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Markus Hechtle: Fenster zur See.

EGELER-WITTMANN, SILKE
In: Musik und Bildung, 2013-04-01, Heft 2, S. 66-71
Online review

Markus Hechtle: Fenster zur See 

PRAXIS: WORKSHOP

Markus Hechtles Orchesterstück „Fenster zur See” wurde im Rahmen des Vermittlungsprojekts „face to face” am 11.11.2011 von der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken / Kaiserslautern gemeinsam mit Schülerinnen aus Grünstadt und Montabaur uraufgeführt. Eine Thematisierung im Musikunterricht verbunden mit dem Musizieren eines repräsentativen Ausschnitts ermöglicht die praxisorientierte Auseinandersetzung mit einem zeitgenössischen Orchesterwerk.

* Markus Hechtles Orchesterstück Fenster zur See versetzt den Hörer in eine kontemplative Stimmung. Es vermittelt gleichermaßen große Ruhe und enorme Gespanntheit. Vieles von dem, was hier musikalisch geschieht, könnte man naturalistisch deuten: auskomponierte Wasserbewegung, Schiffssirenen, Regentropfen, die auf eine spiegelglatte Wasseroberfläche fallen. Das ist jedoch nur eine der Ebenen des Stücks. Letztlich geht es hier natürlich nicht um La Mer, sondern um die Metapher für das Nach-innen-Schauen. Das Stück soll etwas auslösen im Denken und Fühlen des Zuhörers. Dabei können im besten Fall Bilder entstehen, die sich in Bezug zum Titel und den wenigen beschreibenden Sätzen Markus Hechtles setzen lassen. Das folgende Bild war für Hechtle der Ausgangspunkt seiner Komposition und ist nicht erst im Nachhinein entstanden: „Spätnachmittag, das kleine Zimmer im Halbdunkeln. Still sitzend, der Blick dem Fenster zugewandt, dessen weit geöffnete Flügel, den Horizont begrenzen. Still sitzen und schauen, die See und das Fenster zur See. ”

HECHTLES KOMPOSITION

Die Orchesterbesetzung besteht im Wesentlichen aus zwei Gruppen: den Claves und dem Orchester. Im Vordergrund befinden sich die jeweils geteilten Streicher (Kontrabässe sind fünfsaitig) und die zehn Clavesstimmen, die in unserem Fall jeweils verdreifacht wurden und die hier im Halbkreis um die Streicher herum platziert sind. Die Clavesgruppen müssen im Halbkreis positioniert werden, weil sie Raumklangeffekte erzielen und den ganzen Streicherapparat umschließen sollen. Der Halbkreis verkörpert dabei nicht nur optisch die Idee der Welle, sondern ermöglicht auch die Wellenbewegung des Klangs. Im Hintergrund befinden sich auf der linken und rechten Seite jeweils eine Trompete und eine Oboe, so lassen sich Stereoeffekte erzielen. Darüber hinaus sollen die Bläser wie aus der Ferne klingen. Hinzu kommen, ebenfalls im Hintergrund, drei Schlagzeuger mit Röhrenglocken (c¹ und cis¹ | d¹ | es¹ und e¹) sowie Becken, eine Peitsche und ein Paar Claves. Die Besetzung ist also offensichtlich sehr stark reduziert. Hechtle bevorzugt grundsätzlich die Reduktion des Orchesterapparats mit dem Ziel einer stärkeren Fokussierung des Klangs, und im vorliegenden Stück bietet sich diese Vorgehensweise an, da hier das Thema Konzentration eine essenzielle Rolle spielt. Eine Reduzierung auf wenige Klangfarben ermöglicht nach Auffassung des Komponisten erst deren optimale Entfaltung. Die Schlagzeugstimme könnte theoretisch von einem Instrumentalisten bewältigt werden, wurde jedoch bewusst auf drei voneinander getrennt stehende Schlagzeuger verteilt, um wie in den anderen Instrumentengruppen einen Raumklangeffekt erzielen zu können. Darüber hinaus sollte die Begegnung von drei gleichzeitig verlaufenden unterschiedlichen Pulsen mit drei unterschiedlichen Klangquellen (und Tonhöhen) auch optisch verstärkt werden. Fenster zur See gliedert sich in vier Formteile, bestehend aus einer 25 Takte dauernden Introduktion und neun unterschiedlich langen, mit den Buchstaben A bis H gekennzeichneten Einzelabschnitten. Diese gliedern sich wiederum zur Erleichterung der Orientierung für die Interpreten, in mit römischen Zahlen gekennzeichnete Binnenabschnitte (diese sind unterschiedlich sowohl in der Anzahl als auch in ihrem Umfang).

