesungen an der amerikanischen Harvard University. Sein letzter Vortrag trug den Titel „The Poetry of Earth" und endete mit folgenden Worten:

    Ich glaube, daß, wie immer seriell oder stochastisch oder intellektualisiert Musik auch sein mag, sie immer als Dichtung gelten können wird, solange sie in der Erde wurzelt. Ich glaube auch […]: die Poesie der Erde endet nie, solange auf den Winter Frühling folgt und Menschen dessen gewahr werden. Ich glaube, daß dieser Erde eine musikalische Poesie entspringt, die durch die Natur ihrer Quellen tonal ist. Ich glaube, daß diese Quellen der Ursprung einer Phonologie [= Lautlehre] der Musik sind, die sich aus jener Allgemeingültigkeit, die wir Obertonreihe nennen, entfaltet. Und daß es eine ebenso allgemeingültige musikalische Syntax [= Satzlehre] gibt, die nach Gesichtspunkten der Symmetrie und der Wiederholung zusammengefügt und kodifiziert werden kann. Und daß durch metaphorische Verfahren besondere musikalische Sprachen ersonnen werden können, welche Oberflächenstrukturen besitzen, die sich von ihren Ursprüngen bemerkenswert entfernt haben, aber unerhört ausdrucksvoll sein können, solange sie ihre Wurzeln in der Erde behalten.

    Ich glaube, daß unsere tiefsten gefühlsmäßigen Widerhalle auf diese besonderen Sprachen uns angeboren sind, daß sie aber zusätzliche Widerhalle, die eingeübt oder erlernt wurden, nicht ausschließen.

    Und daß die einzelnen Sprachen einander befruchten und sich zu immer neuen Idiomen vereinigen, welche für Menschen wahrnehmbar sind.

    Und daß schließlich alle diese Idiome zu einer Sprache verschmelzen können, die allgemeingültig genug ist, um der gesamten Menschheit zugänglich zu sein.

    Leonard Bernstein: Musik - die offene Frage, übers, von Peter Weiser, München et al. 1979, S. 14.28

    2. Interpretiere dieses musikalische „Glaubensbekenntnis" Bernsteins unter folgenden Leitfragen:

    * Was ist für Bernstein die „Poesie der Erde"?

    * Was für ein Musikverständnis spricht aus diesen Worten?

    * Welche Antworten findet er damit auf die oben postulierten Krisen des 20. Jahrhunderts?

    3. Diskutiere, inwieweit du in Bernsteins Kaddisch-Sinfonie die Vision einer „Poesie der Erde" künstlerisch umgesetzt siehst. Wie könnte die Botschaft, die von Text und Musik der Sinfonie ausgeht, zu verstehen sein?

    Leonard Bernstein bei einer Orchesterprobe 1973

    By ALEXANDER NIEMEYER

    Titel:
    Das Ringen mit Gott um die Zukunft der Musik.
    Autor/in / Beteiligte Person: NIEMEYER, ALEXANDER
    Zeitschrift: Musik und Bildung, 2012-07-01, Heft 3, S. 22-29
    Veröffentlichung: 2012
    Medientyp: serialPeriodical
    ISSN: 0027-4747 (print)
    Schlagwort:
    • BERNSTEIN, Leonard, 1918-1990. Kaddish
    • BERNSTEIN, Leonard, 1918-1990
    • BELIEF & doubt
    • JUDAISM
    • RELIGION
    • MUSIC
    • KADDISH (Musical form)
    • KADDISH
    • Subjects: BERNSTEIN, Leonard, 1918-1990. Kaddish BERNSTEIN, Leonard, 1918-1990 BELIEF & doubt JUDAISM RELIGION MUSIC KADDISH (Musical form) KADDISH
    Sonstiges:
    • Nachgewiesen in: DACH Information
    • Sprachen: German
    • Alternate Title: Wrestling With God About the Future of Music.
    • Language: German
    • Document Type: Article
    • Full Text Word Count: 3822

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