Vereinfachte Notation für Schülerinnen

Im Gegensatz zur herkömmlichen Notation des Orchesterparts hat Hechtle für die Schülerinnen eine Notenschrift entworfen, die im Wesentlichen auf einer speziellen Reaktionsnotation basiert, d.h. sie müssen nicht im traditionellen Sinn Rhythmen lesen, sondern orientieren sich an den musikalischen Aktionen ihrer Mitspieler oder an den Zeichen des Dirigenten, auf die sie auf unterschiedliche Weise reagieren. Pragmatisch betrachtet bietet die gut erlernbare Reaktionsnotation musikalischen Laien die Möglichkeit, auf einfachem Wege eine sehr komplexe Rhythmik zu erzeugen. Viel wichtiger ist jedoch, dass eine solche Notations- bzw. Spielweise ein äußerst hohes Maß an Konzentration der Spieler aufeinander erfordert, die dann eine so hohe organische Dichte ergibt, welche man mit konventionell notierten Rhythmen nicht erzielen könnte. Ein positiver Nebeneffekt ist dabei, dass man sich nicht auf das Zählen, sondern in höchster Gespanntheit auf die Clavesspieler in den anderen Stimmen konzentrieren und warten muss, bis mit deren Spiel die Impulse für die eigenen Einsätze kommen. Dadurch entsteht ein aufgefächerter Rhythmus, dessen Frische und Lebendigkeit mit herkömmlicher Notation nicht zu erreichen wäre. Es ergeben sich Kettenbindungen, bei denen jeder auf den anderen angewiesen ist. Dahinter steckt wiederum die Idee einer Welle, die sich nur fortbewegen kann, wenn sie nicht unterbrochen wird (das lässt sich am Beispiel einer La-Ola-Welle im Stadion verdeutlichen: Wenn nicht alle Zuschauer spontan mitmachen, gibt es eine Unterbrechung und die Wirkung geht verloren).

DAS WERK IM UNTERRICHT

Den Einstieg in die Beschäftigung mit Markus Hechtles Orchesterwerk bildet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Titel „Fenster zur See”. Dabei ist es wichtig, auf die inhaltliche Bedeutung des Artikels zu verweisen (zur = zu der See, also zum Meer und nicht zum = zu dem See, also einem Binnengewässer). Die Schülerinnen erhalten die Aufgabe, sich Gedanken und Assoziationen zum Titel zu machen, dabei zwischen (inneren) Bildern und einer Umsetzung in Klang zu unterscheiden und diese aufzuschreiben (s. Aufgaben „Markus Hechtle: Fenster zur See”). Die Ergebnisse werden besprochen und in einem Tafelbild fixiert.

Interessanterweise wurden in fast allen Gruppen sehr viele klangliche Ideen, die sich bei Hechtle tatsächlich auch wiederfinden lassen, vorweggenommen. Auch die beschriebenen Bilder waren nicht nur konkreter Natur, sondern in vielen Fällen auch metaphorisch und auf innere Seelenzustände (Innenwelt und Außenwelt, Nähe und Ferne, Gefängnis und Freiheit) verweisend.

Vorübungen

Ausgehend davon, was von den Ausführenden verlangt wird, welche Fähigkeiten sie mitbringen oder welche für die Umsetzung der Partitur trainiert werden müssen, bieten sich entsprechend darauf abgestimmte Vorübungen an.

* 1. Kettenreaktion: schnelle Reaktion auf Mitspieler, hohe Aufmerksamkeit und Präsenz (ähnlich wie in Hechtles Reaktionsnotation) Die Spieler stehen im Kreis. Ein Teilnehmer beginnt mit einer knappen Geste (z. B. Kopf in den Nacken, Arme verschränken) in Kombination mit einem Laut (durchaus kontrapunktisch: z. B. Arme jubelnd nach oben strecken und dazu einen Jammerlaut von sich geben) oder einer Positionsänderung (z. B. auf einem Bein stehen, in die Knie gehen). Der neben ihm Stehende übernimmt so schnell er kann Bewegung und Klang des Vorgängers und erstarrt dann in dieser Position. Dies sollte sich so schnell wie möglich im ganzen Kreis fortsetzen. Die einzelnen Spieler dürfen ihre Position erst dann verändern, wenn sie per Kettenreaktion eine neue Information erreicht. Jeder Spieler sollte nacheinander einmal in der Rolle des Impulsgebers sein, bis alle an der Reihe waren. Hierbei kommt es auf Reaktions schnelle an. Die Gruppe sollte also darauf achten, die Informationen im höchstmöglichen Tempo und dennoch exakt weiterzugeben.

* 2. Rhythmuskreis: Präzision, Metrum halten, exakte Rhythmik, hohe Aufmerksamkeit und Präsenz, Improvisation

Zunächst werden verschiedene Elemente der Bodypercussion gemeinsam ausprobiert und als Klangmaterial zur Verfügung gestellt (schnipsen, stampfen, auf Brust klopfen, auf Oberschenkel oder in die Hände klatschen). Die Spielerinnen stehen im Kreis und intonieren einen gemeinsamen ruhigen Puls mit den Fingerspitzen auf den Oberschenkeln, sodass dieser nur sehr dezent wahrnehmbar ist. Nun beginnt ein Spieler mit einem einfachen freien Rhythmus über diesem Puls, wobei er alle zuvor präsentierten Elemente verwenden kann. Es kann eine sehr einfache rhythmische Figur sein, die beständig wiederholt wird. Sobald diese rhythmische Figur etabliert ist, setzt der nächste Spieler ein und spielt seine Rhythmusfigur dazu. Dies geschieht reihum und so lange, bis alle gleichzeitig ihre Rhythmen über dem gemeinsamen Puls spielen, der erhalten bleibt, da sich erfahrungsgemäß alle auf dem gemeinsamen Beat eingrooven.

* 3. Klatschkreis (Claves-Kreis): gemeinsames Pulsieren, exakte rhythmische Impulse, hohe Aufmerksamkeit und Präsenz

Dies ist eine schlichte, aber sehr wirkungsvolle Übung, bei der versucht wird, einen ruhigen Puls so gleichmäßig wie möglich im Kreis wandern zu lassen. Der Dirigent kann den Puls zu Beginn mitklatschen oder stumm dirigieren. Ziel sollte es sein, den Puls gemeinsam zu spüren und ihn nicht stocken, unregelmäßig werden oder gar abreißen zu lassen. Eine Steigerung des Schwierigkeitsgrades stellt ein gemeinsames Accelerando und Ritardandodar.

Übertragung auf „Fenster zur See”

Auf die vorbereitenden Übungen folgt der Versuch, mit einigen Vereinfachungen einen kurzen Ausschnitt aus dem Stück gemeinsam zu musizieren. Ausgewählt wurde hierfür Buchstabe E, I-V (Takt 112-123), in der Partitur Seite 16-18 (s. „Markus Hechtle: Fenster zur See -- Klavierauszug”). Wir haben es hier zu tun mit einer Kombination von

a) Klangflächen im Orchester, lange gehaltene Töne, gemeinsamer Akkord-Wechsel, insgesamt sehr leise (ppp), immer wieder anschwellend und plötzlich abbrechend und

b) der Reaktionsnotation in den Claves-Stimmen, sehr knappe, punktuelle Einwürfe von differenzierter Textur, räumlich komponierter Klang (z. B. von außen nach innen).

c) Das Extra-Schlagzeug pausiert während dieser Passage.

Anhand des hier vorliegenden repräsentativen Partitur-Ausschnitts werden die wichtigen Kernphänomene des Stücks mit den Schülerinnen besprochen. Im Mittelpunkt wird dabei zunächst die auffallende unbekannte Notationsweise stehen. Diese gilt es zunächst zu erläutern, von herkömmlicher Notation zu unterscheiden und (klatschend) auszuprobieren (s. „Erläuterungen zur Notation”). Die Reaktionsnotation sollte Schritt für Schritt gemeinsam in folgender Reihenfolge geübt werden:

  • langsame Reaktion,
  • schnelle Reaktion,
  • Dynamik hinzufügen,
  • Reaktion auf einen Impuls aus der Gruppe,
  • Kettenreaktion,
  • Halbkreis-Kettenreaktion.
  • Wenn man die Claves bereits hier einsetzen möchte, sollte man sich ausreichend Zeit dafür nehmen, sich mit deren Spieltechnik vertraut zu machen.

    Zunächst wird eine Kombination von zwei verschiedenen Klangqualitäten erst separat und dann gemeinsam versucht, um den Klangeindruck des Orchesterwerks anzudeuten. Ein Teil der Gruppe spielt eine Klangfläche instrumental oder vokal oder in Kombination. Der Akkord oder Cluster soll auf ein Zeichen wechseln. Der andere Teil der Gruppe spielt Claves oder klatscht kurze Einwürfe, die auf Zeichen von zwei Dirigenten gleichzeitig erfolgen sollen. Dabei sollen auf die Zeichen des einen Dirigenten schnelle und auf die des anderen Dirigenten verlangsamte Reaktionen erfolgen.

    Die bereits zu Beginn erläuterte Reaktionsnotation sollte vor dem Musizieren des Partitur-Ausschnitts noch einmal kurz wiederholt werden. Die Orchesterstimmen können im Idealfall von Streichern übernommen werden. Da man jedoch selten alle Streichergruppen in einer Klasse vertreten hat, können die einzelnen Stimmen auch mit der vorhandenen instrumentalen Besetzung (auch Bläser) oder mit Keyboard und Klavier gespielt werden. Orff-Instrumentarium eignet sich hier nicht, da man möglichst gleichmäßig lang gehaltene Töne spielen muss.

    Im Anschluss sollte man unbedingt noch einmal auf die Ausgangsfrage nach dem Titel des Stücks eingehen und anhand der inzwischen gemachten musikalischen Erfahrungen besprechen, inwieweit sich die anfänglichen Assoziationen über den Titel mit dem decken, was die Workshop-Teilnehmerinnen nun kennen gelernt haben.

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    Arbeitsblätter

    * Markus Hechtle: Fenster zur See -- S. 69

    * Erläuterungen zur Notation -- S. 69

    * Markus Hechtle: Fenster zur See -- Klavierauszug S. 16-18 -- S. 70-72

    Hörbeispiele -- CD

    * HB 25: Markus Hechtle: Fenster zur See -- Ausschnitt

    schott-musikpädagogik.de

    * Beitrag als PDF-Datei

    Markus Hechtle: Fenster zur See

    1. Welche Bilder entstehen in deiner Vorstellung bei dem Titel „Fenster zur See”? Notiere sie stichpunktartig oder verfasse kleine Skizzen.

    2. Wie könntest du dir eine Umsetzung in Musik vorstellen? Welche Instrumente würden sich besonders gut eignen?

    Erläuterungen zur Notation

    2. Reaktionsnotation

    Nachschläge können auch auf Zeitpunkte reagieren, die sich nicht auf das Metrum beziehen. Die Spieler reagieren dann auf den Impulseines Mitspielers. Auch hier wird in schnelle und langsame Nachschläge unterschieden.

    Nachschlag mit schneller Reaktionszeit …

    Nachschlag mit langsamer Reaktionszeit …

    Der Spieler, auf dessen Impuls reagiert werden soll, wird wie folgt angezeigt:

    z. B. … Der Spieler reagiert mit langsamer Reaktionszeit auf einen Impuls von Claves 3.

    Markus Hechtle: Fenster zur See Klavierauszug S. 16-18

    By SILKE EGELER-WITTMANN

    Titel:
    Markus Hechtle: Fenster zur See.
    Autor/in / Beteiligte Person: EGELER-WITTMANN, SILKE
    Zeitschrift: Musik und Bildung, 2013-04-01, Heft 2, S. 66-71
    Veröffentlichung: 2013
    Medientyp: review
    ISSN: 0027-4747 (print)
    Schlagwort:
    • MUSIC education
    • HECHTLE, Markus
    • Subjects: MUSIC education HECHTLE, Markus
    Sonstiges:
    • Nachgewiesen in: DACH Information
    • Sprachen: German
    • Language: German
    • Document Type: Entertainment Review
    • Full Text Word Count: 1864

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